9 - Lenzmond
Vestervig, Nordjütland
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Als sie in die Versammlungshalle traten, drehten sich die Köpfe in ihre Richtung und die Musik, die zuvor gespielt hatte, brach ab. Ein Raunen ging durch die Menge, als man realisierte, dass Rurik Jarson - der schnellste Mann Nordjütlands - von den Toten auferstanden war. Ragnar Sigurdson sass auf seinem Thron und starrte mit funkelnden Augen zu seinem Krieger.
Inga erblickte ihren geliebten, totgeglaubten Rurik und stürzte sich augenblicklich auf ihn, Tränen der Freude in den Augen. Sie hatte ihn besuchen wollen, nachdem sie von den schrecklichen Neuigkeiten erfahren hatte. Die blöde Schwester von Rurik hatte sie aber nicht zu ihm gelassen, weil sie gedacht hatte, sie - die Liebe seines Lebens - würde ihm nicht guttun. Inga hatte vor Ruriks Haus getobt und gezetert, aber auch Hjalmar hatte darauf bestanden, dass es besser für Rurik sei, wenn er im Kreise seiner Familie sterbe. Als gehöre sie nicht dazu! So eine Frechheit von diesem einfachen Bauernvolk.
Inga hatte sich schon fast damit abgefunden, dass sie das Kind, welches sie im Bauch trug, alleine auf die Welt bringen müsse. Aber allem Anschein nach hatten ihre Opfergaben den Göttern genügt! Ihr Zukünftiger und der stolze Vater ihres ungeborenen Kindes hatte überlebt! Sie rannte zu ihm und schubste dabei ein kleines Kind um, das ihr im Weg stand.
Bevor sie Rurik jedoch mit einer gewaltigen Umarmung nach Asgard befördert hätte, stoppte sie Hjalmar mit seinen kräftigen Armen.
„Er ist noch schwer verletzt, Inga. Halte dich bitte zurück", sagte er ernst.
Inga warf ihm einen giftigen Blick zu, aber liess sodann von ihrem Vorhaben ab, als sie den Schweiss auf Ruriks Stirn und sein schmerzverzerrtes Gesicht sah. Er stand krumm im Raum, kreidebleich, sein Arm über den Schultern seines Freundes gehängt. Rurik keuchte schwer. Er litt, das sah man ihm und seinem blassen Gesicht deutlich an. Inga erschrak beim Anblick des miserablen Zustands ihres zukünftigen Mannes.
„Jetzt sieh mal einer an! Rurik Jarson hat sich entschieden, doch noch eine Weile in Midgard zu bleiben. Wie gebührt uns denn diese Ehre?", dröhnte Ragnar von seinem Thron aus und erhob sich.
Der Jarl trug festliche Kleidung, genauso wie alle anderen Anwesenden in der Halle. Eine dunkelgraue Tunika mit leichtem V-Ausschnitt und weiss gestickten Verschnörkelungen schmückte seinen Körper. Ein grosser bronzener Thorshammer hing ihm um den Hals und silberne Perlen glänzten in seinem Bart.
Es war der dritte Festtag der Vermählung von Rollo und Torvi und die Gäste waren in guter Stimmung. Manche Gesichter blickten amüsiert zu den Neuankömmlingen, andere tuschelten einander Tratsch in die Ohren. Es war heiss in der Halle, was wenig Gutes zu Ruriks Gesundheitszustand beitrug. Schwindel plagte seinen Kopf und er schwankte, trotz der Stütze von Lokis mageren Schultern.
„Du... hast nach mir verlangt?", keuchte er.
„Ja, das habe ich. Lass uns aber dafür in meine Kammer gehen. Wir wollen die Hochzeitsgesellschaft ja nicht in ihren glücksverheissenden Feierlichkeiten stören", sagte Ragnar und schritt zur Tür, die in seine private Kammer führte.
Er blickte nicht über die Schultern, denn er erwartete, dass sein Hauptmann ihm folgen würde. Rurik löste sich von Lokis Körper und schleppte sich in Ragnars Richtung. Sein Schwager und sein Freund blieben zurück, denn sie wussten, dass ihm eine Privataudienz mit dem Häuptling blühte. Ein Gespräch, an welchem sie nicht teilnehmen durften und sicherlich auch nicht wollten.
