8 - Lenzmond
Vestervig, Nordjütland
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Der Dunst in seinem Kopf lichtete sich und der Schutzschild der Bewusstlosigkeit, der ihn von den grässlichen Schmerzen abgeschirmt hatte, zerbrach in tausend Stücke. Ruriks rechte Flanke brannte. Es war, wie wenn er mit seinem Oberkörper durch Eisennägel gezogen worden war. Er brüllte laut auf, denn der Schmerz war unerträglich.
Stöhnend fasste er sich an die verletzte Seite und bereute es sogleich. Nur schon das Heben seines rechten Armes jagte ihm glühende Stiche durchs Innere seines Brustkorbes. Sein Herz schlug hart gegen seine Rippen.
„BEI ODIN, DU LEBST!", schrie Salka, als sie in sein Zimmer stürzte und ihm sogleich einen Kussregen auf die Stirn niederprasseln liess.
„Schwester", keuchte Rurik.
„Oh, mein kleiner Bruder! Du glaubst es nicht, wie erleichtert wir sind. Ich hätte ein Leben ohne dich nicht ertragen können. Oh, ich kann es nicht fassen!", schluchzte sie, während ihr die Freudentränen über die Wangen kullerten.
„Salka", murmelte Rurik und hob seinen linken, gesunden Arm.
Sie kniete sich neben ihn hin, nahm seine Hand und legte ihr Gesicht in die heisse Handfläche.
„Ich liebe dich, mein kleiner Bruder! Verspreche mir, dass du mir nie, wirklich nie wieder sowas antust!"
Sie weinte und lachte gleichzeitig vor Erleichterung. All die Tage der Verlustangst, all das Wehklagen und Leiden lösten sich plötzlich in Luft auf. Rurik liess seine Hand an ihrem Gesicht und schenkte ihr ein schwaches Lächeln. Er sah ihr an, dass sie sehr gelitten haben musste. Hjalmar kam in den Raum und blickte seinem Schwager erleichtert in die Augen.
„Schön, dass du wieder zu den Lebenden gehörst!", grüsste Hjalmar und zeigte ein Lächeln hinter seinem dichten Bart.
Rurik konnte die freundlichen Worte jedoch nicht erwidern. Die pochende Wunde plagte ihn und glühte bestialisch an seiner Flanke. Salka blickte besorgt in seine fiebrigen Augen.
„Hast du starke Schmerzen?", fragte sie.
Rurik nickte stumm, denn das Sprechen fiel ihm so unendlich schwer. Seine Schwester seufzte und tätschelte seine Hand.
„Ruh dich aus, kleiner Bruder. Du musst zu Kräften kommen. Hab keine Sorge, wir kümmern uns um dich. Wir haben den Vorratsschrank von Aveline ausgeräumt. Wir werden dich schon wieder herrichten. Ich glaube, sie hat einmal ein Wurzelpulver hergestellt, das gegen Schmerzen helfen soll. Das bringe ich dir nachher gleich!"
Rurik biss seine Zähne fest zusammen, so dass seine Kiefermuskeln hervortraten. Den Namen seiner Geliebten zu hören, verursachte ein zusätzliches Stechen in seinem Inneren. Ein Stechen in seinem Herzen.
Da kam Loki ins Zimmer und reichte seinem verletzen Freund die Brühe. Man half Rurik, sich aufzusetzen, damit er die Suppe schlürfen konnte. Dabei musterte Hjalmar seinen Schwager eindringlich. Die paar Tage in Bewusstlosigkeit und voller Regungslosigkeit hatten an seinem sonst so kräftigen und vitalen Körper gezehrt und deutliche Spuren hinterlassen. Er hatte an Muskelmasse verloren und wirkte in seinem Bett kleiner und schwacher als üblich. Seine Augen waren vom Fieber und den Schmerzen getrübt. Hjalmar ertrug den Anblick kaum. Der Mann, der vor ihnen auf dem Bett sass, war nicht derselbe, den sie erst vor einigen Tagen das letzte Mal lebendig gesehen hatten. Er wirkte zerbrechlich. Gebrochen.
Rurik löffelte unter den erleichterten Blicken seiner Schwester und seines Freundes die Suppe.
„Ich kann es nicht glauben, dass du wieder lebst", murmelte Salka, während ihre Augen jede Bewegung und jeden Atemzug, den er tat, mit Freude verfolgten.
