42 - Brachmond
An der Seine, Westfränkisches Reich
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Aveline kauerte auf dem Waldboden, während Rurik mit zitternden Händen das Feuer anmachte. Ihre Kleidung triefte vor Nässe und die kühle Luft raubte ihnen jegliche Körperwärme.
Sie waren eine Weile noch durchs Land gezogen, nachdem sie sich aus dem Fluss gehievt hatten und den beiden Wikingern entkommen waren. Da sich die Spur der Diebesbande aber irgendwann verloren hatte und es zu dämmern begann, hatte Rurik beschlossen, ein Lager in einem windgeschützten Waldstück aufzuschlagen.
Ein starkes Beben ging durch Avelines Körper, ihre Lippen waren blau-violett verfärbt. Rurik blickte sie besorgt an. Sie musste schleunigst aufgewärmt werden, sonst würde sie sich noch eine Erkältung einfangen und das wollte er nicht.
Er öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, aber zögerte dann. Es schien, als hadere er mit sich selbst.
„Was?", fragte Aveline mit klappernden Zähnen und zog die Knie näher zu sich heran.
„Wir müssen die nasse Kleidung ausziehen."
Aveline warf ihm einen überraschten Blick zu.
„Ausziehen?"
„Ja. So kann der Stoff besser an der Hitze des Feuers trocknen und dein Körper kühlt nicht ab", brummte Rurik und schlug die Feuersteine aufeinander.
Kleine Funken sprühten und entfachten ein Flämmchen im Reisig, das Rurik vorsichtig in seinen Händen zu einer grösseren Flamme blies. Dann legte er es auf den Boden und fügte sachte weitere Äste hinzu. Die flackernden Zungen warfen ein rotgelbes Licht auf sein Gesicht.
Aveline drehte ihm den Rücken zu. Sie konnte sich nicht erklären, warum die Vorstellung, die Kleidung vor Rurik ausziehen zu müssen, sie so nervös machte, wo sie doch wusste, dass seine Aussage rein von der Absicht getragen wurde, in der Kälte nicht zu erfrieren. Ihre Hand wanderte an die Schlaufe ihres Kleides und verharrte dort für einen kurzen Moment. Ihr Blick schweifte zu Rurik, aber dieser starrte bloss in die Flammen zu seinen Füssen. Leise ausatmend entledigte sie sich des Kleides, behielt ihr halb durchsichtiges Untergewand allerdings an.
Sie wrang den Stoff aus und liess das Wasser auf den Boden tropfen. Dann erhob sie sich, um einen geeigneten Ast zu finden, an welchem sie ihr Kleid zum Trocknen aufhängen konnte. Sie fühlte sich der Kälte ausgeliefert und verschränkte die Arme vor sich, während sie Rurik betrachtete, der noch triefnass am Feuer sass.
„Willst du nicht auch -?", meinte sie etwas schüchtern.
Ihre Worte rissen ihn aus den Gedanken und er hob fragend den Kopf. Sie deutete mit der Hand auf seine Kleidung.
„Deine Tunika und deine Rüstung", murmelte sie.
Seine Augen ruhten eine Weile auf ihren, bis er sich dann stumm erhob und sich die Kleidung über den Kopf zog. Mit kräftigem Druck verdrehte er den Stoff, damit das Wasser entweichen konnte. Die Tropfen rannen den Unterarmen entlang und perlten von seinen Ellbogen auf die Erde. Aveline nahm ihm die feuchten Klamotten ab, um sie aufzuhängen. Dabei berührten sich ihre Finger flüchtig. Diese kleine Berührung war so kurz, aber jagte ihr dennoch tausend kleine Blitze durch die Arme.
Rurik wandte sich wieder dem Feuer zu, während sie etwas verdutzt über dieses merkwürdige Gefühl stehen blieb. Ihr Blick schweifte von ihren Händen, die seine Kleidung hielten, zu seinem nackten Oberkörper. Der Schein des Feuers warf verführerische Schatten auf seine Muskeln. Sie schluckte leer, um ihre trockene Kehle zu befeuchten.