Derweilen nahm die Hochzeitsgesellschaft das Feiern wieder auf. Inga setzte sich zu ihrer Freundin Torvi, die strahlend am Ende des langen Tisches sass. Ingas Augen klebten auf Rurik, während das Glücksgefühl in ihrem Magen nicht abklingen wollte. Ihre Hand wanderte automatisch zu ihrem Unterleib.
„Er lebt, siehst du das, Torvi?", flüsterte sie der Braut zu. „Bald kannst du auf meiner Hochzeit tanzen!"
Torvi nickte aufgeregt.
...
Der oberste Diener Ragnars stiess die Tür zur Privatkammer auf und Ragnar trat hinein, gefolgt von Rurik, der seinen Arm an den schmerzenden Rumpf presste. Als die Tür ins Schloss fiel, begann die Musik für das Hochzeitspaar in der Halle wieder fidel zu spielen.
Ragnars Gemach war mit mächtigen Hirschgeweihen, Bärenfellen und Schnitzereien an den Wänden geschmückt. Kleine Öllampen hingen an Ketten von den Decken und tauchten den Raum in ein angenehmes Licht. Das Bett von Ragnar war gross, aus massivem Kiefernholz und mit Wolfsfellen und Kissen drapiert. Im Holz des Rahmens wanden sich Linien, die am oberen Ende in zwei drachenkopfförmige Pfähle übergingen. Der Zimmermann hatte mit diesem Bett ganze Arbeit geleistet. Es war ein meisterhaftes Möbelstück.
In Vestervig munkelte man über die Grösse von Ragnars Bett, denn den Geschichten zufolge passten mindestens sieben Frauen mit dem Jarl da hinein. So wie Rurik das einschätzen konnte, war das aber bloss Geschwätz. In dieses Bett passten höchsten vier sich wälzende Leibe.
Der Jarl setzte sich auf einen Stuhl, der seitlich neben dem Bett stand und zeigte mit seiner Hand auf den zweiten. Rurik solle doch so nett sein und sich setzen.
„Mein Jarl?", murmelte Rurik als er sich langsam auf den Stuhl niederliess und seine Ellbogen auf den Lehnen abstützte, um seine Rumpfmuskulatur möglichst zu entlasten.
„Mein Hauptmann?", antwortete Ragnar bloss und blickte erwartungsvoll in die Augen seines Gegenübers.
„Du hast nach mir geschickt?", fragte Rurik sodann.
Ragnar stiess den Atem durch seine Nase aus und verdrehte seine blaugrünen Augen. Er wusste, dass seinem Hauptmann schon klar sein musste, dass er eigentlich nur dann Personen in sein Gemach brachte, wenn er entweder mit ihnen schlafen wollte, oder, wenn er sie ins Kreuzverhör nahm. Hier handelte es sich eindeutig um ein Verhör und diese endeten bei Ragnar meistens nicht friedlich.
„Ja, ich habe nach dir geschickt. Du musst entschuldigen, dass ich dich nicht in deinem Krankenzimmer besuchen konnte, aber die Hochzeit von Rollo und Torvi stiehlt mir die Zeit. Mir war allerdings klar, dass du schon genug Kraft haben müsstest, um anzutreten, wenn ich nach dir rufe. Du warst schon immer ein pflichtbewusster Mann, Rurik! Selbst wenn du Tod wärst, würdest du kommen, wenn ich rufe. Das schätze ich ja so an dir!", grinste Ragnar mit seinem schiefen Mund.
Rurik schwieg, was Ragnar nur mit einem Schulterzucken quittierte. Der Jarl fuhr fort:
„Ausserdem wollte ich doch meinen besten Krieger mit eigenen Augen sehen, wie er von den Toten auferstanden sein soll! Wahrlich, du lebst! Aber es scheint mir, als ob nicht deine ganze Seele zurück in deinen Leib gehaucht wurde. Du wirkst irgendwie.... schlapp. Da fehlt etwas, nicht wahr?"
Rurik krallte seine Finger in den Stuhlknauf und spannte seinen Körper an, um zu sprechen.
