5 - Lenzmond
Zwischen Viborg und Silkeborg, Mitteljütland
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Aveline rannte, aber ihre Füsse bewegten sich kaum vom Fleck. Ihre Beine waren schwer und fühlten sich taub an. Sie blickte über die Schulter und sah, wie hinter ihr ein weisser Nebel über die Landschaft schwappte und alles wie eine zähe Flüssigkeit in sich verschlang. Sie fühlte, wie die Angst ihr die Luft zuschnürte. Mit aller Kraft stampfte sie ihre Füsse in den Boden um Geschwindigkeit aufzunehmen, aber es half alles nichts.
Da erreichte sie ein Haus, ein Unterschlupf - Sicherheit! Mit beiden Händen stiess sie die schwere Tür auf und stürzte ins Innere. Es war dunkel im Raum und sie versuchte krampfhaft ihre Augen an das wenige Licht zu gewöhnen. Sie blinzelte.
Plötzlich stand er vor ihr. Seine Augen leuchteten blau, wie zwei helle Sterne in der Nacht. Sein Mund war geöffnet, als ob er schreien wollte, aber kein Ton entkam seiner Kehle. Erschrocken strauchelte Aveline rückwärts und fiel in eine rote Flüssigkeit. Sie keuchte und spuckte. Das Wasser, in das sie gefallen war, schmeckte metallisch. Wie Blut.
Es war Blut!
...
Sie kreischte auf und mit einem Schlag war sie von ihrem Albtraum erwacht. Ihr Hals fühlte sich rau und wund an. Sie musste im Traum geschrien und sich auf die Zunge gebissen haben, denn sie schmeckte tatsächlich Blut. Um sie herum herrschte Dunkelheit, nur die seufzenden Geräusche des Waldes waren zu vernehmen. Sie setzte sich auf und wischte sich den kalten Angstschweiss von der Stirn.
Nicht schon wieder so ein Traum!
Schon die Nacht zuvor hatte sie genau dieselben Dinge geträumt. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung. Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals, solch schreckliche Angst hatte sie gefühlt. Ihre Hände streckte sie vor sich aus und beobachtete, wie das Beben mit ihren Atemzügen langsam verebbte.
Sie zog die Knie zu sich heran. Das schwarze Gewand um ihre Schultern schenkte ihr gegen diese unbarmherzige Kälte nur wenig Wärme. Sie fröstelte. Warum musste es im Norden auch so grässlich kalt sein?
Sie rieb sich die eisigen Hände und blies den Atem in ihre hohle Hand. Es half nur wenig und ihre Zähne klapperten schon. Sie sah ein, dass sie wohl oder übel versuchen musste, ein Feuer anzumachen. Nächtelang sich den Hintern abzufrieren war auf Dauer kein Zustand, den sie ertragen konnte.
Sie hatte vor lauter Zittern diese Nacht kaum einschlafen können. Und als sie es endlich geschafft hatte, wurde sie bloss wieder von dem schrecklichen Albtraum brutal in die Realität zurückgeschleudert. Seit Tagen litt sie an einem enormen Schlafmangel, der an ihrem Verstand zu nagen begann. Es war an der Zeit, ein Feuer zu machen und sich am Licht der züngelnden Flammen zu wärmen. Sie sehnte sich so sehr nach einem erholsamen Schlaf.
Am Vortag hatte Aveline gelbe Feuersteine auf dem Boden gefunden und sofort aufgelesen. Damit wollte sie draussen in der Kälte ein Feuer entfachen. Sie kramte die Steine aus der Innentasche ihres Kleides hervor und legte sie auf den Boden. Dann schob sie das Laub von der feuchten Erde zur Seite, um eine saubere Stelle zu bilden, auf welcher sie das Feuer machen wollte. Sie überlegte.
Das hier war anders als an der Feuerstelle im Wohnhaus. Dort hatte sie einen Funkenschläger, auf welchen sie den Feuerstein schlagen konnte und mit welchem das Feuermachen ein Kinderspiel war. Der Waldboden vor ihr war feucht, denn es hatte in der Nacht leicht geregnet. Sie schlug die Steine aufeinander, um zu prüfen, ob dabei ein Funke entspringen würde. Das tat es!
