
I
Kíra Helgudóttir nippte an ihrem noch viel zu heißen Kaffee und zuckte zusammen, als sie sich daran verbrannte. Ihr Gesicht spiegelte sich in der Plexiglasscheibe vor ihr, die sie sonst von ihrer Kollegin am gemeinsamen Bürotisch trennte. Heiðar schien heute nicht da zu sein, aber das kam in letzter Zeit sowieso häufiger vor. Und als Abteilungsleitung konnte sie es sich offenbar auch leisten, jedenfalls sprach sie niemand darauf an. Nicht einmal Kíra; weil sie manchmal noch die Befürchtung hatte, Heiðar mit ihren Fragen zu vergraulen. Sie wusste zwar, dass dieser Gedanke der irrationalen Sorte zuzuordnen war, trotzdem ging sie ihm nach. Geschickt platziertes Schweigen kam ihr maßgeblich sicherer vor.
Zwischen den beiden lagen etwas über zwanzig Jahre Altersunterschied, trotzdem war Heiðar mittlerweile so etwas wie Kíras beste Freundin, vielleicht, weil sie vorher nie eine hatte. Wenn Heiðar die durchsichtige Trennwand zwischen ihnen als Spiegel benutzte und an den Fältchen herumzog, die ihre kleinen blauen Augen umspielten, schnitt Kíra auf der anderen Seite Grimassen. Heiðar hauchte dann gegen das Plexiglas und malte mit dem Mittelfinger ein Herz auf die beschlagene Scheibe.
Kíra arbeitete seit sieben Monaten bei dem Startup-Unternehmen Fjallaloft, gegründet von ein paar ihrer Kommilitonen an der Universität Reykjavík. Es lief erstaunlich gut, die Verkaufszahlen versprachen Stabilität, und in nicht allzu ferner Zukunft würde sie genug Geld gespart haben, um sich auf Dauer ein eigenes Apartment leisten zu können. Die Welt besaß allem Anschein nach noch nicht genug Siris, Alexas und Cortanas in ihren Wohnungen, die das Licht in einen unglaublich gemütlichen Farbton dimmten, den Verkehr für später ansagten und selbstständig Spülmaschinentabs nachbestellten. Der Smart Speaker von Fjallaloft, aktuell die intelligente persönliche Assistenz aus Island, hieß Joyce. Geschlechtsneutral und gestaltlos; ein kleiner Gott in einer Box.
Und ein Spion.
Dafür war Kíra zuständig.
Joyce hatte in der betriebssystematischen Voreinstellung eine weibliche Stimme, da internationale Studien ergaben, dass diese im Gegensatz zu den männlichen als angenehmer und klarer erkennbar wahrgenommen wurden. Aber ebendies hatte zur Folge, dass Kíra sich vehement über zwei Dinge ärgerte: Erstens trug sie ihrer Meinung nach selbst indirekt dazu dabei, das etablierte »Frauen haben unsere lästigen Angelegenheiten zu regeln, deshalb sind die Sprachassistenzen alle weiblich«-Phänomen aufrechtzuerhalten, allein schon durch ihre Beschäftigung bei Fjallaloft. Und zweitens musste sie sich etliche sexistische Floskeln anhören – die an eine verdammte Box gerichtet wurden, wohlgemerkt.
Kíra verdrehte die Augen bei dem Gedanken daran und überlegte, wie genial es doch wäre, wenn Joyce diesen schwanzgesteuerten Mist auch als solchen durchschauen und prompt mit männlicher Stimme antworten würde. Aber das führte voraussichtlich bloß zu einem Shitstorm, auf den Fjallaloft in seiner Anfangsphase auf dem Markt gut verzichten konnte.
Wir analysieren private Haushalte, dachte Kíra, das ist im Grunde noch der eheste Anlass, um uns an den Pranger zu stellen. Als sie bei Fjallaloft anfing, wusste sie nicht, worauf sie sich einließ, doch als man es ihr erklärte, hatte sie nichts dagegen, wie sie sich kurze Zeit später eingestehen musste. Vielleicht lag es an der Gehaltsklasse, aber sicher trug auch der Ausblick von ihrem Schreibtisch aus einen Teil dazu bei. Wenn Heiðar ihr nicht im Spaß die traumhafte Sicht versperrte, lag vor ihr die Esja, ein Gebirgszug in zehn Kilometern Entfernung.
Heiðar nahm sie von Anfang an unter ihre Fittiche. Sie war freundlich und ungemein witzig, konnte aber auch rücksichtslos sein, vor allem dann, wenn das Kollegium es am wenigsten erwartete. Sie wusste genau, wie sie ihre Abteilung am Laufen hielt und sich nicht von dem unangenehmen Beigeschmack ihrer Arbeit kaputtmachen ließ. Kíra tat sich manchmal noch etwas schwer damit. Und ausgerechnet heute wünschte sie sich, Heiðar wäre anwesend. Denn was sie da gerade hörte, waren keine Informationen, nach denen sie Ausschau hielt. Keine Informationen, mit denen Werbung perfekt auf die Menschen zugeschnitten wurde, keine Informationen, die zukünftig Wahlkämpfe beeinflussen würden. Nicht einmal misogyne Anmachsprüche.
Erst war sie sich nicht ganz sicher. Oder sie wollte sich nicht sicher sein. Doch je öfter sie die Aufnahme über ihr Headset abspielte, desto weniger zweifelte sie an ihrer Vermutung. Kíra starrte wie hypnotisiert auf ihren Bildschirm. Atmete tief ein und aus. Schaute auf. Es war niemand im Büro, den sie um Rat hätte fragen können. Wo waren die anderen auf einmal hin? Was sollte sie jetzt tun? Die Polizei anrufen? Abwarten?
Sie wiederholte den eindeutigsten Abschnitt so lange, bis ihr Tränen der Not in die Augen stiegen. Kíra wurde soeben anonyme Zeugin eines Mordes.
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