„Meine Kraft ist noch nicht zurückgekehrt. Das ist wahr, mein Jarl. Ich bin erst vor Kurzem aus dem Fieber erwacht. Mein Körper ist noch schwach."
„Das meine ich nicht."
Rurik blinzelte fragend.
„Ich verstehe nicht was du -"
„Die Heilerin. Wo ist sie?", fragte Ragnar direkt.
Wie es schien, wollte Ragnar nicht um den heissen Brei herum labern - er wollte Klartext reden. Rurik stutzte jedoch. Warum wollte der Jarl das wissen?
„Ich weiss es nicht, mein Jarl", antwortete Rurik wahrheitsgemäss.
„Wo ist sie hingegangen?", formulierte Ragnar seine Frage um.
Seine Augen formten sich zu kleinen Schlitzen, die böse funkelten, so als ob er damit versuchte, besser durch Rurik hindurchschauen zu können. So als ob er damit die Wahrheit besser erkennen könne.
„Ich weiss es wirklich nicht. Das ist die Wahrheit, mein Jarl."
Ragnar stützte seine Ellbogen auf die Stuhllehne und beugte sich weiter nach vorne. Seine Finger formten ein Dreieck. Sein geflochtener, rotblonder Bart baumelte in der Luft. Aus der Halle hinter der Tür hörte man lautes Gelächter von der Hochzeitsgesellschaft. Das Fest war wild im Gange.
„Hat sie dir das angetan?", fragte Ragnar und deutete mit seinen Augen auf seinen Verband.
„Nein!", log Rurik sofort.
„Wer war es dann, wenn es nicht sie gewesen sein soll, die dich erstochen hat? Ein Einbrecher? Ein Schurke? Wieder ein Schwede? Jemand aus Vestervig?", fragte Ragnar misstrauisch.
„Ich weiss es nicht, mein Jarl."
„Das glaube ich dir nicht. Es war diese Heilerin!", donnerte Ragnar bestimmt.
Rurik versuchte, seine Gesichtszüge zu beherrschen und keine verräterischen Zuckungen zuzulassen. Ragnar war geschickt im Einschüchtern seiner zu verhörenden Opfer. Aber Rurik würde er nicht brechen können. Nicht in dieser Angelegenheit.
„Ich kann mich nicht mehr daran erinnern", führte Rurik seine Antwort aus.
„Aha, du erinnerst dich also nicht."
Schweigen. Ragnar schwieg und das verhiess nichts Gutes. Rurik gab sich die grösste Mühe, die Ruhe solange auszuhalten, bis Ragnar die Stille selbst mit seinen Worten brechen würde. Die Männer starrten sich in die Augen und keiner der beiden blinzelte. Dann legte Ragnar seinen Kopf schief.
„Überlegen wir mal gemeinsam. Schon merkwürdig, dass sie genau am selben Tag verschwindet, an dem ein Mordanschlag auf dich ausgeübt wird, findest du nicht auch? Wo ist sie denn bloss hingegangen?", brummte er.
Rurik überlegte fieberhaft. Er musste seinem Jarl eine Erklärung liefern. Eine Lügengeschichte, die plausibel genug war, so dass Ragnar endlich von dieser Fragerei ablassen würde.
„Das letzte Mal, als ich sie an dem Tag gesehen habe, war, als sie mit meinem Pferd in die Stadt geritten ist, um Lebensmittel auf dem Markt zu besorgen. Ich blieb im Haus, denn ich wollte meinen Falken füttern und wurde plötzlich von hinten angefallen. Mehr weiss ich nicht", schwindelte Rurik.
Er atmete gepresst, denn es fiel ihm noch immer schwer, so viel zu sprechen. Es war, als hätte er nicht genügend Luft in den Lungen, um richtige Sätze zu formen. Alleine das Atmen saugte an seiner Kraft. Das Sprechen raubte ihm darüber hinaus den letzten Sauerstoff. Er hoffte, dass Ragnar ihm diese Geschichte abnehmen würde.
Ragnar verschränkte skeptisch die Arme vor der Brust und grunzte.
„So, so."