„Das habt ihr mir zu verdanken. Ich habe ihn zurückgetrommelt", kicherte Loki stolz.
Hjalmar verliess das Zimmer, denn in dem Raum war es eng und stickig und er ertrug den erbärmlichen Anblick von Rurik nicht. Während Salka und Loki dem Verwundeten Gesellschaft leisteten, schürte er das Feuer.
Nachdem Rurik die Brühe heruntergeschlungen hatte, bat er seine beiden Besucher, ihn alleine zu lassen, denn er war schrecklich müde und wollte sich hinlegen um sich auszuruhen. Die ganze Aufmerksamkeit und die aufgeregten Blicke seiner Familie waren ermüdend. Obwohl sie gerne etwas länger bei ihm geblieben wäre, respektiere Salka seinen Wunsch und verliess den Raum mit Loki.
Rurik legte sich ächzend der Länge nach hin, denn das Sitzen jagte ihm heisse Messerspitzen in seine Rippen. Schon unzählige Male war er in Kämpfen verletzt worden. Das waren aber immer nur oberflächliche Stichverletzungen gewesen, die er eingesteckt hatte. Noch nie in seinem Dasein als Krieger war er jemals erdolcht worden und er musste sich selbst eingestehen, dass diese Schmerzen die Schlimmsten waren, die er je gefühlt hatte. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Atmung.
Vor seinem inneren Auge flackerte plötzlich ein verschwommenes Bild auf. Er erkannte Avelines Umrisse, die ihm sehr undeutlich entgegen schienen. Ihre honigfarbenen Augen strahlten ihn wie zwei goldene Sonnen an. Schlagartig öffnete er seine Lider und da fiel der Schleier der Verdrängung von seinem Geiste ab.
Der schreckliche Moment spielte sich ein weiteres Mal vor ihm ab. Wie Aveline hektisch ihre Sachen in der Stube gepackt hatte - ihr Gesicht schmerzverzerrt. Sie war bei Loki gewesen wegen der Haarnadel ihrer Mutter. Das Schmuckstück, welches Rurik unwissend über dessen Herkunft seiner Aveline als Zeichen seiner Zuneigung geschenkt hatte - nach ihrer unvergesslichen, gemeinsamen Nacht voller Liebe und Zärtlichkeit. Als Aveline von Loki erfahren hatte, dass er - Rurik - der Mörder ihres Vaters war, hatte sie ihn erdolcht und war gegangen. Für immer.
Er schloss die Augen wieder, aber da blitzte erneut das wunderschöne Gesicht vor seinen geschlossenen Lidern auf. Ich hasse dich! Das hatte sie ihm wütend ins Gesicht gezischt. Diese Worte hatten ihn kalt und hart getroffen. Er wusste, dass sie ihm die Wahrheit ins Gesicht geschrien hatte. Ihre Liebe war erloschen und sie musste wirklich tiefen Hass ihm gegenüber verspürt haben.
Was ihm aber einen grösseren Stich ins Herz versetzte, war nicht die Erinnerung an ihre verachtenden Worte, sondern das Bild ihres angsterfüllten, wilden Blickes. Sie musste solch schreckliche Furcht vor ihm gehabt haben, denn am ganzen Leib hatte sie gezittert. Diesen Anblick würde er niemals vergessen. Er wäre der letzte Mensch auf dieser Welt, der ihr jemals Leid zufügen wollen würde, aber das hatte sie nicht erkannt. Für sie war er zum Monster geworden.
Alles, was er Aveline an dem Tag gesagt hatte, war aus tiefstem Herzen gekommen. Er liebte sie. Mehr als alles andere auf dieser Welt und es quälte ihn zu wissen, welch unglaubliches Leid er ihr mit seiner Tat zugefügt hatte. Auch wenn er damals nicht gewusst haben konnte, dass es ihr Vater war, den er tötete - er hatte der Liebe seines Lebens damit das Herz aus der Brust gerissen. Obwohl er sich doch geschworen hatte, es behüten zu wollen.
Rurik schluckte leer, denn seine Kehle war trocken. Er versuchte, nach dem Becher Wasser zu greifen, aber der stand auf dem Boden und Rurik wollte es nicht wagen, sich zu sehr aus dem Bett zu lehnen, also liess er es bleiben. Er seufzte und starrte an die Decke.
