Windstille
Der Sturm vom Vortag hatte sich gelegt. Es war merkwürdig still, als May am Morgen von der Bushaltestelle zur Schule lief. Der Himmel war wie eine weiße Decke, die sich über der leisen Welt spannte.
May war etwas zu früh. Nervös kaute sie auf ihrem Fingernagel. Lange blieb sie vor ihrem geöffneten Spint stehen, während sich nach und nach der Gang mit anderen Schülerinnen und Schülern füllte.
Auf einmal legte sich sanft eine warme Hand zwischen ihre Schulternblätter. May zuckte zusammen und drehte sich hastig um.
Vor ihr stand Chris, der sie schief lächelnd anschaute. Sein lockiges Haar fiel ihm in sein Gesicht und seine braunen Augen strahlten sie an.
"Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe, Prinzessin."
"Prinzessin?", May unterdrückte ein Grinsen und strich Chris das Haar aus der Stirn.
"Ich habe dich gestern ziemlich ritterlich vor dem Unwetter gerettet. Prinzessin trifft es also gut, finde ich", Chris grinste breit und strich ihr sanft über ihre Wange.
"Du hast mich inmitten eines Sturms in einem Wald geküsst. Es ist ein Wunder, dass wir dabei nicht verletzt wurden. Das klingt für mich nicht sehr ritterlich", May legte ihre Hand auf Chris' Brust und schaute ihn verschmitzt an.
"Statistisch gesehen war die Wahrscheinlichkeit dass an der Stelle gleich wieder ein Ast abbricht ziemlich gering. Aber das nächste Mal werde ich darauf achten, dich an sicheren Orten zu küssen", Chris legte seine Hand auf die ihre.
"Das nächste Mal, hm?", May machte einen Schritt auf ihn zu.
Chris lachte leise, nahm ihr Gesicht in seine Hände und hielt dann inne.
"Sag mal, täuschen mich meine Augen oder trägst du ein grünes Top unter deinem Pulli?"
May blinzelte.
"Was?"
Chris löste eine Hand von ihrer Wange und strich sanft über den Träger ihres Tops, der unter ihrem Pulli zu sehen war. Als seine Finger ihre Haut berührten, bekam May eine Gänsehaut.
"Es ist nur ein Top", May presste ihre Lippen zusammen, um ein Lächeln zu unterdrücken.
"Es ist ein grünes Top, May. Ich mag es."
Bevor May etwas erwidern konnte, beugte sich Chris zu ihr und küsste sie. Tausend Schmetterlinge flatterten in Mays Bauch umher.
"May?!", eine tiefe Männerstimme ließ Chris unvermittelt zurückweichen.
"Mr. Summers! Wie unerwartet, Sie hier zu sehen", Chris fuhr sich durch das Haar.
Mit zusammengekniffenen Augen trat Mr. Summers auf Chris zu, bis nicht mal mehr ein Blatt Papier zwischen beide gepasst hätte.
"Ich habe dir gesagt, lass die Finger von meiner Tochter!", Mr. Summers Stimme war kaum zu hören, aber der drohende Unterton hallte laut in Chris' Ohren.
"Dad! Hör sofort auf damit! Alle gucken schon. Du bist super peinlich!", May versuchte sich zwischen die beiden zu drängen. Aber ohne Erfolg. Ihr Vater ignorierte sie, während Chris seine Schultern straffte.
"Mr. Summers. Sie haben meinen vollen Respekt. Sie haben eine wundervolle Tochter großgezogen und ich schätze Ihren Beschützerinstinkt. Wäre May meine Tochter, würde ich dasselbe tun", er atmete tief durch. "Aber ich werde nicht die Hände von ihrer Tochter lassen, außer sie wünscht es."
Bevor Mr. Summers etwas erwidern konnte, schaffte es May, ihn von Chris wegzuziehen.
"Peinlich Dad. So peinlich", sie strich sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. "Was machst du überhaupt hier?"
"Wir haben einen Termin bei deiner Studienberaterin. Schon vergessen?", er verschränkte seine Arme vor der muskulösen Brust.
"Aber Dad, doch nicht jetzt. Erst in der vierten Stunde", May trat von einem Fuß auf den anderen.
"Wieso hast du mir das nicht heute Morgen gesagt?"
May verdrehte die Augen.
"Du hast noch geschlafen und ich dachte, die Uhrzeit wäre klar. Wir haben doch gestern Abend darüber gesprochen."
Mr. Summers starrte seine Tochter einen Moment an. Dann strich er ihr liebevoll über den Kopf.
"Dann komme ich später wieder. Tut mir leid, Prinzessin."
Chris' Augen weiteten sich, während May leise lachte.
Mr. Summers betrachtete einen Moment stirnrunzelnd seine Tochter. Dann drehte er sich ruckartig zu Chris um.
"Du!", mit dem Zeigefinger drückte er gegen Chris' Brust. "Wenn du irgendeinen Mist baust, meine Tochter zu Drogen oder Alkohol verführst, ihr Notenschnitt schlechter wird, sie schwängerst oder ihr das Herz brichst, dann zerlege ich dich in sämtliche Kleinteile. Haben wir uns verstanden?"
Chris nickte. Er wirkte etwas blass um die Nase.
Einen Augenblick blieb Mr. Summers' Blick finster, bevor er sich aufhellte.
"Ich mag Menschen, die für ihre Überzeugung eintreten. Du kannst mich Mark nennen, solange du meiner Tochter ein Lächeln ins Gesicht zauberst."
Er streckte Chris seine Hand hin, in die dieser zögerlich einschlug.
"Cool. Mr. Summers, ich meine Mark, Sie können sich voll und ganz auf mich verlassen."
"Das hoffe ich für dich!", Mr. Summers ließ seine Handknöchel knacksen.
"Bis später, Prinzessin", er gab May einen Kuss auf die Wange und ging davon.
Chris ließ sich gegen die Spints fallen.
"Dein Vater ist echt krass."
"Er ist sehr ritterlich zu seiner Prinzessin, nicht wahr?", May grinste.
"Allerdings. Verdammt. Ich brauche einen neuen Kosenamen für dich", Chris griff nach ihrem Handgelenk und zog sie zu sich.
"Aber immerhin habe ich jetzt seinen Segen."
"Zumindest solange du mich glücklich machst", May lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
"Nichts anderes habe ich für den Rest meines Lebens vor", flüsterte Chris in ihr Ohr.
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