Es war offensichtlich, dass er Rurik keinen Glauben schenkte. Wenn sich eine Idee in Ragnars Kopf eingenistet hatte, war es schier unmöglich, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
„Bei Odin, ich schwöre auf meine Ahnen. Aveline hat nichts damit zu tun. Sie war nicht da, als es passierte. Das weiss ich mit Sicherheit!", bekräftigte Rurik seine Falschaussage.
„Verstehe", sagte Ragnar und stand dann auf.
Er schlenderte umher, seinen Blick fest auf seinen verletzten Hauptmann gerichtet. Seine Augen suchten noch immer nach der Lüge.
„Angenommen sie hat nichts mit deiner Verletzung zu tun. Sie war auf dem Markt, sagst du. Und dann ist sie einfach... gegangen? Warum ist sie verschwunden? Wenn sie ja so unschuldig ist, wie du beteuerst, warum hätte sie dann gehen wollen? Und vor allem wohin? Ich gehe nicht davon aus, dass sie irgendwelche Verwandte in Jütland besuchen wollte", bohrte er weiter.
Rurik schwieg einen Moment. Er wollte Ragnar den Eindruck geben, dass er sich darüber tatsächlich Gedanken machen müsste. So als sei ihr Verschwinden für ihn eine unwesentliche Angelegenheit, die bei ihm genauso viele Fragen aufwarf, wie beim Jarl.
„Ich nehme an, eine Herzensangelegenheit. Das sind doch immer die Dinge, welche die Weiber verjagen, nicht wahr?", antwortete Rurik möglichst gelassen.
Das war die Halbwahrheit, aber er hatte es seiner Meinung nach überzeugend genug herausgepresst. Ragnar schien die Antwort zu verarbeiten, denn seine Augen huschten hin und her, wie wenn er über die Worte nachdenken musste. Dann grinste er plötzlich.
„Ha! Wurde sie tatsächlich von einem Herzensbrecher vertrieben?! Wenn das wirklich so war, dann ist das eine gerechte Strafe für eine solch atemberaubende Schönheit, findest du nicht auch? Dafür, dass sie so vielen Männern den Kopf verdreht hat und sicherlich selbst da und dort ein Herz damit gebrochen hat! Das kleine Flittchen!"
Der Jarl nickte, so als ob er sich die Wahrheit über seine eigenen Worte nochmals selbst bestätigte. Er schien mit dieser Antwort irgendwie zufrieden. Es war plausibel genug, was Rurik ihm da erzählte.
„Naja, schade um die Perle. Ich hätte sie mir eigentlich gerne noch etwas genauer angeschaut. Aber was soll's! Wenn irgendein Kerl aus Vestervig sie vertrieben hat, dann soll mir das recht sein", meinte Ragnar und liess bei den Worten seinen Blick auf Rurik ruhen, um seine Reaktion zu prüfen.
Rurik versuchte gleichgültig zu wirken.
„Genug der Weibergeschichten! Wir wollen dem Verlust dieses Juwels ja nicht zu sehr nachweinen. Es findet sich garantiert wieder irgendwo eine solche Augenweide, nicht wahr?", lachte Ragnar.
Er schritt zum kleinen Tisch, der zwischen den Stühlen stand. Mit der Karaffe goss er sich Met in einen Hornbecher. Er streckte den Becher Rurik hin, der allerdings dankend ablehnte. Alkohol nach einer solchen Verletzung war wirklich keine gute Idee, selbst wenn ihm das mit seinem seelischen Leiden sehr geholfen hätte.
Ragnar zuckte nur mit den Schultern und kippte den gesamten Inhalt seines Hornbechers in die Kehle. Er rülpste und goss sich ein weiteres Mal nach. Dann wandte er sich Rurik wieder zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Ich muss zugeben, lieber Rurik. Ich bin froh, dass du noch nicht mit den Walküren davon geflattert bist. Wer auch immer dir das angetan, das ist mir jetzt gerade wieder einerlei. Du lebst, das ist alles, was zählt", sagte er und verstärkte seinen Griff um die Schulter des Hauptmannes.
