44 - Brachmond
An der Seine, Westfränkisches Reich
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Nie in seinem Leben hätte Nouel gedacht, dass er so viele Dinge auf einmal fühlen konnte. Er war zutiefst erschrocken, erleichtert und unbeschreiblich glücklich, seine Schwester dort stehen zu sehen. Sie trug einen dunklen Kapuzenumhang, der an ihrer Vorderseite halb geöffnet war und ein merkwürdig aussehendes, grünes Kleid darunter offenlegte. Ihr Gesicht war ebenfalls vor Schock erstarrt.
„Wer ist das?", hörte er noch Hamo hinter sich fragen, da war er schon losgerannt.
Er strauchelte über die Wurzeln auf dem Waldboden und stolperte seiner Schwester entgegen.
„Nouel!", rief sie und jetzt sah er, wie sich ihr trauriges Gesicht zu einem Lächeln erwärmte.
Auch sie lief auf ihn zu, aber sie hinkte. Stark sogar. Mit einem dumpfen Schlag prallte sein Körper an ihren und er schlang seine Arme um sie. Sie war dünn geworden. Oder vielleicht bildete er sich das nur ein. In seinen Erinnerungen war seine Schwester nicht so abgemagert gewesen. Er drückte seinen Kopf fest an ihre Brust.
„Aveline", murmelte er.
Das Beben ihres Körpers wurde von seinem abgefedert. Sie schluchzte und klammerte sich eisern an ihn. Auf seinem Hinterkopf spürte er ihre heissen Tränen. Unendlich lange hielten sie einander in den Armen, als befürchteten sie, dass sie sich wieder verlieren könnten, wenn sie losliessen.
Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und schob ihn vorsichtig von sich, um ihm ins Gesicht zu blicken. Die zwei goldenen Edelsteine, welche das wunderschöne Antlitz seiner Schwester schmückten, strahlten hell. Nouel merkte erst jetzt, wie sehr sie ihm gefehlt hatte. Wie sehr er dieses sanftmütige Gesicht und huldvolle Lächeln vermisst hatte.
Allerdings fiel ihm etwas auf. Ihre Gesichtszüge hatten sich verändert oder wenigstens kam es ihm so vor. Während er dem sanften Bogen ihrer Brauen mit seinen Augen folgte, entgingen ihm die tiefen Furchen auf ihrer Stirn und die dunklen Augenringe nicht. Ihr Lächeln konnte die ganze Welt erstrahlen lassen, aber dieses helle Licht, das sie aus ihrem tiefsten Inneren - aus ihrer Seele - aussendete, war schwächer geworden. Es leuchtete zwar noch durch ihre langen Wimpern, aber trüber. Nouel gefiel das überhaupt nicht.
„Ich habe dich gefunden", sagte Aveline und strich ihm über die Wangen. „Ich habe dich endlich gefunden!"
„Was ... wie... wo warst du die ganze Zeit?"
Nouel wusste nicht, welche Frage er als erstes stellen wollte. Keinen klaren Gedanken konnte er fassen, so verwirrt schien er noch über diese Überraschung zu sein. Hamo und Lapin hatten ihn eingeholt und standen neben ihnen, leicht irritiert. Nouel vermutete schon, dass sie ebenso viele Fragen haben mussten, wie er.
„Wer ift daf?", lispelte Lapin.
Nouel löste sich von Aveline und wandte sich seinen Freunden zu.
„Das ist meine Schwester", sagte er stolz.
Er legte seine Hand auf ihre Schulter, um selbst nochmal sicherzustellen, dass sie tatsächlich real war. Sie war es. Sie stand neben ihm und atmete dieselbe Luft wie er.
Die überraschten Gesichter seiner Freunde liessen ihn schmunzeln.
„Deine Schwester?!", fragte Hamo sogleich.
Nouel nickte energisch. Der Anführer musterte sie neugierig und Nouel konnte sehen, wie seine Augen zwischen seinem und dem Gesicht von Aveline hin und her huschten, auf der Suche nach der geschwisterlichen Ähnlichkeit.
„Und wer seid ihr?", kam dann die Frage von Aveline selbst.
Lapin errötete sofort und hob eine Hand an seinen offenen Mund. Er schien sich in der Anwesenheit der gut aussehenden grossen Schwester für seine körperliche Missbildung zu schämen. Derweilen streckte der Anführer Aveline grinsend die Hand hin.
„Ich bin Hamo. Der Anführer der Gruppe."
„Aveline", antwortete sie mit einem höflichen Lächeln auf den Lippen.
Da Lapin plötzlich so schüchtern geworden war und sich beinahe schon hinter Hamo stellte, um sich zu verstecken, beugte sie sich leicht vor, um auch ihn zu begrüssen.
„Und wer bist du?", fragte sie mit ihrer üblichen Sanftheit.
Ihre Stimme klang so kordial und gutmütig, dass sie selbst einem Toten das Herz erwärmen konnte. Dem kleinen Buben jagte es aber nur noch mehr die Röte in die Backen. Nouel hatte seinen Freund noch nie so verlegen gesehen. Normalerweise war er der Mutigste von allen in der Gruppe.
„L-Lapin", nuschelte er durch die Hand, die noch immer über seiner gespaltenen Lippe lag.
„Freut mich sehr, euch kennenzulernen", beendete Aveline die Vorstellungsrunde.