Worte verblassen, aber an Taten erinnert man sich - ein Leben lang. Waren das nicht die Worte seiner Schwester gewesen? Er ballte seine schwachen Hände zu Fäusten. Aveline würde ihm das nie verzeihen, ohne Zweifel.
Er versuchte sich daran zu erinnern, was sie ihm nebst den abscheulichen Dingen noch gesagt hatte. Ihre Stimme hallte in seinem Kopf: Ich gehe nach Hause. Sie wollte zurück in ihre Heimat! Plötzlich realisierte er, dass er ja für eine gewisse Zeit bewusstlos gewesen war. Während dieser Zeit musste sie schon losgezogen sein! Wo sie jetzt wohl steckte?
Seine Aveline auf sich alleine gestellt auf den Wegen seines Landes. Die blosse Vorstellung davon jagte ihm eine Kälte durch den Körper. Es wäre absolut leichtsinnig, alleine durch Jütland reisen zu wollen. Die normannischen Strassen waren nicht sicher, überhaupt nicht sicher für so jemanden wie Aveline. Überall lungerten Schurken, Skogamore und Gauner, die ihr Schreckliches antun könnten! Nur schon ihr Anblick raubte so manchem Mann den Verstand, selbst denen, die noch im Besitz davon waren. Er wollte sich gar nicht erst vorstellen, was ein Verrückter und Skrupelloser mit ihr machen würde! Sein Magen zog sich zusammen.
Rurik war machtlos. Machtlos, denn er konnte sie nicht beschützen. Machtlos, denn er konnte sie nicht vor möglichem Leid bewahren. Er war wie gelähmt, denn er konnte all das, was passiert war, nicht rückgängig machen. Sie war fort, für immer. Der Gedanke, sie könnte irgendwo am Strassenrand liegen, ausgeraubt, vergewaltigt, geschändet und getötet war grauenvoll. Es war alles seine Schuld!
Er wollte nicht einfach tatenlos rumliegen. Er musste sie finden und sie vor dem Schlimmsten bewahren! Mit allergrösster Mühe versuchte er, sich aufzurichten, aber die Bewegung löste einen Krampf in seinem Oberkörper aus. Er brüllte lautstark auf. Die Muskeln zuckten wütend, so als wolle sein Körper ihn dafür bestrafen, dass er sich nicht schonen wollte. Nach mehreren tiefen Atemzügen hörte das Muskelzucken wieder auf. Das unaufhörliche Brennen an seiner Wunde liess allerdings nicht nach.
Er stöhnte verzweifelt. Wäre er doch bloss nicht von seiner Bewusstlosigkeit aufgewacht. Die Welt, in die er aufgewacht war, wollte er nicht sehen. Nicht, wenn sie nicht mehr ein Teil davon war. Nicht, wenn sie wegen ihm noch mehr leiden musste. Sein Dasein war völlig sinnlos, ja gar die reinste Qual geworden.
Eine ganze Weile lang lag er da und wünschte sich sehnlichst den Tod wieder herbei. Wenn ihn doch bloss die Walküren geholt hätten! Das Schweben in der Bewusstlosigkeit war eine Wohltat gewesen im Gegensatz zu diesem schrecklichen Leben, in welches er aufgewacht war. Er konnte sie nicht mehr zurückholen und dafür hasste er sich so.
...
Er schrie wütend auf, so dass seine Stimme durchs Zimmer hallte. Das rote Tuch am Türrahmen wurde zur Seite geschoben und Salka lugte hinein. Sie musste ihn gehört haben. Ihre langen blonden Haare hingen ihr über die Schultern.
„Rurik?", flüsterte sie leise, so als befürchte sie, ihn mit ihrer Neugierde noch mehr zu erzürnen.
Er drehte seinen Kopf zur Tür und als sich ihre Blicke trafen und sie sah, dass seine Wut verebbt war, trat sie langsam hinein, die Hände vor sich gefaltet. Sie setzte sich neben ihn auf die Bettkante und strich ihm die Haare aus der Stirn.
„Was ist los? Plagt dich die Wunde so sehr?", fragte sie sanft.
Sie spürte, dass dieser Schmerz, den er von seiner Seele brüllte, nicht nur ein körperlicher sein konnte, dafür kannte sie ihren Bruder nur zu gut. Sein innerer Sturm hatte für einen Moment ausserhalb seiner selbst getobt.