Rurik liess einen leisen Ton von sich, denn Ragnar drückte da gerade auf der rechten Schulter die Hand in seine Muskeln - auf seiner schlechten Seite. Ragnar schien das aber nicht zu interessieren. Er klopfte ihm sogar noch hart auf den Rücken und meinte:
„Der Grund, weshalb ich dich hierher beordert habe, ist einfach. Ich brauche dich für die Raubzüge. In drei Tagen werden wir die Segel hissen und ich will, dass du mitkommst! Jetzt, wo du ja wieder unter den Lebenden wandelst, sollte das ja möglich sein. Du bist gerade rechtzeitig aufgewacht, fast wären wir ohne dich losgezogen!"
Rurik biss die Zähne zusammen und blickte zu seinem Jarl hoch. Meinte das Ragnar wirklich ernst? Es war verrückt, was sein Stammesführer da von ihm verlangte.
„Ragnar, ich weiss nicht, ob ich imstande bin -"
„Das Meer wird dir bei der Wundheilung helfen! Bisschen Salz in die Wunden schadet keinem!", lachte Ragnar.
„Aber -", wollte Rurik widersprechen, jedoch fiel ihm Ragnar ein weiteres Mal ins Wort.
„Du hast mir nicht zu widersprechen, mein geschätzter Hauptmann! Ich habe es wahrlich satt, dich immer in die Schranken weisen zu müssen. Willst du mir etwa beweisen, dass du der Ehre nicht würdig bist, ein Hauptmann Ragnar Sigurdsons zu sein? Falls du dich daran erinnerst, hast du deinem Jarl einst einen Eid geschworen. Kannst du mir nochmal sagen, wie der lautete?"
„Bei Odin schwöre ich dir, dass meine Axt deine ist und dass meine Hand ausführen soll, was du befehligst", sagte Rurik mechanisch.
„Genau. Das klingt doch gut. Du kommst mit, du bist schliesslich mein erster Hauptmann und meine Männer brauchen ein Vorbild. Du bist ein talentierter Jäger und ein ausgezeichneter Krieger, Rurik. Ich kann nicht auf dich verzichten. Ruhmreiche Zeiten stehen uns bevor, Hauptmann Jarson! Abenteuerliche Zeiten, die ich Seite an Seite mit meinem besten Krieger doch erleben möchte!"
Rurik schluckte leer. Ragnar schlürfte sein Getränk.
„Wenn das dein Wille ist, mein Jarl, dann beuge ich mich dem natürlich...", presste Rurik hervor.
„Es ist mein Wille", grinste der Jarl und knallte seinen Becher auf den Tisch.
Das Gespräch schien beendet. Rurik drückte sein Gewicht auf seine Hände und versuchte, sich vom Stuhl zu erheben, möglichst ohne dabei laut aufzustöhnen. Er wollte vermeiden, dass der Jarl seinen äusserst schwachen Zustand erkannte.
„Wenn ich dich bitten darf, dann würde ich jetzt gerne wieder zurück in mein Haus kehren. Ich muss mich für die anstehende Reise rüsten und brauche die Zeit, um mich zu erholen."
„Selbstverständlich", meinte Ragnar, „Geh du nach Hause, wärme dein Gesicht am Busen einer schönen Frau und ruh dich aus! Bald sind wir nur noch unter Männern und es wird wieder geschlachtet!"
Rurik schwankte in die Richtung der Tür. Seine Hand lag schon auf der Türklinke, da räusperte sich Ragnar ein weiteres Mal.
„Ah, warte! Bevor du gehst. Da gibt es noch eine Angelegenheit, die ich dir näher bringen wollte. Oder besser gesagt: Ich wollte sicherstellen, dass du es nicht vergessen hattest."
Rurik drehte sich um und schaute seinem Häuptling fragend in die Augen.
„Was denn, mein Jarl?"
„Kannst du dich noch an unser Gespräch erinnern bevor -", er wedelte hektisch mit seiner Hand und zeigte auf Ruriks Wunde, „- na, bevor dir das passiert ist?"
Rurik schüttelte den Kopf. Dieser Tag, an den wollte er sich nicht mehr erinnern müssen. Er wollte es nur noch vergessen. Alles vergessen.