Auch Ruriks Kleidung fand einen Platz auf einem Ast neben dem Feuer. Die Flammen wuchsen an und strahlten eine angenehme Hitze aus. Aveline setzte sich und rückte näher ans Feuer heran. Die Stille umhüllte sie während sie beide in die tanzenden Lohen blickten.
Sie konnten von Glück reden, dass Kjetill und Emmik sie nicht entdeckt hatten. Aveline wollte sich nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn die zwei Wikinger sie gesehen hätten. Obwohl sie wusste, dass Rurik sich für sie vor die Kerle geworfen hätte, war sie dennoch froh, dass er es nicht hatte tun müssen. Sie war froh, dass sie der Gefahr hatten ausweichen können, selbst wenn das jetzt hiess, dass sie klitschnass am Feuer schlottern mussten.
Nach einer Weile wanderten ihre Augen weg von der Feuerstelle und blieben auf Rurik kleben, der ihr gegenüber sass und gedankenverloren in die Flammen blickte. Sie musterte ihn und fragte sich, was wohl gerade in seinem Kopf vorgehen musste.
Ob er sich eine neue Taktik ausdachte, wie sie Nouel finden könnten? Ob er sich Gedanken darüber machte, wie er seine Wikingerkollegen davon überzeugen könne, mit ihm mitgehen zu wollen und von den Dieben abzulassen? Ob ihn noch immer diese schrecklichen Gewissensbisse quälten, trotz allem, was sie ihm gesagt hatte?
Sie konnte es nicht von seinen Gesichtszügen ablesen, aber irgendwie wirkte er friedlich. Friedlicher als die Tage zuvor. Sie war froh, dass sie ihm mit ihren Worten einen Teil von seinem Leid hatte nehmen können und dass sie es geschafft hatte, nicht den Hass sprechen zu lassen. Sie wollte ihm nicht mit Feindseligkeit begegnen. Nicht nach all dem, was er für sie und Nouel getan hatte.
Ihre Gedanken schwangen zusammenhangslos vor und zurück, während sie ihn musterte. Erinnerungen und Gesprächsfetzen aus Vestervig tauchten in ihrem Kopf auf, nur um von Bildern und Eindrücke ihrer abenteuerlichen Reise wieder ersetzt zu werden. Sie schlang ihre Arme fester um die Knie, da hob er seinen Blick.
„Du frierst noch?", fragte er.
Sie nickte, was Rurik dazu bewegte, zu seinem Umhang zu greifen. Immerhin waren ihre Kapuzenumhänge trocken geblieben. Rurik ging um die Feuerstelle herum und kniete sich zu ihr nieder. Er wollte gerade den Umhang um ihre Schultern legen, da zögerte er und berührte den klammen Stoff mit den Fingern.
„Dein Untergewand ist zu nass. So trocknet das nicht", meinte er dann. „Das musst du auch ausziehen."
Leicht verunsichert blinzelte sie ihn an. Das konnte er doch nicht ernst meinen! Dann wäre sie ja splitterfasernackt. Er stand allerdings mit erwartungsvollem Blick auf und winkte sie zu sich hoch.
„Ich helfe dir", meinte er.
In seinen Augen sah sie, dass kein Schalk darin lag. Er wollte tatsächlich, dass sie sich ganz auszog. Etwas zögerlich erhob sie sich und da spürte sie schon wieder diese unerträgliche Hitze, die ihr in die Backen kroch. Das passierte ihr ständig, wenn er sie in Verlegenheit brachte und sie kurzzeitig die Beherrschung über ihren Körper verlor.
Mit glühenden Wangen stand sie vor ihm, derweil er ihr den Umhang um die Schultern legte. Der Stoff war gross und lang, so dass ihr kleiner, zarter Körper ganz darunter verschwand. Der wohlige Geruch von Tannennadeln umgab sie urplötzlich. Sein Umhang roch so intensiv nach ihm, dass ihr dabei beinahe schwindlig wurde. Sie genoss das weiche Gefühl des Stoffes auf ihrer Haut und schloss die Augen, um den Duft einzuatmen. Erst jetzt realisierte sie, wie sehr sie diesen Geruch vermisst hatte.
Sie blickte ihn fragend an, denn sie wusste nicht genau, wie er sich das jetzt vorstellte. Er lächelte freundlich, während er den Umhang vorne an ihrer Brust zusammenhielt.