„Schwester", sagte er heiser, „es ist alles meine Schuld!"
Salka hob fragend die Augenbrauen, da kam Hjalmar ebenfalls ins Zimmer.
„Loki ist in die Stadt gegangen. Ich habe ihm gesagt, er solle Ragnar Bescheid geben", meinte Hjalmar.
Rurik nickte. Ja, der Jarl würde sicherlich darüber in Kenntnis gesetzt werden wollen, dass er nicht elendiglich verreckt war - leider.
„Was ist deine Schuld?", fragte Salka nach und strich mit ihrer weichen Hand über seine Wangen.
„Es ist meine Schuld, dass sie gegangen ist. Dass sie weg ist. Ich muss... ich muss sie suchen", murmelte er.
Salka legte ihren Kopf schief. Sie verstand nicht.
„Wie meinst du das? Warum sollte das deine Schuld sein?"
„Ich habe... Sie hat das..."
Rurik hatte sichtlich Mühe, die Worte zu formulieren. Es war anstrengend zu sprechen. Sein Wutanfall hatte seine Energie geraubt.
„Aveline hat dir das angetan?", erriet Hjalmar.
Der breite Jütländer hatte aufgepasst und sofort gemerkt, wovon sein Schwager sprach. Rurik schluckte leer und antwortete mit einem stummen Kopfnicken. Salka zog vor Schreck ihre Hand von seiner Wange.
„Nein! Das ist unmöglich!", rief sie. „Sowas würde sie doch nie tun! Nicht unsere Aveline!"
Rurik seufzte. Er wollte, dass sie verstanden, warum all dies geschehen war. Er musste es ihnen sagen, sonst dachten sie das Falsche von ihr. Das wollte er nicht, er musste es ihnen erklären, aber er war so schwach.
„Warum hat sie das getan?", fragte Hjalmar ernst.
„Ich... Ich habe etwas Schreckliches getan", keuchte Rurik.
Seine blauen Augen glänzten verzweifelt. Es war so schwierig für ihn, all das in Worte zu fassen. Hjalmar verschränkte die Arme vor seinem breiten Körper und blickte ihn erwartungsvoll an, während Salka ungläubig blinzelte.
„Warum sagst du sowas, Bruder? Was im Namen unserer Götter sollst du verbrochen haben, dass sie dir sowas antun würde?! Dass sie uns sowas antun würde?!", stiess sie aus.
Sie wollte und konnte es nicht glauben, dass ihre unschuldige Gehilfin zu einer solch brutalen Tat fähig war. Salka war überzeugt, dass Aveline nie ihrem geliebten Bruder das Leben hätte nehmen wollen! Sie konnte es nicht wahr haben, dass sie sich all die Zeit lang in diesem zierlichen Wesen getäuscht haben soll. Das war einfach nicht möglich.
„Rurik, das Fieber spricht aus dir", meinte sie, aber Rurik schüttelte sofort den Kopf.
Er rang um Worte, denn es war schwierig, seine Tat laut auszusprechen. Es war einfach so entsetzlich. Wenn er es laut aussprach, dann wurde es zur Wahrheit. Eine Wahrheit, die er selbst nicht wahr haben wollte.
„Ich -"
„Du hast jemanden getötet, den sie kannte. Nicht wahr? Damals, im Frankenreich", half ihm Hjalmar die schreckliche Tatsache in Worte zu fassen.
Er hatte die einzig logische Erklärung, die es dafür gab, laut ausgesprochen. Rurik nickte abermals, froh, dass sein Schwager ihm diese Bürde abgenommen hatte. Er schloss ermattet die Augen. Salka hielt sich die Hand auf ihr Herz.
Ein dunkler Schleier legte sich über Hjalmars Gesicht. Er verabscheute die brutalen Ungerechtigkeiten, die seine Landsleute in fremden Ländern während den Plünderungen veranstalteten. Dass sein Schwager selbst ein Mörder war, hatte er schon immer gewusst, aber es war einfach, sowas im Alltag zu verdrängen. Jetzt hatte Rurik seine abscheuliche Seite eingeholt. Die gemeine Konsequenz einer simplen Entscheidung. Hätte er sich gegen das Töten entschieden, läge er jetzt nicht da und Aveline wäre wahrscheinlich nicht verschwunden.