„Ich hatte dir gesagt, dass du Inga Holrikson zur Frau nehmen sollst."
Ruriks Gesichtszüge erstarrten. Wahrlich - jetzt erinnerte er sich wieder daran. Wie ihm Ragnar an dem Abend, bevor Aveline ihm den Dolch in die Rippen gestossen hatte, offenbart hatte, dass er ihn dazu zwingen werde, sich mit Inga zu vermählen. Rurik hatte sich vehement gewehrt, denn er hatte es nicht fassen können, was sein Jarl da von ihm verlangte, aber Ragnar hatte es nicht gelten lassen. Rurik hatte mit Aveline darüber sprechen wollen, aber dann...
„Das sollst du noch immer", fügte Ragnar an.
Rurik wollte sogleich protestieren, aber Ragnar hob seinen Zeigefinger drohend in die Luft und fuhr fort:
„Na, na. Unterbrich deinen Jarl nicht! Du hast sie zu deiner Frau zu nehmen, denn du warst es ja auch, der ihr ein Kind in den Bauch gestossen hat. Meine Hauptmänner erfüllen ihre Pflichten in der Schlacht und im Ehebett. Das hatte ich dir alles schon gesagt. Wir diskutieren das nicht noch ein zweites Mal durch."
„Ragnar, bei allem Respekt. Ich will diese Frau nicht."
„Ich weiss, aber das hast du jetzt nicht mehr zu entscheiden."
„Aber -"
„Nichts da!", knurrte Ragnar. „Oder willst du, dass ich dich höchst persönlich nach Hel befördere?!"
Seine Augen funkelten böse. Rurik wusste, dass es aussichtslos war. Er war nicht in der Lage, Ragnar zu widersprechen. Niemand war das. Ragnar hatte ein Machtwort gesprochen und Rurik hatte sich dem Willen seines Anführers zu beugen. Er nickte, als Ragnar noch anfügte:
„Zu deiner Beruhigung. Die Vermählung soll erst bei deiner Rückkehr stattfinden - vorausgesetzt du überlebst die Überfahrt und die Schlachten natürlich."
Rurik blickte seinem Jarl ausdruckslos in die Augen. Er wollte ihm sein Entsetzen nicht zeigen, denn es war zwecklos. Der Jarl winkte mit der Hand und bat ihn damit wortlos, den Raum jetzt endlich zu verlassen. Ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen, ging Rurik aus Ragnars Privatkammer.
...
Er fand seinen Schwager und Loki in der vollen Versammlungshalle wieder. Bevor er sie bitten konnte, ihn zurück nach Hause zu bringen, kam Rollo in voller Festmontur auf ihn zu, ein breites Lachen im Gesicht.
„Rurik, mein Hauptmann!", grüsste Rollo und streckte ihm seine Hand hin. „Du glaubst nicht, wie erleichtert ich bin, dich wieder Atmen zu sehen!"
Er schüttelte die Hand des Verletzten vorsichtig zum Gruss und blickte ihm aufmunternd in die Augen.
„Rollo", grüsste Rurik zurück. „Ich sehe, du wurdest vermählt. Ich wünsche dir im Namen von Frigg ein friedliches und segensreiches Eheleben!"
„Hab Dank, mein Bruder. Das wird nur die Zeit zeigen!", lachte er.
„Eine gute Wahl", sagte Rurik und lenkte seinen Blick für einen flüchtigen Moment zur Braut, aber nur kurz, denn gleich daneben sass Inga und er wollte ihr keinen Grund geben, sich ihm nochmals zu nähern.
„Das ist es in der Tat!", grinste Rollo. „Meine Frau hat viel von deinen Heldentaten erzählt. Sie scheint durch ihre Freundin wirklich Einiges von dir zu wissen. Auch von Torvi soll ich dir mitteilen, dass sie hoch erfreut ist, dich wieder unter den Lebenden zählen zu dürfen. Sie meint, damit sei mein Überleben im Frankenreich gesichert!"
Er lachte auf, denn er wollte Rurik damit signalisieren, dass dies ein Scherz sein sollte. Rurik zwang sich zu einem kleinen Schmunzeln.