„Du kannst jetzt aus den Ärmeln schlüpfen", meinte er und drehte seinen Kopf höflich zur Seite.
Avelines Wangen brannten, ihr Herz schlug schneller in ihrer Brust. Sie sollte sich also wirklich ausziehen. Er blickte weg, damit sie sich vor seinen Blicken geschützt unter dem Stoff entblössen konnte. Irgendwie fand sie das absurd, denn eigentlich wusste er ja, was sich da unter den dünnen Schichten befand. Eigentlich musste sie sich nicht verstecken, aber er schien Wert darauf zu legen, also schlüpfte sie vorsichtig aus den Ärmeln ihres Untergewandes, sehr darauf bedacht, den Umhang, der sie schützend umgab, nicht zur Seite zu stossen.
Das Untergewand glitt lautlos zu Boden.
„Habs ausgezogen", murmelte sie dann.
Ihre Finger klammerten sich von innen an die Stoffenden des Umhanges, so dass er seine Hände wieder zu sich ziehen konnte. Er nickte zufrieden.
„Jetzt sollte dir bald warm werden", meinte er.
„Danke", nuschelte sie kaum verständlich.
Die Kälte kroch ihr augenblicklich die nackten Füsse hoch. Er wollte sich schon von ihr wegdrehen, da überfiel Aveline ein verräterisches Zittern. Ihr ganzer Körper bebte auf und sie versuchte es mit dem Anspannen ihrer Muskeln zu unterbinden, aber es funktionierte nicht. Ihr war noch immer kalt. Als Rurik das sah, seufzte er auf und kam wieder näher.
„Du bist schlimmer als ein Küken", schmunzelte er.
Breitbeinig stellte er sich vor sie hin und legte seine grossen Hände auf ihre Schultern ab. Dann begann er seine Hände an ihren Oberarmen auf und ab zu bewegen, so dass die Reibung Hitze erzeugte und durch den Stoff in ihre Haut drang.
„Immerhin klappern meine Knochen nicht mehr. So viel wie ich die letzten Tage gefüttert wurde", gab sie gespielt beleidigt zurück.
„Das ist das Mindeste, was ich tun konnte", antwortete er nur und rieb sie fester.
Sie konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Dieser Wikinger half ihr nicht nur, ihren Bruder zu finden, sondern kümmerte sich währenddessen auch noch um ihr leibliches Wohl und sorgte für ihren Schutz. Anders als Faralda es von vielen Kerlen immer behauptet hatte, war dieser Mann kein 'unnötiger Nichtsnutz'. Ganz im Gegenteil.
„Füttern und warm halten. Das klingt so, als wäre ich ohne dich aufgeschmissen", meinte sie dann.
Allmählich verbreitete sich eine wohlige Wärme in ihrem Oberkörper. Ruriks Bewegungen verschafften tatsächlich Abhilfe. Sie genoss die warmen Wellen, die sich allmählich in ihrem ganzen Körper ausbreiteten. Er schüttelte seinen Kopf und verlangsamte seine Bewegungen.
„Das wärst du nicht. Eigentlich brauchst du mich nicht", meinte er.
Sie legte den Kopf schief und setzte ein schelmisches Lächeln auf. Sie wusste, dass er das eigentlich nicht so gemeint hatte. Er half ihr gerne, denn so war er einfach. Selbstlos. Das war er schon immer gewesen, auch wenn er das niemals von sich selbst behaupten würde.
„Ist das so?", sagte sie. „Wenn ich das alles doch alleine könnte, warum hilfst du mir dann?"
Er hielt in der Bewegung inne und blickte sie durchdringend an.
„Weil du mir wichtig bist."
Ihr fiel nichts ein, was sie darauf hätte kontern können. Alles, was sie konnte, war ihm einfach in die Augen zu blicken und seine Seele zu ergründen.
Dieser Mann hatte eine solch unglaublich starke Anziehungskraft, es fiel ihr schwer, ihm nicht in diese unendlich schönen, eisblauen Augen zu starren. Auf seinen Lippen hing das sympathische Lächeln, das sie so mochte. Dieses Lächeln, das ihr schon oft das Herz hatte höher schlagen lassen.