Sie grübelte weiter. Sie brauchte etwas, das rasch Feuer fangen würde. Eine schwierige Angelegenheit, wo doch alles um sie herum - ihre Kleidung inbegriffen - die Feuchtigkeit der Luft aufgesogen hatte. Den Kapuzenumhang würde sie sicherlich nicht für ein paar warme Stunden am Feuer opfern und sowieso triefte dieser vor Nässe. Sie tastete an sich herab und fühlte, dass der Stoff ihres Untergewandes für einen Versuch trocken genug sein müsste. Mit einem bestimmten Ruck entriss sie einen Fetzen vom weissen Leinenstoff und knüllte ihn zusammen.
Dann begann sie mit steifen Fingern die Feuersteine aufeinander zu schlagen. Jedes Mal gaben sie ein klackendes Geräusch von sich und manchmal, wenn sie den Winkel richtig traf, sprangen kleine Funken heraus. Die roten Blitze erloschen augenblicklich im feuchten Laubwerk.
„Verdammt!", fluchte Aveline.
Sie wollte nicht sofort aufgeben und klapperte die gelben Steine unaufhörlich aufeinander. Als sich die ersten Lichtstrahlen durch die Baumkronen ankündigten, warf sie die Gesteine frustriert zu Boden. Ihr Versuch, ein Feuer zu entfachen war erfolglos geblieben und jetzt tagte es schon.
„Das kann doch nicht wahr sein!", rief sie wütend auf sich selbst.
Als Antwort bekam sie nur das leise Rascheln des Windes, der durch die Blätter und Nadeln strich. Sie hatte sich tief im Wald verschanzt, fernab vom kleinen Waldweg, der den Forst von Nord nach Süd durchtrennte. Hier konnte sie niemand hören, sie war seelenallein. Immerhin war ihr von der ganzen Steinschlägerei warm geworden, da brauchte sie kein Feuer mehr.
Entnervt stand sie auf, aber bereute es sofort, denn kleine weisse Punkte flackerten vor ihren Augen auf. Nicht nur der Schlafmangel, auch der Hunger zehrte an ihrem Bewusstsein. Ein Stück Trockenfleisch und zwei Karotten hatte sie in der Eile ihrer Flucht noch eingepackt. Für eine Reise von unbestimmter Länge viel zu spärlich! Aber Zeit um darüber nachzudenken hatte sie an dem Tag herzlich wenig gehabt. Nun musste sie die Konsequenz davon spüren: Nagender Hunger.
Sie war ausserordentlich sparsam mit ihrem Proviant umgegangen. Die letzten Tage hatte sie kaum etwas davon gegessen. Stattdessen hatte sie sich im Wald an wilden Pflanzen bedient, wie der Wegerich, der hier überall wuchs. Aber auf Dauer hielten sie die Kräuter nicht satt. Sie war schon seit mindestens einer Woche unterwegs und es blieb ihr nur noch wenige Reste ihres Proviants übrig.
Aveline packte die Nahrungsmittel aus und legte sie vor sich auf das Laub. Sie hatte heute keine Lust auf bitter schmeckende Grünpflanzen. Sie wollte feste Nahrung zu sich nehmen, und die faltige Karotte und das gesalzene Fleisch waren alles, was noch übrig blieb.
Sie zögerte, aber entschied sich, das Protein zum Frühstück zu verzehren, denn das Gemüse wollte sie allenfalls für ihren schwarzhaarigen Begleiter aufbewahren. Langsam und bedacht kaute sie den letzten Bissen des gesalzenen Fleisches. Genüsslich schob sie den Brocken von der einen Backeninnenseite zur anderen, drückte es an den oberen Rand ihrer Mundhöhle und strich mit ihrer Zunge über die rauen Fasern. Es schmeckte herrlich! Nachdem das Fleisch schon beträchtlich in ihrem Mund aufgeweicht und durchgekaut war, schluckte sie es herunter.
Wenn sie doch bloss den Dolch nicht liegen gelassen hätte, dann hätte sie ein Werkzeug zur Hand gehabt, mit welchem sie nicht nur einfacher ein Feuer hätte entfachen können, sondern auch ein leichteres Spiel auf der Jagd gehabt hätte. Aber so klug war sie in der ganzen blinden Panik, mit welcher sie aus dem Wohnhaus gestürzt war, dann nicht gewesen.
Wie töricht!
Irgendwie musste sie einen Weg finden, um auf die Jagd zu gehen und an feste Nahrung zu kommen. Der Wald barg nebst den Kräutern und Beeren natürlich auch andere Nahrungsquellen: Tiere.