Nouel konnte seinen Blick einfach nicht von ihr ablassen. Es war so unglaublich, dass sie neben ihm stand. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, dass seine Freunde jemals seiner Schwester begegnen würden. Es machte ihn aussergewöhnlich stolz, dass er seinen beiden Bandenfreunden ein Familienmitglied - seine grosse Schwester - vorstellen durfte, wo er doch die ganze Zeit gedacht hatte, sie sei gestorben.
Für einen kurzen Augenblick legte sich eine peinliche Stille über sie alle, denn sie wussten gar nicht wirklich, was man noch sagen konnte.
„Wo warst du die ganze Zeit?", versuchte es Nouel mit der ersten Frage.
„Was machst du mitten im Wald?", kam von Hamo.
„Warum trägft du fo komifffe Kleidung?", fragte Lapin.
Sie lachten, als sie merkten, dass sie alle gleichzeitig gesprochen hatten. Nouel spürte, wie Hamo und Lapin ebenfalls brennend daran interessiert waren, mehr über seine Schwester zu erfahren. Aveline blickte lächelnd von einem Bubengesicht ins nächste.
„Wart ihr nicht gerade auf dem Weg irgendwohin? Was haltet ihr davon, wenn ich euch begleite? Dann kann ich euch alles erklären."
Sie tauschte einen eindringlichen Blick mit Nouel aus, was nur er verstand. Das konnten sie schon immer, sich zu verständigen, ohne überhaupt ein Wort laut aussprechen zu müssen. Nouel erkannte, dass es viel gab, was sie zu erzählen hatte und so kam er ihrem Bedürfnis nach, nicht mitten im Wald stehen zu wollen, sondern sich auf den Weg zu machen.
Hamo nickte, denn ihr ursprünglicher Plan war sowieso, den Wikingerschatz auszugraben, der unweit von dem kleinen Bach, an dem sie standen, im Boden versteckt war. Sie wollten den Säcken mehr Silbermünzen entnehmen, um sie gegen ein Mittagsmahl zu tauschen.
Nouel nahm seine Schwester an der Hand. Der Hund Garou sprang schon voraus, denn er kannte den Weg. Nouel bemerkte aber, dass der Rüde immer wieder zurückblickte, wie wenn es im Wald hinter ihnen noch etwas gäbe, das seine Aufmerksamkeit beanspruchte. Nach einem kurzen Blick zurück, zuckte Nouel aber dann bloss mit den Schultern. Da war nichts.
Gemeinsam marschierten sie durch den Wald. Nouel konnte es nicht unterlassen, andauernd zu seiner Schwester zu schielen, denn sein Verstand wollte es noch immer nicht wahrhaben, dass sie tatsächlich neben ihm ging. Immer wieder schenkte sie ihm ihr Lächeln, wenn sich ihre Augen trafen. Ein warmes Lächeln, das aber komischerweise halbherzig wirkte. Eine Traurigkeit schwang mit den freundlichen Gesichtszügen mit, aber Nouel war sich nicht sicher, ob er sich auch einfach nur getäuscht hatte.
...
Die Gruppe erreichte einen Weg, der in einer langgezogenen Kurve durch den dichten Wald führte. Während sie gemütlich der Strasse folgten, der Geschwindigkeit der hinkenden Aveline angepasst, begann sie zu berichten.
Sie erzählte den Buben von ihrer Odyssee vor einem Jahr über die Nordsee und wie sie in einem kleinen Küstendorf im hohen Norden unter Normannen als Sklavin leben musste. Sie schilderte, wie sie die nordische Sprache mit der Hilfe eines Freundes gelernt und das Vertrauen der Normannen mit ihren Heilkräften gewonnen hatte. Als sie ihnen von ihrem gescheiterten Fluchtversuch und ihrer damit einhergehenden Verkrüppelung berichtete, schluckte Nouel leer. Seine arme Schwester hatte solch schreckliche Dinge erleben müssen und es tat ihm leid, das zu hören.
Bei der Schilderung ihrer Freilassung als Sklavin und ihrer Aufnahme in die nordische Gesellschaft rief der schüchternen Lapin in Ehrfurcht auf:
„Die haben dich fu einer Wikingerfrau gemacht?!"
Sie nickte, freundlich lächelnd und fügte an, dass sie sogar zu einer renommierten Heilerin geworden war, weil man ihr diese Möglichkeit gegeben hatte. Nouel entging nicht, dass in ihren Augen ein kleiner heller Funke schimmerte. Diese Erinnerung schmerzte sie nicht, das war deutlich.
Dann verdunkelte sich ihr Gesicht allerdings, als sie davon sprach, wie sie plötzlich von dem Ort hatte gehen müssen und die Flucht ergriffen hatte. Ganz alleine war sie bis ins Frankenreich gereist, um Nouel zu suchen. Er fand es bemerkenswert, wie viel Tapferkeit seine Schwester in nur einem Jahr an den Tag gelegt hatte und er hätte in dem Moment nicht stolzer sein können, ihren Bruder zu sein.