Sie merkte nicht, wie ihr Verstand plötzlich aussetzte. Ganz unwillkürlich lehnte sie sich nach vorne und streckte ihren Nacken. Er stand ihr so unglaublich nahe, dass es nur eine kleine Bewegung war, die sie tun musste.
Sie hielt für einen Moment die Luft an, verstand zunächst nicht, was sie da genau tat, doch ihr Herz verlangte danach und sie konnte sich nicht wehren. Sie gehorchte dem Gefühl tief in ihrer Brust. Sachte, jedoch sehnsuchtsvoll küsste sie seine Unterlippe, schloss flatternd die Augen.
Als ihre Lippen die seinen streiften und ihr Atem sich zu einem Dunst vermischte, verlor Aveline die Kontrolle über ihren Körper. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen und kroch ihr bis zu den Wangen. Sie fühlte sich zurückkatapultiert zu dem Moment, an welchem sie von Rurik das erste Mal geküsst worden war. Ein warmes Gefühl durchflutete sie, als stünde sie in der Sonne.
Ihre Lippen bebten auf seinen, flehend, ihn um Einlass bittend. Sie bemerkte sein Zögern, wie er leise keuchend mit sich rang, aber dann nachgab und seine Hände langsam auf ihren kalten Wangen platzierte. Und dann spürte sie den Druck, der von seinem Mund aus kam, wie er sich in den Kuss lehnte, erst zaghaft, dann immer fordernder.
Aveline erschauderte. Sie drückte ihren Körper näher an ihn, bis kein Blatt mehr zwischen ihnen hätte passen können und noch immer schien es nicht genug zu sein. Sie spürte seine Zunge an ihrer Unterlippe, seine Hände an ihrem Gesicht, die so zärtlich ihre Wangen streichelten. Der Gedankensturm in ihrem Kopf verstummte, sie fühlte nur das Brennen in ihrer Brust. Ihr Herz, das sich so sehr nach ihm gesehnt hatte. Das Herz, das noch immer für ihn schlug. Es pochte wild gegen ihre Rippen.
Sie hob ihre Hand aus dem Umhang und führte sie an seinen Hals. Dabei öffnete sich ihr Gewand und entblösste ihre elfenbeinfarbene Haut darunter. Es war ihr einerlei, denn vor ihm musste sie sich nicht schämen. Diesem Mann vertraute sie blind. Sie sehnte sich so sehr nach seiner Zuneigung. Es war schön, seine Begierde an ihren Lippen, an ihrem Körper zu fühlen und die kleine Flamme in seinen Augen aufflackern zu sehen. Sie wollte in seinen Küssen ertrinken, in seinen Armen versinken, denn genau da fühlte sie sich geborgen.
Sie keuchte, als die Küsse leidenschaftlicher wurden. Das Atmen wurde nebensächlich, die Berührungen intensiver. Seine Hand wanderte unter den Umhang und fand sich auf ihrer Taille wieder. Als seine Finger ihre Haut streiften, flackerten die Erinnerungen an ihre erste gemeinsame Nacht vor ihrem inneren Auge auf.
Sie stöhnte leise und packte den Rosenkranz um seinen Hals, um ihn noch näher zu sich heranzuziehen, da spürte sie, wie er plötzlich Widerstand leistete. Er löste seine Lippen von ihren und zog den Kopf zurück. Sein Atem ging schnell, als er ihren Körper los liess. Auf seinem Gesicht spiegelte sich das Entsetzen.
„Nein", stiess er aus.
Allmählich begann der Verstand in Avelines Kopf wieder zu arbeiten. Die Leidenschaft hatte sie überrollt und sie hatte sich einfach fallen lassen. Sie realisierte, was sie soeben getan hatte und hielt sich erschrocken die Hand an die brennenden Lippen. Die Wärme seiner Küsse war ihnen noch nicht entflohen.
Seine Augen schweiften flüchtig über ihren entblössten Körper, so als traue er sich eigentlich gar nicht hinzusehen, aber er konnte nicht anders, er musste hinschauen. Sie fühlte seinen Blick auf ihrer Haut und sie meinte fast, ein Prickeln zu verspüren.