Eichhörnchen, Hasen und Fische könnte sie fangen, wenn sie bloss die Werkzeuge dazu hatte. Wohl oder übel würde sie versuchen müssen, mit baren Händen die Tiere einzufangen. Ein schier unmögliches Unterfangen für jemanden wie sie, der nicht im Jagen geübt war.
Seufzend zog sie den Umhang um ihre Schultern und stampfte zu Haski, der zwischen Büschen und Bäumen auf sie wartete. Er zuckte freundlich mit den Ohren, als sie sich ihm näherte. Sie grüsste ihn mit einem Tätscheln auf den Hintern und kletterte auf seinen Rücken.
„Immer der Nase nach", sagte sie auf Nordisch und so als ob er verstand, was sie gesagt hatte, trottete er los.
Sie hatte versucht, auf Fränkisch mit dem Tier zu sprechen, aber dieser widerspenstige Hengst hatte sich geweigert, ihr zu gehorchen, wenn sie ihn in ihrer eigenen Muttersprache ansprach. Widerwillig hatte sie eingesehen, dass das Biest nur Nordisch verstand und so war er das einzige Lebewesen, mit welchem Aveline noch überhaupt in dieser Zunge sprach. Er antwortete ihr nicht, das fand sie immerhin beruhigend.
Sie ritt eine Weile durch das Unterholz als sie plötzlich den Waldweg wieder kreuzte, dem sie am Vortag gefolgt war. Aveline wagte es noch nicht, sich auf den gemachten Wegen zu bewegen. Zu sehr plagte sie die Angst, in einen Hinterhalt zu geraten. Schurken und Gauner konnten überall in ihren Verstecken lungern und auf wehrlose Reisenden warten. Sie fühlte sich abseits der Wege viel sicherer, auch wenn das bedeutete, dass es die Route beschwerlicher machte und sie langsamer vorankam.
...
Ihre Mittagsrast verbachte sie am Ufer eines Baches. Haski trank genüsslich von der frischen Quelle und Aveline wusch sich das Gesicht. Ihr Magen grummelte schon wieder. Das winzige Stück Fleisch hatte nicht lange angehalten. Sie beschloss den kleinen Bach stromabwärts zu folgen, in der Hoffnung, das Rinnsal würde sich in einen grösseren Fluss verwandeln, in welchem sie vielleicht ein Fisch erspähen könnte.
Ihr Vater war ja schliesslich Fischer gewesen und irgendeine Fähigkeit, nebst seiner Tapferkeit musste sie doch auch noch von ihm geerbt haben. Sie tauchte ihre nackten Füsse in den Bach. Die Kälte pikste wie eisige Messerstiche von ihren Knöcheln hoch in ihre Waden. Es war ein schönes Gefühl und die Kühle weckte ihre Geister. Haski folgte ihr, während sie durch den seichten Bach watschelte.
Tatsächlich verwandelte sich der Wasserweg in einen immer breiter und tiefer werdenden Fluss. Aveline spazierte entlang des Ufers auf der Suche nach einer geeigneten Stelle. Sie wusste, wie man auf dem Meer Fischernetze auswarf, aber in einem Fluss ein glitschiges Vieh zu fangen, das hatte sie wahrlich noch nie gemusst - vor allem nicht mit baren Händen.
Ihr nüchterner Magen protestierte, diesmal lauter, länger und bestimmter. Sie hielt sich die Handfläche auf den Bauch, so als ob sie damit versuchte, das unüberhörbare Gurgeln zu dämpfen. Der Hunger stahl ihr nicht nur die letzten Kräfte, sondern nagte auch an ihrem Verstand. Die Gedanken flitzten nicht so zügig durch ihre Schläfen, wie üblicherweise. Ihr Kopf war langsamer geworden.
Das Gewässer mäanderte stark und da und dort nahm Aveline die Abkürzung zwischen zwei Flussschlingen. Als sie eine ruhigere Stelle an einem Gleithang entdeckte, hockte sie sich ins Kies und starrte in die dunklen Wellen. Sie wagte es kaum, zu blinzeln, aus Angst, ihr könnte den Blick auf eine Beute entgehen.
Da huschten ein paar Schatten im Wasser umher.
Fische!