Er selbst erzählte ihr zwar von der schwarzen Bande, aber liess das Detail aus, dass es sich um eine Diebesbande handelte. Erst als Hamo vom erfolgreichen Coup gegen die Wikinger zu erzählen begann, realisierte Nouel, dass Aveline schon ahnen musste, was der eigentliche Zweck der Bande war. Ein bisschen schämte er sich dafür. Dass er im Gegensatz zu ihr nicht tapfer gewesen, sondern zu einem Dieb geworden war. Je länger sie über die Bande sprachen, desto stiller wurde Nouel.
Die Buben merkten nicht, wie ihr haariger Freund Garou plötzlich die Ohren spitzte und seinen Blick nach hinten richtete. Zu sehr waren sie in ihre Gespräche vertieft. Lapin und Hamo bearbeiteten seine Schwester mit Worten und sie hörte freundlicherweise zu und nickte ab und an begeistert. Es freute Nouel, zu sehen, dass die beiden seine Schwester mochten.
Garou bliebt stehen und winselte. Aber Hamo war zu sehr darauf fokussiert, bei Nouels grosser Schwester Eindruck zu schinden, dass er es schlichtweg übersah. Erst als sie die Vibrationen des Bodens in den Knien spürten und es schon zu spät war, um auszuweichen, merkten sie, dass zwei Reiter von hinten ungebremst heranpreschten. Die Gruppe wurde auseinandergerissen, als die Männer durch sie hindurchritten.
„Nouel, Vorsicht!", kreischte Aveline entsetzt.
Glücklicherweise reagierte er gerade noch rechtzeitig und wich dem grossen Hengst, der haarscharf an ihm vorbeibrauste, aus. Die Reiter galoppierten weiter, verlangsamten aber dann ihre Pferde und machten weiter vorne kehrt. Als Nouel deren Gesichter sah, sackte ihm das Herz in die Hose.
„Wikinger!", kreischte Lapin schrill.
Die Normannen ritten wieder an und kamen in einer bedrohlichen Geschwindigkeit auf die Gruppe zugerast. Im Galopp zogen sie ihre Waffen und schwangen diese in der Luft. Sie zeigten überhaupt keine friedlichen Absichten.
„Schnell! In den Wald!", schrie Hamo.
Der Anführer reagierte von allen am schnellsten und sprintete mit Garou an den Fersen ins Unterholz. Lapin folgte ihm sogleich. Dort konnten ihnen die Wikinger mit ihren Pferden nur schwer folgen, denn die Büsche und Sträucher würden eine Verfolgungsjagd sehr beschwerlich machen. Im Wald waren sie sicherer als auf dieser Strasse.
Nouel packte seine Schwester am Unterarm und wollte sie mit sich reissen, aber sie blieb stehen.
„Warte! Ich kenne die beiden!", sagte sie.
Er blickte sie nur ungläubig an. Die Panik liess sein Blut schneller durch die Adern pumpen.
„Was?!"
„Ich habe denen meine Heilkräuter verkauft. Die sind harmlos", sagte sie und drückte seine Hand, wie wenn sie ihm damit sagen wollte, dass sie wusste, was sie tat.
Nouel vertraute ihr, auch wenn er sie seit so langer Zeit schon nicht mehr gesehen hatte, sie war schliesslich seine grosse Schwester. Er blieb mit ihr stehen, selbst wenn die Wikinger keine Anstalten machten, langsamer auf sie zuzureiten und sie ihnen locker die Knochen brechen könnten, wenn sie ihre Pferde nicht gleich stoppten. Trotz der unglaublich grossen Furcht, die er verspürte, blieb er standhaft.
Aveline lief entschlossen in die Mitte des Waldweges, hob ihre Arme in die Luft und rief etwas auf Nordisch, das Nouel nicht verstand. Ihre Stimme klang anders.
„Nej! Vente!"
Der blonde Wikinger auf dem dunkelbraunen Pferd grinste beim Anblick von Aveline nur noch breiter und Nouel meinte, ihn sogar lachen zu hören. Der rothaarige Normanne auf dem weiss gefleckten Pferd verlangsamte das Tempo seines Tieres und senkte die Waffe. Immerhin schien Avelines Handlung einen von den beiden zu besänftigen.
Aber Nouel mochte den Ausdruck nicht, der sich auf dem Gesicht des dünnen Blonden breit machte. Er wirkte bösartig und unheilvoll, wie wenn er gekommen wäre, um sie zu fressen. Die Bosheit war seinen kleinen Augen deutlich anzusehen.
Die Pferde kamen vor Aveline zum Stehen. Sie streckte ihre Arme noch immer in die Höhe.
„Aveline. Sikke en overraskelse, at se dig her!", grinste der böse Blonde.
Nouel verstand nicht, was seine Schwester mit den beiden sprach, aber sie schienen hitzige Worte miteinander auszutauschen. Es klang merkwürdig und Nouel konnte selbst unter der grössten Anstrengung nicht nachvollziehen, worüber sie diskutierten. Er beobachtete weiterhin angespannt jegliche Regungen und Veränderungen in der Mimik der Wikinger. Seine Muskeln zitterten, allzeit bereit, davonzuspringen, wenn es das erforderte.
Aveline sagte irgendetwas, das wie eine Bitte klang. Daraufhin zuckte der dünne Hüne nur mit den Schultern und plötzlich wanderte sein Blick weg von Aveline und blieb auf Nouel hängen. Dieser witterte die Gefahr. Sein Magen drehte sich um und die Übelkeit kroch ihm die Speiseröhre hoch.