„Rurik... ich...", begann sie, aber wusste selbst nicht, was sie eigentlich sagen sollte.
Ein tiefer Seufzer entkam von seiner Brust. Es klang schmerzlich und gleichzeitig sehnsuchtsvoll.
„Du quälst mich", sagte er dann und blickte zur Seite.
„Mein Anblick ist eine Qual?", fragte sie mit zitternder Stimme.
Er schüttelte augenblicklich den Kopf.
„Nein, das meinte ich nicht so. Im Gegenteil. Du bist schöner als das Mondlicht."
Seine eisblauen Augen trafen die ihrigen. Ihr Herz machte einen Sprung. Warum konnten seine Worte und seine Augen ihr ganzes Innenleben noch immer so aufwühlen? Sie wollte das alles nicht fühlen, aber es ging nicht anders. Sein Blick konnte ihre ganze Welt ins Schaukeln bringen. Seine Berührungen vermochten noch so viel mehr.
„Was meintest du dann?", flüsterte sie.
„Bitte", sagte er und führte seine Hände an den Umhang, „mach das wieder zu."
Er schloss den Umhang vor ihrer Brust. Seine Finger zitterten deutlich an ihrem Gewand. Ihre Augen fielen auf seine unsichere Hand und wanderten dann zurück zu seinem Gesicht.
Seine Stimme klang schon beinahe flehend. So als bäte er sie, ihn nicht in den Abgrund zu stossen, denn das, was sie hier tat, war für ihn genau das. Ein Weg, der nur in eine Richtung führen würde. Wenn er den Schritt wagte, dann gäbe es kein Zurück mehr. Er würde nicht mehr zurück wollen. Jetzt - vor dem Abgrund - hatte er aber noch die Wahl. Er konnte den Absturz vermeiden. Mit barer Willenskraft war das noch möglich.
„Warum?", hauchte sie ihre Frage.
Sein Blick wurde inständiger.
„Aveline. Ich... ich kann dir so nicht versprechen, dass ich..."
„Dass du was?", fragte sie.
„Dass ich dir widerstehen werde."
Er senkte den Blick und wollte sich schon von ihr abwenden, da hielt sie ihn am Arm zurück und zog ihn nochmals zu sich. Ihr Mund suchte nach seinen Lippen, er stiess sie sanft aber dennoch bestimmt von sich.
„Aveline. Das wäre nicht richtig."
Die Zurückweisung versetzte ihr einen Stich ins Herz. Aveline schluckte leer. Sie wusste, wie falsch es war, was sie hier tat, aber sie sehnte sich nach ihm. Nach dem Gefühl, das sie umgab, wenn er sie in seinen Armen hielt und wenn sich ihre Lippen im Tanz vereinten. Ihr Herz schrie nach ihm und hatte ihren Verstand ganz verstummen lassen.
„Rurik."
„Ich will dir nicht noch mehr Schaden zufügen, als ich es schon getan habe", erklärte er und trat zwei Schritte zurück.
Sie schaute ihn betrübt an. Sie wusste, dass er recht hatte, aber sie konnte ihre Gefühle nicht verleugnen. Selbst wenn sie sich vehement dagegen wehrte, sie konnte nicht verleugnen, dass sie immer noch Gefühle für diesen Mann hegte. Unerklärliche Gefühle. Es war ihr Herz, das sie zu dem bewegt hatte und es wollte nicht ruhen, bis es bekam, wonach es rief. Es wehrte sich mit aller Kraft gegen die Stimme in ihrem Kopf.
Rurik wandte sich von ihr ab, setzte sich an die Feuerstelle und fütterte die Flammen mit ein paar Ästen. Er schürte die Glut und richtete die Steine um die Feuerstelle, damit das Feuer besser brennen konnte. Dann legte er seine Ellbogen auf seine Knie ab und starrte in die Flammen. Aveline entging nicht, wie er seinen Kopf schüttelte, als müsse er die Gedanken darin abwimmeln. Als führe auch er einen Kampf gegen sein eigenes Herz.
Sie kam näher und setzte sich neben ihn. Mit einer vorsichtigen Bewegung streckte sie ihren Arm aus und nahm seine Hand in ihre. Zwischen ihren zarten Fingern wirkte seine Handfläche so gross.