„Wen?!", fragte Hjalmar mit einer Stimme, die so fest und bestimmt war, dass beinahe der Boden vibrierte. „Wen hast du getötet?!"
„Ihren Vater", stiess Rurik hervor.
Salka japste erschrocken auf. Hjalmar senkte seine Arme.
„Dann verstehe ich, warum sie dich ins Totenreich befördern wollte und gegangen ist. Das hast du mehr als verdient", knurrte er und stampfte zornig aus dem Zimmer.
„Hjalmar!", rief Salka.
Sie blickte ihrem Mann entrüstet hinterher. Rurik senkte seine schweren Lider. Er hatte den Groll seines Schwagers verdient, denn recht hatte er ja. Er hatte alles Leid der Welt verdient, für das, was er ihr angetan hatte. Er hatte den Tod dafür verdient.
„Oh, Rurik", seufzte seine Schwester, packte seine Hand und drückte sie fest.
Er schwieg und starrte wieder an die Decke. Die Ohnmacht lähmte ihn so, es war abscheulich. Salka tätschelte sanft seinen Handrücken und beobachtete seine Gesichtszüge. Sie wusste, dass der innere Sturm in ihm jetzt gerade wieder entsetzlich toben musste. Das sah sie seinen blauen Augen an.
„Ach, kleiner Bruder. In was hast du dich da wieder hineingeritten?", murmelte sie leise. „Es wird sich alles schon wieder irgendwie richten. Ich glaube fest daran."
Als Antwort stiess er bloss höhnisch die Luft aus der Nase. Er bat seine Schwester, ihn wieder alleine zu lassen. Er wollte nicht vor ihren Augen leiden und vor allem wollte er alleine in seinem Selbsthass sein. Da halfen ihre aufbauenden Worte nichts. Sie konnte ihn nicht aus seiner Misere helfen. Niemand konnte das. Er hatte sich selbst in dieses Unglück geritten also wollte er auch selbst darin versauern.
...
Salka schlug seufzend das rote Tuch vor dem Zimmer ihres Bruders wieder zu. In der Stube sass Hjalmar am Esstisch und spülte sich gerade frustriert einen Becher Bier die Kehle hinunter, als seine Frau sich zu ihm an den Tisch setzte und sich ebenfalls etwas Gerstenmalz in einen Becher goss. Diese Neuigkeit mussten sie beide erst einmal verarbeiten.
Sie sassen schweigend am Tisch und schwebten in ihren Gedanken.
„Ich kann nicht glauben, dass Aveline ihn... dass sie das tun konnte. Sie war doch so ein gutes Mädchen", sagte Salka bestürzt und trank einen kräftigen Schluck.
Hjalmar blickte in seinen Becher.
„Das dachte ich auch. Aber manchmal sind die unscheinbarsten Wesen die gefährlichsten", antwortete er.
„Unsere liebe Aveline ist einfach weg, obwohl sie hier doch alles hatte... Was denkst du? Wohin ist sie gegangen?", fragte Salka.
„Wahrscheinlich wollte sie verschwinden. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie sich bei uns nie so ganz wohl gefühlt hat. Rurik hat ihr wahrscheinlich den besten Grund dafür gegeben."
„Glaubst du, dass sie noch lebt? Ganz alleine unterwegs auf diesen Wegen..."
Hjalmar liess die Worte seiner Frau auf sich wirken. Die Strassen Jütlands waren kein sicheres Pflaster und auch er hatte einst einmal seinen Karren vor Schurken verteidigen müssen. Für den stämmigen Hjalmar war das ein Leichtes gewesen, denn mit seiner Körpergrösse und unglaublichen Kraft konnte er fast jeden Schuft in die Flucht schlagen. Aber Aveline war klein und zierlich und vor allem war sie eine Frau. Beim Gedanken an seine Gehilfin huschte ihm aber ein Lächeln über die Lippen.
„Die Kleine ist so widerstandsfähig wie ein Wildschwein. Die lässt sich nicht so schnell von ein paar Normannen kleinmachen. Ausserdem habe ich ihr so Einiges beigebracht. Ich glaube, sie wird ihren Weg schon finden, irgendwie", schnaubte er.
Salka erwiderte sein Lächeln.
