Schäfchenwolken
Als May den Klassenraum betrat, wanderten ihre Augen direkt zu dem Platz, an dem Chris saß. Er trug ein blaues T-Shirt und eine dunkelbraune Hose. Sein braunes, lockiges Haar fiel ihm locker über die Stirn. Um ihn herum standen drei Jungs und zwei Mädchen, die mit ihm gemeinsam über irgendetwas lachten.
Plötzlich schaute Chris in ihre Richtung.
Wie konnte es sein, dass sie auf einmal ein Kribbeln in ihrem Bauch verspürte, wenn Chris sie ansah? Die Schwärmerei für ihn hatte sie vor Jahren hinter sich gelassen. Sie wollte nicht permanent sein Lachen hören und seine gute Laune sehen.
Chris zwinkerte ihr zu, was May für einen Wimpernschlag zum Lächeln brachte. Überrascht zogen beide gleichzeitig ihre Augenbrauen nach oben.
Schnell senkte May den Blick und setzte sich wortlos an ihren Tisch. Ihr Herz hämmerte wild gegen ihre Brust. Was war da eben passiert? Schlimm genug, dass sie sich gestern bis auf die Unterwäsche vor Chris gezeigt hatte. Als sie abends in ihrem Bett gelegen hatte, brannte es in ihr vor Scham. Was, wenn er heimlich Bilder von ihr gemacht hatte? Aber eine Stimme in ihr sagte, dass Chris Parker das niemals tun würde. Er war respektvoll und freundlich.
Trotzdem.
Was war nur in sie gefahren? Und wieso hatte es ihr auf eine unerklärliche, unmögliche Weise gefallen, so von ihm gesehen zu werden?
May strich sich hektisch eine Strähne hinter ihr Ohr und knabberte dann auf ihrem Fingernagel herum.
Was hatte dieses Zwinkern von Chris zu bedeuten? Und warum, warum zum Teufel hatte ihr Gesicht mit einem Lächeln darauf reagiert?
May nahm nur am Rande wahr, wie der Geschichtslehrer Mr. Clay den Raum betrat. Wie auf Autopilot holte sie ihr Mäppchen, Heft und Buch hervor, während ihre Gedanken um den gestrigen Nachmittag kreisten.
Plötzlich landete ein Zettelchen auf ihrem Tisch. May sah verwundert auf. Aber alle schauten nach vorne zu Mr. Clay. Vorsichtig nahm May das Papier und faltete es leise auseinander.
Lernen wir heute wieder zusammen?
May starrte den Zettel an. Die Handschrift war auf den ersten Blick ordentlich. Bei genauerem Hinsehen konnte sie aber erkennen, dass die einzelnen Buchstaben krumm und schief geschrieben waren. Merkwürdig. In der Gesamtheit ergab dieses Chaos trotzdem ein einheitliches und sauberes Bild.
Lass uns das nachher reden. Wir haben jetzt Unterricht.
May ließ den Zettel neben Chris' Stuhl fallen. Nach einer Weile, als sie schon dachte, er hätte es nicht bemerkt, beugte sich Chris kurz nach unten und hob den Zettel auf. May kaute auf ihrem Bleistift, während sie Chris' Rücken beobachtete. Als Mr. Clay etwas an die Tafel schrieb, lehnte sich Chris zurück und legte einen neuen Zettel auf ihren Tisch.
Wirklich? Dabei dachte ich, du starrst die ganze Zeit auf meinen Rücken statt auf die Tafel ;) Also was ist mit heute?
May errötete und kritzelte schnell eine Antwort auf die Rückseite.
Tue ich gar nicht. Wieso sollte ich das tun? Wir reden nachher!
Wie zuvor beförderte sie den Zettel zu Chris. Dieses Mal hob er ihn sofort auf.
Kurz darauf lag erneut ein abgerissen Stück Papier bei ihr.
Ich kenne einen schönen Ort für die Mittagspause. Da können wir reden.