Er musste schleunigst von hier weg, das spürte er in jeder Zelle seines Körpers. Und als er sich gerade umdrehen wollte, um seinen beiden Freunden auf der Flucht in den Wald hinein zu folgen, sprang der Hüne vom Pferd, die Axt zielstrebig umgriffen, einen tödlichen Blick aufgesetzt.
„Nej, Kjetill! Lad ham!", hörte Nouel seine Schwester rufen, aber da stürzte sich der Hüne bereits auf ihn.
Aveline schrie entsetzt auf. Nouel nahm seine Beine in die Hand und sprintete davon. Mit stolpernden Schritten rannte er Hamo und Lapin hinterher. Die blanke Angst in den Knochen, denn dieser Wikinger war gekommen um ihn zu töten. Da konnte selbst seine grosse Schwester ihm nicht mehr helfen. Es galt jetzt zu überleben und seine Instinkte zuckten ihm durch die Nervenbahnen, pumpten sein Blut durch den Körper. Noch nie in seinem Leben war er so schnell gerannt.
Innert kürzester Zeit hatte er Hamo und Lapin eingeholt. Von Garou war keine Spur mehr zu sehen. Der Rüde musste vor ihnen bereits das Weite gesucht haben. Zu dritt rannten sie so schnell sie konnten durch den Wald und wichen tiefliegenden Ästen aus, die ihnen das Gesicht zerkratzen wollten.
Sie waren aber nicht schnell genug.
Hinter ihm hörte Nouel schon die dumpfen Schläge von Pferdehufen, die auf den Boden prallten. Der rothaarige Wikinger liess sein Pferd ohne Rücksicht auf Verletzungen durchs Unterholz galoppieren. Dem schien fürs Töten nichts zu schade zu sein.
Nouel erkannte schnell, dass sie zu Fuss nicht davonrennen konnten. Sie mussten sich wehren, das sagte ihm sein Bauchgefühl. Er verlangsamte seinen Lauf und liess den Blick durch die Bäume streifen. Dann fand er, wonach er suchte.
Mit einem herzhaften Sprung klammerte er sich an einen Ast und liess seinen Körper zu Boden fallen, sodass der Ast unter dem Gewicht nachgab. Beide Hände klammerten sich an die notdürftige Waffe, während er stehen blieb und die Ankunft der Mörder erwartete.
Das weiss gefleckte Pferd rauschte an ihm vorbei und rannte den anderen beiden Buben hinterher, die nicht stehengeblieben waren. Nouels Herz schlug ihm bis zum Hals, als er den blonden Hünen erkannte, der schnellen Schrittes durchs Unterholz in seine Richtung hastete, die Axt in der Hand und dieses bestialische Grinsen auf den Lippen. Wenn das sein Tod sein würde, dann wollte Nouel sich mit aller Kraft, die er besass, dagegen wehren. Solange er konnte.
Von Weitem hörte er die schrille Stimme seiner Schwester, die verzweifelt nach ihm rief.
„Nouel!"
Der Wikinger kam angerannt, seine Waffe hoch in die Luft gehoben, bereit, den tödlichen Schlag auszuführen. Nouel bewegte sich nicht und wartete, bis der Normanne näher gekommen war, dann duckte er sich und knallte dem Wikinger den Ast in die Schienbeine.
Das Holz krachte und die Knie des Hünen gaben nach. Nouels primitive Waffe zerbarst an den Beinen des Wikingers, so dass die Splitter in alle Richtungen flogen. Der Hüne fiel auf die Knie und liess ein lautes, frustriertes Knurren von der Brust. Der Wahn blitzte in seinen hellen Augen.
Verzweifelt blickte sich Nouel nach einer weiteren Waffe um, denn seine war zerstört. Aber auf dem Waldboden lag nichts, das er hätte gebrauchen können. Er wollte wieder davonspringen, da packte ihn der Hüne am Fuss und brachte ihn zu Fall. Nouel schrie panisch auf, als der Wikinger ihn am Knöchel zu sich heranzog.
Der Hüne rappelte sich auf und drückte seinen Fuss auf Nouels Brust. Ein hämisches Lachen liess der Wikinger von sich hören, als er den Griff um seine Axt verstärkte und zum Schwung ausholte. Nouels Augen weiteren sich.
Die Klinge sauste herab und hätte sich direkt in seine Brust versenkt, wäre da nicht Garou gewesen, der dem Hünen in die Wade biss. Der Hund war aus dem Nichts wieder aufgetaucht und grub seine Zähne tiefer ins Fleisch des Wikingers.
Dieser brüllte wütend und kickte Garou in die Brust. Der Hund jaulte auf und verzog sich winselnd ins Gebüsch. Er hatte Nouel damit Zeit gegeben, sich aus der misslichen Lage zu befreien. Der Bub richtete sich auf und stolperte davon.
„Nouel, auf den Baum!", hörte er seine Schwester schreien.
Er drehte sich um und sah, wie Aveline sie endlich hinkend aufgeholt hatte. Sie steuerte direkt auf den Hünen zu, der sich schmerzend die Wade rieb. Garou musste richtig gut zugebissen haben, denn die Hand des Wikingers war voller Blut.
„Geh da weg, Aveline!", rief Nouel zurück.
„Auf den Baum habe ich gesagt!"