„Du wirst doch mit uns reisen, nicht wahr?!", fragte Rollo nach, als Rurik ihm keine Antwort gab.
Rollos Gesicht hatte augenblicklich ernste Züge angenommen. Rurik nickte matt.
„Ja, ich werde da sein."
„Welch eine Freude!", rief Rollo erleichtert aus und klopfte sachte auf Ruriks Schultern. „Ruh' dich aus, mein Hauptmann. Ich brauche dich bei vollen Kräften, sonst reisst dir meine Frau den Kopf ab, wenn du mich sterben lässt. Und das wäre ja wirklich schade!"
Er verabschiedete sich mit einem Kopfnicken von Rurik und begab sich wieder ans Ende des langen Tisches, um neben seiner Braut Platz zu nehmen. Rurik wandte sich Loki und Hjalmar zu und liess sich von den beiden zu den Pferden eskortieren.
Ein ekelhafter Nieselregen nässte die Männer, als sie langsamen Schrittes zurück zum Bauernhof ritten. Rurik stampfte alleine über die Treppenstufen ins Innere des Langhauses. Seine Schwester war nicht mehr da, denn sie war zu Alva gegangen, um ihren Sohn wieder in die Arme zu schliessen. Loki legte sich in Avelines ehemaliger Kammer auf die Pritsche und döste rasch ein. Die Erschöpfung hatte ihn eingeholt und liess ihn in einen tiefen Schlummer versinken.
...
Hjalmar setzte sich an den Esstisch und blickte Rurik erwartungsvoll an. Er wollte, dass er ihm von der Audienz bei Ragnar berichtete. Der entsetzte Gesichtsausdruck seines Schwagers hatte ihm verraten, dass zwischen den beiden Männern keine freundlichen Worte ausgetauscht worden waren. Hjalmar wollte seinem Schwager die Möglichkeit geben, mit ihm darüber zu sprechen, denn sie sprachen oft über Ragnar und seine verrückten Taten. Hjalmar sah, dass auch jetzt ein Gespräch seinem Schwager guttun könnte.
Rurik setzte sich auf die Bank und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Er war noch immer bleich wie ein Leichentuch, Fieberschweiss krönte seine Stirn.
„Was wollte Ragnar von dir?", fragte Hjalmar.
Rurik liess einen langen und tiefen Seufzer von der Brust. Sein Blick war leer und auf den Tisch gerichtet.
„Ich muss mit", antwortete er.
„Ins Frankenreich?", hakte Hjalmar nach.
Rurik nickte erschöpft.
„Ist er des Wahnsinns?! In deinem misslichen Zustand kommt das einem Todesurteil gleich! Der Mann hat seinen Verstand verloren! Täte es ihm nicht besser, wenn er dich schonen würde?", donnerte Hjalmar.
Rurik zuckte bloss mit den Schultern, denn auch er war ratlos. Das wäre tatsächlich für einen gewöhnlichen Jarl die vernünftigere Wahl gewesen, wenn ihm etwas an seinem Hauptmann gelegen hätte. Aber Ragnar war einmal mehr skrupellos.
„Was wollte er noch?", fragte Hjalmar weiter.
„Wissen, was passiert ist."
„Hast du ihm erzählt, dass -?"
„Nein. Er weiss nichts davon."
„Gut", brummte Hjalmar, „das ist besser so."
„Aber er vermutet es", fügte Rurik an.
„Und was hast du ihm entgegnet?"
„Dass ich mich nicht daran erinnern kann, was passiert ist, aber dass ich mit Sicherheit weiss, dass sie nichts damit zu tun hat."
Hjalmar nickte gedankenverloren.
„Gut. Gut. Das muss ausreichen. Die Raubzüge werden seine Gedanken in eine andere Richtung lenken."
Rurik schloss erschöpft seine Lider. Sie schwiegen. Nur das Feuer knisterte leise in der Feuerstelle.
„Vielleicht hattest du recht", sagte Rurik nach einer Weile.
„Womit?"
„Ragnar will Vergeltung. Dafür, dass ich Aveline damals als Sklavin für unser Haus reklamiert habe. Jetzt muss ich dafür bezahlen - mit meinem Leben."
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