Ein schöner Ort für eine gemeinsame Mittagspause? Was sollte das werden? May presste ihre Lippen aufeinander. Das war kein Date. Oder war es das doch?
"Wenn Sie fertig mit Ihrer privaten Kommunikation sind, Mr. Parker und Miss. Summer, wäre es schön, Sie würden von jetzt an meinem Unterricht ihre volle Aufmerksamkeit schenken."
May zuckte zusammen und steckte den Zettel in ihr Mäppchen. Entschuldigend blickte sie Mr. Clay an und verbannte Chris Parker für den Rest der Stunde aus ihren Gedanken.
*
"Ich kann es nicht fassen, dass ich hier noch nie war", May drehte sich im Kreis und sah sich um. Sie stand auf einer Blumenwiese, durch die sich leise plätschernd ein Bächlein zog.
Chris neben ihr lachte und ließ sich auf das weiche Gras fallen.
"Wie hast du diesen Ort gefunden?", May setzte sich neben ihm und holte das Essen aus ihrem Rucksack, das sie sich am Morgen gerichtet hatte.
"Ich habe gerne meine Ruhe und Glück, auf Orte zu stoßen, wo ich sie habe", Chris lächelte sie an und griff in die Tüte, die er sich beim Bäcker gekauft hatte.
"Du magst Ruhe? Im Ernst?", May hatte drei Blechdosen vor sich gestellt und griff nach einer Tomate.
"Ja, warum zweifelst du daran?", Chriss biss herzhaft in sein Käsebrötchen.
"Du bist andauernd mit Leuten zusammen."
"Hier in der Schule, ja. Aber das bedeutet nicht, dass ich generell nicht gerne alleine bin."
"Okaaay", May warf Chris einen raschen Seitenblick zu, bevor sie die weißen Schäfchenwolken beobachtete, die langsam und gemächlich am azurblauen Himmel entlangzogen.
"Wie geht es dir eigentlich?", Mays Blick glitt zu Chris, der sie mit zusammengekniffenen Augen ansah.
"Das fragst du nur wegen meiner Antwort gestern."
"Und wenn nicht? Was, wenn ich mich wirklich dafür interessiere?",
Chris braunen Augen sahen May an, als wollten sie herausfinden, wie ernst es ihr wirklich war.
Schließlich zuckte er mit den Schultern.
"Heute ist kein guter Tag für eine Antwort."
"Ich werde nicht schlau aus dir", May biss von ihrem Humusbrot ab und betrachtete Chris nachdenklich.
"Kann ich nur zurückgeben."
Chris grinste sie an.
"Was soll das denn heißen?", May zog eine Augenbraue nach oben.
"Du wirkst so unnahbar, traurig und abweisend. Aber früher warst du ganz anders und wenn ich mit dir rede, ist es beinahe wieder wie früher. Und heute hast du sogar gelächelt. Man, ich habe eine Ewigkeit dein Lächeln nicht mehr gesehen", Chris nahm einen großen Bissen von seinem Brötchen.
"Das wird nicht wieder vorkommen", May sah ihn finster an.
"Das will ich nicht hoffen. Es steht dir nämlich."
Einen Moment verschlug es May die Sprache.
"Gestern war nicht der letzte schöne Tag im Jahr", brachte sie schließlich anklagend hervor.
Chris schaute überrascht zu ihr.
"Aber ist es nicht gut, dass wir so getan haben, als wäre er es?"
May sah ihn nachdenklich an.
"Vielleicht."
Chris grinste breit. Dann fügte er ernst hinzu: "Was auch immer dich bedrückt, May. Es sollte kein Grund sein, dass du das Leben nicht in vollen Zügen lebst und genießt."
May starrte ihn einen Moment an.
"Was auch immer dich bedrückt, Chris.
Es sollte kein Grund sein, dass du dich hinter einer lächelnden Maske versteckst"
Etwas in Chris' Gesicht zuckte.
Dann grinste er erneut
"Touché", sagte er schließlich und verschlang mit einem Biss das restliche Brötchen.
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