Ihre Stimme klang anders. So kannte er sie nicht. So befehlshaberisch, so herrisch. Aber Nouel spürte, dass seine Schwester wissen musste, wovon sie sprach. Sie hatte schliesslich mit diesen Monstern gelebt. Sie musste wissen, wie man sie am besten bekämpfte.
Mit einem herzhaften Sprung und gekonnten Griffen kletterte Nouel den nächstgelegenen Baum hoch. Die tiefliegenden Äste halfen ihm dabei, möglichst schnell und problemlos an Höhe zu gewinnen. Auf einem dicken Ast setzte er sich hin und beobachtete das Geschehen unter sich. Seine Augen suchten den Waldboden verzweifelt nach seinen beiden Freunden ab.
Wo Hamo und Lapin bloss steckten?
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Während sich ihr Bruder im Baum verschanzte, schritt Aveline zielstrebig auf Kjetill zu. Sie war fassungslos über seine Mordlust. Bevor er sich wie eine Bestie auf ihren Bruder gestürzt hatte, hatte sie ihn noch mit Worten bearbeitet, denn sie hatte geglaubt, die Vernunft diesem Widerling einreden zu können. Offensichtlich musste sie sich getäuscht haben. Dieser Wikinger war verrückt und von der Tötungswut getrieben.
„Lass ihn in Ruhe!", zischte Aveline Kjetill in den Rücken, was ihn dazu veranlasste, sich zu ihr umzudrehen.
Sein Bein blutete und in seinem Gesicht spiegelte sich der Zorn. Sie stand vor ihm, die Arme vor sich verschränkt, ihr Blick genau so tödlich, wie seiner. Sie spürte keine Furcht. Nicht vor diesem elenden Kerl.
„Du hast mir nichts zu sagen!", knurrte er und schritt auf sie zu.
Aveline wich jedoch nicht zurück, selbst wenn Kjetill mehr als zwei Köpfe grösser war als sie und weitaus breiter. Ein Normanne konnte ihr keine Angst mehr einjagen, selbst kein blutdurstiger.
„Ich habe gesagt: Lass meinen Bruder in Ruhe."
Er legte den Kopf schief, so dass das Licht auf seinen leichten Flaum über der Oberlippe fiel. Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, was seine Zähne darunter zum Vorschein brachte.
„Oder was?", fragte er und kam ihr noch näher.
Nun stand er direkt vor ihr und blickte auf sie herab. Sie lieferten sich ein erbittertes Blickduell. Aveline wollte seinen gruseligen Augen nicht ausweichen. Diese Genugtuung würde sie ihm nicht geben wollen. Sie starrte ihn unentwegt an, während sie fieberhaft überlegte, was sie zur Selbstverteidigung gegen den Normannen tun könnte.
Die Kampftechniken, die ihr einst Hjalmar beigebracht hatte, lagen irgendwo tief in ihrem Gedächtnis vergraben. Die Übung fehlte ihr. Sie wusste nicht mehr, wie sie den Hünen hätte packen können, um ihn zu Boden zu bringen.
Da kam ihr plötzlich ein Gedanke. Ausgerechnet eine Hurenweisheit von Faralda musste ihr in den Sinn kommen. ‚Hältst du die Eier eines Mannes zwischen den Fingern, hast du sein Leben in der Hand'. Sie lachte innerlich und griff beherzt zu.
Kjetills Augen weiteten sich vor Erschrecken und er quiekte, als sich ihre Hand in seinem Schritt vergrub. Damit hatte der gestandene Krieger nicht gerechnet.
„Oder ich reiss dir ein Ei ab", zischte sie und drückte zu.
Er stöhnte vor Schmerzen auf und krümmte sich. Aveline erhöhte den Druck zwischen ihren Fingern. Sein Kopf war ihrem Gesicht ganz nahe, die langen blonden Strähnen hingen ihm ins Gesicht.
„Das wirst du nicht", knirschte er mit den Zähnen.
„Oh doch! Nur ein kleiner Ruck", hauchte sie und setzte ein süffisantes Lächeln auf.
Der laute Schrei von Emmik, der mit den anderen beiden Buben kämpfte, liess sie allerdings aufzucken und Kjetills Hoden glitten ihr aus der Hand.
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Nouel sass wie erstarrt auf dem grossen Ast und beobachtete den hartnäckigen Kampf, den sich seine zwei Freunde gegen den Rotschopf lieferten. Lapin war gerade auf den Rücken des Wikingers gesprungen und riss ihm gewaltsam Haarbüschel aus. Der Wikinger schrie vor Schmerzen und fuchtelte wild mit seinem freien Arm. Währenddessen zerrte Hamo am anderen Arm, im hartnäckigen Versuch, dem Normannen die Waffe aus der Hand zu schütteln.
Mit einer heftigen Bewegung warf der Rotschopf Lapin von seinem Rücken, so dass dieser hart auf den Boden aufschlug und benommen liegen blieb. Nouel sah, wie Hamo wütend in den Arm des Normannen biss, dieser ihm aber dann seine Hand ins Gesicht donnerte. Hamo taumelte rückwärts und hielt sich seine Hände vor die blutende Nase. Er hustete.