Die Freude kam in ihr auf und sie begann so rasch wie möglich einige Steine in die Strömung zu legen, so dass das Wasser noch langsamer floss und eine Art Wooge bildete. Sie wollte den glitschigen Fischen den Ausweg versperren. Die kleine Mauer, die sie baute, war u-förmig und ragte aus dem Wasser. Sie hoffte, dass sie so die Fische in ihre Steinmauer treiben konnte. Sie wusste, dass sich Flussfische gelegentlich in den ruhigeren Stellen im Fluss von dem kräftezehrenden Gegenstromschwimmen ausruhten.
Sie hockte sich erschöpft wieder hin. Der Mauerbau hatte an ihren Kräften gesaugt. Jetzt flackerten schon wieder diese weissen Lichter vor ihren Augen. Sie blinzelte angestrengt und benetzte ihr Gesicht mit Wasser. Nun galt es Geduld zu haben.
Fischen ist die tadelloseste Art des Nichtstun. Die Worte ihres Vaters hallten in ihrem Kopf und sofort erschien bei dem Gedanken an ihn sein Bild vor ihr. Wie er auf ihrem Fischerboot auf dem Ärmelkanal die Netze auswarf und sich dann genüsslich ins Boot legte, um ein Nickerchen zu machen und den Möwen beim Jauchzen zuzuhören.
Aveline lächelte. Sie wusste, dass ihr Vater jetzt gerade stolz auf sie sein würde, wenn er sah, welch tolle Fischfalle sie gebaut hatte. Sie musste nur noch funktionieren - ihre Falle. Ihr Magen würde es ihr jedenfalls danken.
Während Haski oberhalb des Flussbettes graste, sass Aveline da und starrte in die gluckernde Wasseroberfläche.
...
Nach einer halben Ewigkeit bewegte sich endlich einer der kleinen Schatten im Wasser in die Richtung ihrer Falle. Aveline hob überrascht die Augenbrauen und wartete. Ihr Herz pochte schneller, denn die Aussicht auf ein potenzielles Abendmahl - so klein es auch sein möge - war aufregend. Der kleine Schatten zuckte nervös, aber liess sich dann sachte in die ruhige Stelle treiben.
Aveline wartete einige ungeduldige Atemzüge und stand dann auf. Vorsichtig entfernte sie sich von ihrer Falle und watete bis zu den Knien ins Wasser. Mit langsamen Bewegungen zog sie ihre Füsse Schritt für Schritt näher zur Mauer heran, den Blick fest auf den dunkelgrünen Schatten im Wasser vor ihr gerichtet. Der Fisch bewegte sich kaum noch, er schwebte regungslos an derselben Stelle.
Nur noch wenige Schritte trennten Aveline von dem Fisch. Nun stand sie so nah an ihrer Falle, dass der Fisch quasi eingekesselt war. Sie atmete einmal tief aus und mit einem beherzten Griff schlug sie ihre Arme ins kalte Wasser. Leider griff sie daneben und der dunkle Schatten zuckte davon.
„Oh, verflucht!", rief sie enttäuscht.
Die ganze Warterei war umsonst. Ihr Bauch antwortete mit einem empörten Grummeln.
„Ach, halt die Klappe!", zischte sie ihr eigenes Organ an und watete frustriert aus dem Fluss. „Dann eben nicht."
Sie gab auf, denn mehr Zeit als nötig wollte sie nicht mit hoffnungslosen Versuchen vergeuden. Sie hatte noch immer einen weiten Weg vor sich, den sie so rasch wie möglich hinter sich bringen wollte. Irgendwo auf ihrer Reise würde sie wieder die Gelegenheit haben, Nahrung zu finden. Aveline rechnete sogar damit, dass sie in einem Dorf oder in einer Stadt eine Rast einlegen könnte und auf einem Marktplatz ihren Proviant mit den Münzen aufstocken würde. Bis dahin musste sie nun mal hungern. Das würde sie schon irgendwie schaffen.
Haski blickte verwundert auf, als sie das Flussbett hochkraxelte und sich an seine Mähne warf.
„Komm, lass uns weiterziehen", flüsterte sie dem Hengst ins Ohr und zog sich mit Mühe und Not auf seinen hohen Rücken.
Der Hengst trabte los während die zwei Augenpaare, die Aveline und das Pferd die ganze Zeit von ihrem Versteck aus beobachtet hatten, wieder unauffällig im Wald verschwanden.
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