„Das stimmt. Das war sie. Eine bemerkenswerte, starke Frau", gab sie zu. „Ich kann es aber dennoch nicht fassen, dass sie das getan hat. Wirklich nicht."
Sie schüttelte bei den Worten ungläubig den Kopf. Hjalmar stützte seine beiden Ellbogen auf den Tisch und blickte seiner Frau in die blauen Augen.
„Schau, Salka. Sie hat nur das getan, was jeder von uns auch getan hätte, sind wir mal ehrlich. Ein Vatermord lässt sich nur mit Mord vergelten. So machen Normannen das nun mal."
„Ich weiss, Hjalmar. Irgendwie verstehe ich das auch", antwortete Salka, „aber ich bin so froh, dass Rurik noch lebt. Odin sei Dank!"
Hjalmar blickte seiner Frau ernst in die Augen.
„Der Junge hat vielleicht überlebt, aber über diese Schuld wird er nicht hinwegkommen, mein Liebes. Hast du ihm ins Gesicht geschaut? Da ist jeglicher Lebenswille verschwunden. Sei dir Bewusst, dass der Rurik, den du kanntest, wahrscheinlich gestorben ist. Der dort im Bett ist nicht mehr derselbe. Bis in alle Ewigkeiten wird ihn diese Schuld peinigen. Sie war ja quasi ein Teil unserer Familie. Sie war ihm eine gute Freundin", sagte er.
„Ich glaube, sie war für ihn sogar weitaus mehr als das, Hjalmar. Die beiden waren nicht nur befreundet. Sie haben sich mehr als gemocht. Das habe ich ihnen angesehen", flüsterte Salka, denn sie befürchtete, dass Rurik ihr Gespräch mithören könnte.
Hjalmar hob überrascht die Augenbrauen und Salka antwortete mit einem stummen Kopfnicken. Solche Sachen sah Hjalmar nie, aber dass dies den aufmerksamen Augen und Ohren seiner Frau nicht entgangen war, konnte er sich gut vorstellen.
„Dann wünsche ich ihm, dass Freya, Sjöfn und Lofn ihn damit nicht verfluchen wollten", meinte er.
Salka seufzte laut und drehte den Becher in ihren Händen.
„Ach, Hjalmar. Mein armer Bruder. Er hat das alles nicht verdient."
„Vielleicht ist es der Wille der Götter", zuckte Hjalmar mit den Schultern und trank von seinem Bier.
„Warum soll das der Wille der Götter sein? Wollen sie ihn bestrafen? Wofür denn?!"
„Dafür, dass er sich von Ragnar zu unmenschlichen Taten hat verleiten lassen. Ich dachte mir schon immer, dass wir damit irgendwann den Zorn der Götter ernten werden."
Salka verdrehte bei den Worten die Augen.
„Ich glaube kaum, dass Rurik zu den schlimmsten Kriegern von Ragnar gehört. Die Waschweiber haben mir da von viel schrecklicheren Kerlen erzählt. Mit denen müssten die Götter mal grausam sein. Rurik ist nichts gegen die. Ich verstehe wirklich nicht, warum sie ihn so schrecklich bestrafen mussten."
Hjalmar zuckte mit den Schultern.
„Ich weiss es auch nicht, mein Liebling. Du bist doch immer die, die mich davon überzeugen will, dass unser Schicksal in den Händen der Götter liegt und wir uns ihrem Willen beugen sollen. Ist das jetzt nicht so?"
„Ja, doch. Schon. Es scheint mir einfach nicht gerecht. Das hat er doch nicht verdient. Nicht mein kleiner Bruder."
„Die Götter sind nicht gerecht. Das weisst du besser als ich. Sie beneiden uns für unsere Menschlichkeit. Rurik muss sie irgendwie erzürnt haben."
„Dann werden wir morgen nochmals ein Opfer erbringen, um ihren Zorn zu mildern", beschloss Salka.
„Das halte ich unter diesen Umständen für mehr als angemessen", antwortete Hjalmar und leerte seinen Becher.
Er schmunzelte beim Gedanken, dass sie am nächsten Tag schon wieder zum Tempel gehen würden. Wie schnell sich doch die Wünsche der Menschen an die Götter verändern konnten. Die Priester im Tempel würden auf jeden Fall Augen machen, wenn sie dieses Mal mit glücklichen Gesichtern in der geweihten Halle auftauchten.