Nouels Herz blieb stehen, als er sah, wie der rothaarige Normanne sich dem am Boden liegenden Lapin zuwandte. Der kleine Bub musste das Bewusstsein verloren haben, denn er regte sich nicht mehr.
„Lapin!", schrie Nouel, aber von seiner Position aus konnte er seinem Freund nicht helfen.
Es war aussichtslos. Hamo schien realisiert zu haben, dass der Rothaarige drauf und dran war, seinem Freund den Kopf abzuschlagen und stürzte sich auf ihn, im kläglichen Versuch, den robusten Wikinger von seinen Beinen zu fegen. Der magere Bursche knallte aber nur gegen die Brust des Wikingers, der spottend auflachte und ihn zur Seite schubste.
Aber plötzlich wandte sich der Wikinger Hamo zu, anstatt sich dem nach Atem ringenden Lapin am Boden zu widmen. Er hob seine Waffe weit über den Kopf, denn er wollte mit richtig viel Schwung den tödlichen Schlag ausführen, da brauste aus dem Nichts eine weitere Axt durch die Luft und traf ihn mitten in der Brust. Er blickte entsetzt auf die Waffe, die ihm im Fleisch steckte und senkte die Arme.
Nouel lehnte sich keuchend nach vorne, um genauer zu sehen, was da gerade passiert war.
Woher war diese Axt bloss gekommen?!
Weder Hamo noch Lapin besassen eine, noch wären die imstande gewesen, die so gekonnt zu werfen. Nouel sah, wie Hamo verwirrt hinter sich blickte. Eine grosse Gestalt stampfte auf den Jungen zu. Blond und kraftvoll. Ein Krieger.
Ein dritter Wikinger.
Nouel verstand die Welt nicht mehr, konnte seine Augen aber nicht von dem blonden Wikinger dort unten ablassen, der gerade dazugekommen war und seinem eigenen Kollegen eine Axt in die Brust gehackt hatte.
Plötzlich realisierte er es.
Das war derselbe Wikinger, den sie auf dem Schiff angetroffen hatten! Der Kerl, der sie laufen gelassen hatte. Ob er zurückgekehrt war, um sich die Schätze zurückzuholen? Nouel schüttelte ungläubig seinen Kopf. Das machte alles gar keinen Sinn.
Hamo blieb wie angewurzelt stehen, zu ängstlich und schockiert, um wegzutreten.
Der rothaarige Wikinger röchelte und schwankte auf seinen Beinen. Noch war er nicht tot. Noch stand dieser Kerl und atmete Luft durch seine Lungen.
Der dritte Wikinger kam näher, hob seine Hand an Hamos Brust und schob ihn sanft zur Seite. Hamo strauchelte rückwärts und fiel plumpsend auf seinen Hintern. Sein Mund war vor Fassungslosigkeit noch immer weit geöffnet.
Nouels Augen klebten förmlich auf den starken Schultern dieses neuen Wikingers. Sein Gesichtsausdruck war selbst von der Höhe aus zu erkennen. Der Zorn war unverkennbar. Dieser Mann brodelte vor Wut.
Es dauerte ein paar Augenblicke, bis der Rothaarige merkte, dass er sich noch bewegen konnte. Und wie wenn er entschieden hatte, jetzt noch nicht zu sterben, riss sich der Kerl die Axt selbst aus der Brust und stürzte auf den blonden Wikinger.
Die zwei Männer lieferten sich einen erbitterten Kampf. Hamo kroch währenddessen zu Lapin und zog den Buben an der Kleidung weg von dem Gefecht.
„Kjetill, lad mig gå!", hörte Nouel plötzlich seine Schwester unter sich kreischen.
Nouel war von der Szene mit Hamo, Lapin und dem rätselhaften Wikinger so sehr abgelenkt gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie der Hüne seine Schwester am Hals gepackt hatte und sie gerade würgte. Ihre Finger krallten sich verzweifelt in seine Unterarme, im hoffnungslosen Versuch, seine Finger von ihrem Hals zu zerren. Aber er war deutlich stärker als sie und drückte nur noch mehr zu. In seinen Augen spiegelte sich der Irrsinn.
„Lad mig!", keuchte Aveline.
Sie kratzte ihm die Arme blutig, aber das schien den Wikinger nicht zu stören. Er zog sie am Hals mit sich und drückte sie an den Baumstamm, an welchem Nouel hochgeklettert war. Mit einem höhnischen Grinsen blickte der Wikinger zu Nouel hoch. Er wollte scheinbar, dass ihm der Junge dabei zuschaute, wie er seine Schwester um ihr Leben brachte.
„Glem det!", knurrte der Hüne und presste seine langen Finger fester um ihren zierlichen Hals.
Aveline keuchte hörbar. Nouel spürte, wie die Verzweiflung in ihm hochstieg. Er kletterte einige Äste nach unten, denn er wollte ihr zur Hilfe kommen. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Seine Schwester starb gerade vor ihm weg!
Aveline legte ihren Kopf in den Nacken und blickte zu ihm hoch. Sie konnte nicht sprechen, denn die Luft ging ihr aus. Aber in ihren rot unterlaufenen Augen konnte Nouel ihr 'Nein' ganz deutlich sehen. Sie wollte nicht, dass er runterkam.
Nouels Herz raste, als er sah, dass der Normanne sie hochhob, sodass ihre Füsse den Boden nicht mehr berührten. Sie hustete und röchelte.
Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er die angeschwollene Ader an ihrem Hals sah, die hervortrat, weil das Blut nicht mehr durch ihre Hauptschlagader abfliessen konnte; wie sie sich immer schwächer gegen den Mann wehrte und sich ihre Fingernägel nur noch ergeben in sein Fleisch bohrten. Er wollte sogleich runterspringen aber da fixierte sie ihn mit ihren weit aufgerissenen Augen. Nein, formte sie mit ihren Lippen.
Sein Herz blieb stehen, als er sah, wie sich ihre Augen nach hinten rollten und ihre Arme schlaff neben den Körper fielen. Sie sackte in sich zusammen.
Erst als ihre Muskeln nicht mehr zuckten liess der Hüne von ihr ab und stiess ihren Körper zu Boden.
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„Aveline!", schrie Rurik, als er sah, wie sie umkippte.
Er hatte nicht gesehen, was zwischen den beiden vorgefallen war, nur dass Aveline nun plötzlich auf dem Boden lag. Sie regte sich nicht mehr.
Nein!
Ruriks Axt fiel ihm aus den Händen und er wollte sich sogleich auf Kjetill stürzen, da riss ihn Emmik zu Boden. Die zwei rollten sich auf der Erde und rangen miteinander. Der Rothaarige wehrte sich mit Händen und Füssen, selbst mit klaffender Wunde auf der Brust. Er war zäh, denn ein solcher Axtschlag hätte eigentlich jeden normalen Menschen sofort nach Asgard befördert. Nicht aber Emmik. Er war kompakt und robust, da würde man schon mehr Kraft aufwenden müssen, um ihn auszuschalten.
Rurik stiess Emmik von sich und rappelte sich wieder auf. Entsetzt starrte er in Avelines Richtung, in der Hoffnung er könne eine Bewegung ausmachen, ihre Brust sich heben und senken sehen. Aber da war nichts. Keine Regung, kein Lebenszeichen, kein Dunst vor ihrem Gesicht. Sie atmete nicht mehr!
Der Anblick, wie Kjetill ihren Körper unsanft mit dem Fuss kickte und dabei zufrieden die Hände abrieb, so als wäre dieser stolz auf seine Tat, weckte das Biest in Ruriks Innerem. Die Muskeln spannten sich an, während der abgrundtiefe Hass durch seine Adern strömte und sein Herz schmerzhaft gegen die Rippen donnerte. Seine Gedanken setzten aus. Das Blut rauschte ihm in den Ohren, sein Atem wurde schneller.
Nein!
Er brüllte so laut, dass seine Stimme durch den Wald geschleudert wurde und die ganze Welt in Aufruhr brachte. Entschlossen hob er seine Axt vom Boden auf und beförderte sie, ohne ein letztes Mal mit der Wimper zu zucken, Emmik in den Hals. Das Blut spritzte in alle Himmelsrichtungen.
„Scheiss Verräter!", schrie Kjetill, als er das sah.
Emmiks Arme zuckten. Rurik schwang seine Axt ein weiteres Mal, blind vor Raserei und hackte sie in Emmiks Nacken, so dass die Knochen brachen. Beim dritten Axtschlag trennte sich der Kopf ganz vom Körper und hinterliess eine riesige Blutlache, die langsam in der Erde versickerte. Rurik keuchte und stöhnte laut, seine Hände zitterten vor Wut.
Seine Aveline war ihm genommen worden. Dafür würden sie bezahlen müssen!
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Mit Entsetzen hatte Nouel die Tötung des Rothaarigen beobachtet. Der dritte Wikinger stand schwer atmend über dem Leichnam und schien nicht zu bemerken, wie der Hüne, welcher Aveline gewürgt hatte, sich davonmachte.
Der Riese zog Aveline an den Füssen mit sich, weg von dem Geschehen. Der Kerl wollte sich vom Acker machen! Nouel sprang geistesgegenwärtig vom Baum und strauchelte dem Hünen hinterher.
Was wollte dieser Kerl mit seiner Schwester?
„Aveline!", rief er verzweifelt, aber er wusste, dass er keine Antwort bekommen würde.
Er wusste nicht, ob seine Schwester ihn überhaupt noch hörte. Ob sie ihm überhaupt noch antworten konnte! Er schüttelte den Kopf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Auf keinen Fall würde er das akzeptieren! Gerade eben hatte er noch unbeschwert mit seiner Schwester geplaudert. Dieser Bastard würde sie ihm nicht wegnehmen. Niemals!
Entschlossen rannte er dem Hünen hinterher. Der hatte schon den Waldweg erreicht und hievte Avelines Körper über den Rücken des Pferdes. Mit einem gekonnten Sprung beförderte er sich selbst auf den Hengst.
„Lass meine Schwester!", schrie Nouel ausser sich, als der Wikinger das Pferd antrieb.
Da hörte er die Äste hinter sich knacken. Der blonde Wikinger kam pfeilschnell herangestürmt, einen solch entschlossenen und zornigen Ausdruck im Gesicht, dass Nouel erschrocken seinen Schritt verlangsamte. Der Normanne rauschte an ihm vorbei, so dass es Nouel beinahe umpustete und sprintete hinter dem Pferd her, das der Hüne bereits in den Galopp getrieben hatte.