...
Das Ehepaar sass für eine ganze Weile schweigend am Tisch, als Loki von der Stadt zurückkam. Sein Blick war verwirrt und er schien ausser Atem. Er musste sich sehr beeilt haben.
„Loki?", fragte Salka, denn sie sah seine besorgten Gesichtszüge.
„Es ist Ragnar", japste Loki zwischen zwei Atemzügen. „Er will ihn sehen. Jetzt sofort!"
Er sprang hastig ins Zimmer seines Freundes.
„Dann soll Ragnar herkommen! Unsere Stube ist gross genug", grummelte Hjalmar.
„Nein, das geht nicht. Ragnar will, dass Rurik in die Halle kommt!", rief Loki vom Zimmer aus.
Hjalmar runzelte die Stirn.
„Das kann er aber nicht!", protestierte Salka und stand auf.
Loki streckte seinen Kopf aus dem Zimmer und blinzelte sie an.
„Ich weiss. Das habe ich ihm auch gesagt. Er will es aber so. Rurik muss in die Versammlungshalle. Ich soll ihn sofort herbringen, hat er gemeint", antwortete er und sein Kopf verschwand wieder im Zimmer.
Salka blickte ihren Gatten entsetzt an, so als ob sie von ihm erwartete, dass er etwas dagegen unternehme.
„Das kann er doch nicht machen! Rurik leidet unter schrecklichen Schmerzen! Er ist schwer verwundet!"
Hjalmar zögerte, aber auch er war machtlos. Entschlossen folgte er Loki ins Zimmer.
„Ich helfe dir", sagte er.
„Hjalmar, nein! Das kannst du doch nicht tun! Was, wenn er vor Schmerzen wieder in Ohnmacht fällt?", rief Salka ausser sich.
Aber Hjalmar hörte nicht auf seine Frau. Loki machte Rurik weis, was der Jarl ihm befohlen hatte. Er habe in die Versammlungshalle zu kommen - augenblicklich - und ihm zu erklären, was in Odins Namen vorgefallen war. Sein Hauptmann hatte anzutreten, und zwar sofort. Beide wussten, dass man einen aufgebrachten Jarl nicht warten lassen durfte. Vor allem nicht, wenn dieser Jarl Ragnar Sigurdson war. Rurik nickte schwach, denn er verstand die Ernsthaftigkeit der Situation.
„Reich mir mein Hemd", keuchte er, als er sich mit der wenigen Kraft, die er zusammenkratzen konnte, aufsetzte.
Loki schmiss ihm ein Hemd an, welches er sich mit vorsichtigen Bewegungen über den Oberkörper zog.
„Ihr müsst mir helfen", bat er seine Helfer.
Die Männer griffen ihn von einer Seite des Bettes an beiden Armen und halfen ihm, vom Bettrand aufzustehen. Er brüllte auf, als sein Gewicht sich auf seine Beine verlagerte und die Muskeln seines Rumpfes sich anspannten, um das Gleichgewicht zu halten. Ein feiner Blutstrom trat augenblicklich aus seiner offenen Wunde und Rurik versuchte, das frische Hemd nicht mit dem Blut zu bekleckern indem er es hoch hob.
Loki holte einen frischen Lappen. Dann drückte er das Tuch an die Wunde und befestigte es mit einem langen dünnen Band um den Rumpf seines Freundes. Das musste für den kleinen Ausritt bis zur Versammlungshalle halten.
Sie halfen Rurik aus dem Haus, indem sie ihn von beiden Seiten an den Armen stützten. Kalter Schweiss drang ihm aus den Poren. Er kämpfte, um nicht vor Schmerzen wieder das Bewusstsein zu verlieren und stöhnte bei jedem Atemzug.
Auf zwei Pferden ritten sie in die Stadt. Salka stand besorgt in der Tür und blickte ihnen hinterher, wie sie hinter dem Hügelkamm verschwanden. Sie galoppierten nicht, denn sie wollten Ruriks Qual nicht noch schlimmer machen.
Von weitem war das grosse Versammlungshaus von Ragnar Sigurdson schon zu sehen, wie es im Zentrum der Stadt thronte. Feierliche Musik drang zu den Männern herüber, als sie von den Pferden stiegen und den verletzten Hauptmann zum Eingang der Halle schleppten.
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