Kein Mann konnte mit dem Galopp eines Pferdes schritt halten, aber dieser Wikinger war schnell. Unglaublich schnell! Nouel blieb fassungslos stehen. Die Entschlossenheit dieses Wikingers war ihm anzusehen, aber auch er schaffte es trotz seiner Geschwindigkeit nicht, Aveline und den Hünen aufzuholen.
„Bliv her!", schrie der Wikinger.
Der Hüne auf dem Pferd lachte laut und rief etwas zurück. Keuchend und ausser Atem blieb Nouel stehen und stützte die Hände auf seinen Oberschenkeln ab. Sie hatten den Kerl nicht aufhalten können. Der Hüne war um die Kurve verschwunden und galoppierte in östliche Richtung.
Seine Schwester war verloren.
Der dritte Wikinger fluchte laut - zumindest klang es für Nouel so - und drehte sich dann energisch um. Nouel japste noch immer nach Luft. Das Adrenalin pumpte durch seine Adern und liess sein Herz wild in der Brust schlagen. Der Normanne kam auf ihn zu.
„Der andere hatte auch ein Pferd", keuchte Nouel und deutete mit dem Finger in den Wald.
Der Wikinger blickte ihn an, ein verstörter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Verzweiflung, Panik, Angst und Zorn in einem. Nouel war sich nicht sicher, ob der Wikinger ihn verstand. Er stellte sich wieder aufrecht hin und machte mit seinen Armen eine Bewegung, die es nur Reiter mit ihren Händen taten. Dazu machte er ein wieherndes Geräusch, um ihm den letzten Hinweis zu geben, was er meinte.
Das zweite Pferd.
Der Ausdruck in den Augen des Wikingers veränderte sich schlagartig. Er verstand und nickte zum Dank. In derselben Geschwindigkeit, in der er aus dem Wald gesprungen war, rannte er zurück durch die Bäume.
Nouels Knie gaben nach und er sank auf den Boden. Der Schock sass ihm tief in den Knochen. Er konnte es nicht fassen, was soeben geschehen war. Bis vor kurzem hatte er seine Schwester noch selbst in den Armen gehalten und jetzt war sie ihm wieder weggenommen worden.
Hinter ihm kam Hamo mit Lapin im Arm und Garou an der Seite aus dem Wald. Der kleine Bub wirkte benommen und hatte die Augen halb geschlossen. Hamo wischte sich übers blutige Gesicht.
„Wo ist deine Schwester?", fragte der Anführer, denn er hatte nichts von den dramatischen Szenen mitbekommen.
Nouel schüttelte nur den Kopf.
„Der andere hat sie einfach mitgenommen. Sie... Sie ist..."
Er konnte den Satz nicht beenden, denn das wollte er nicht wahrhaben. Seine Schwester durfte nicht tot sein! Er hoffte so, dass es nicht wahr war, was er gesehen hatte.
Hamo fluchte laut und vulgär, so dass sich Lapin die Ohren zuhalten musste. Dann blickte er in den Wald, aus dem sie alle gekommen waren.
„Dieser andere Wikinger. Das ist derselbe, der uns gehen lassen hat", meinte er.
„Habe ich auch gemerkt", antwortete Nouel.
„Der hat einen seiner Männer getötet."
„Ich weiss."
„Und mein Leben gerettet."
„Ich weiss", sagte Nouel abermals und senkte den Kopf.
Pferdehufen waren wieder zu hören. Das weiss gefleckte Pferd kam aus dem Unterholz. Der Normanne sass darauf und trieb es mit energischen Hieben an. Er blieb kurz vor den Jungs stehen, die sich an den Strassenrand gesetzt hatten.
Der Wikinger suchte Nouels Blick und deutete mit der Hand auf sich selbst und dann sogleich in die Richtung, in welcher der böse Hüne verschwunden war. Das Pferd trippelte nervös auf und ab und er musste es an engen Zügeln halten.
„Aveline", sagte er und Nouel verstand, was er ihm sagen wollte.
Er würde diesem Schwein hinterher reiten. Er würde Aveline zurückholen! Der entschlossene Blick sagte Nouel alles, was er wissen musste. Diesem Kerl konnte er vertrauen. Diesem Kerl konnte er das Leben seiner Schwester anvertrauen - wenn sie denn noch lebte.
Er nickte und zeigte dann ebenfalls auf sich selbst und dann auf den Boden, auf welchem sie sassen.
„Nouel", sagte er.
Er würde solange hier sitzenbleiben, bis er seine Schwester wiederbekam. Vorher würde er nicht von hier weggehen. Der Normanne nickte, wie wenn er verstanden hätte und gab dem gescheckten Pferd einen kräftigen Zwick in die Flanke. Das Tier wieherte empört, donnerte aber sodann in östliche Richtung.
Die drei Buben blieben erschöpft am Strassenrand sitzen und blickten dem peitschenden Schweif hinterher. Nouel hoffte so sehr, dass dieser Wikinger halten würde, was er versprochen hatte.
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Liebe themaryseries
Ich weiss, dass das nicht ein Kapitel ist, in welchem du markiert werden willst, aber genau deswegen tue ich es. *grinst böse* Dafür, dass du meine Geschichten so durchgesuchtet und mir verzweifelte Audionachrichten geschickt hast.
Danke für all die Liebe ♡
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