„Ich will mich erinnern", sagte sie dann, ohne aufzublicken. „Ich will mich an uns erinnern, wie es sich angefühlt hat, bevor wir alles zerstört haben. Ich möchte es wieder fühlen und dann will ich die Zeit anhalten, damit dieses Gefühl nicht vergeht. Niemals."
Tränen stiegen ihr in die Augen. Die Worte wanderten über ihre Lippen, ohne dass sie die Kontrolle darüber hatte. Es war nicht ihr Verstand, der sprach, sondern ihr Herz.
„Ich möchte mich nicht an die grausamen Dinge erinnern, die wir einander angetan haben, Rurik. Man kann mir alles nehmen, aber meine Erinnerungen nicht. Die sind mir am wichtigsten. Das waren sie mir schon immer. Ich will mich an das erinnern, was wir hatten, Rurik. Nicht an das, was wir zerstört haben. Ich will mich an uns erinnern."
Bei den Worten schloss er die Augen, wie wenn es ihm physische Schmerzen bereitete, was sie da sagte. Sie hob seine Hand an ihr Gesicht und presste ihre Wange in seine Handfläche. Seine Finger zitterten.
Er hätte die Hand wieder zurückziehen können, er tat es aber nicht. Aveline schmiegte ihr Gesicht fester in seine warme Handfläche, so dass ihre Lippen seine Haut streiften. Sie drückte einen vorsichtigen, kaum spürbaren Kuss auf seine Handballen, woraufhin er wieder seine Lider hob. Ein so sorgenvoller Blick begegnete ihr, der ihr fast das Herz spaltete. Er blieb stumm, denn er konnte nicht sprechen. Zu sehr raubte ihm der innere Kampf die Kraft.
Er blickte erstaunt zu ihr hoch, als Aveline sich erhob, nur um sich dann auf seine Oberschenkel niederzulassen. Zischend zog er die Luft ein, als sie auf seinen Schoss glitt und mit ihrem Gesicht seinem nun so nahe war. Er lehnte den Oberkörper leicht zurück, wie wenn er einen Ausweg suchte.
Der Umhang hing noch um ihre Schultern, aber ihre perlfarbene, zarte Haut leuchtete ihm hell entgegen.
„Aveline...", raunte er.
„Willst du dich nicht auch an das Schöne erinnern?", hauchte sie und strich ihm die Haare aus dem Gesicht, damit sie ihm in die Augen blicken konnte.
„Doch, aber das wäre wirklich nicht gut. Es wäre falsch", sagte er.
Seine Unterlippe zitterte. Das goldene Bernstein ihrer Augen traf auf das eisige Meer in seinen und schlug Wellen durch ihre beiden Seelen. Sie fuhr mit ihren Fingerspitzen über seine Schläfen und musterte jede noch so kleine Gefühlsregung in seinem Gesicht. Der Schmerz seiner Seele trat nach aussen, das erkannte sie deutlich.
„Ich habe dich nicht verdient, Aveline. Du sollst nicht mein sein", flüsterte er und sie sah, wie seine Augen traurig glitzerten.
Sie senkte ihr Gesicht zu seinem herab und blickte ihm fest in die Augen.
„Habe nicht ich das zu entscheiden?", hauchte sie auf seine Lippen.
Da erkannte sie eine Veränderung in seinen Gesichtszügen. Sehnsüchtige und hoffnungsvolle Augen blickten sie an. Vorsichtig vernichtete sie den letzten Abstand zwischen ihren Lippen und küsste ihn, während sie seine Haare aus dem Gesicht strich.
Wie wenn das den Widerstand in seinem Kopf endgültig gelöst hatte, ergab er sich. Er hielt sich nicht mehr zurück, sondern liess sich von ihr in den Abgrund stossen, gab dem Verlangen, das tief in ihm gebrannt hatte, den Raum. Er liess zu, was sein Herz genauso sehr wollte wie ihres.
Aveline erzitterte, als er seine Hände auf ihrer Hüfte ablegte. Seine Finger bewegten sich nur zögerlich über ihren Körper, so als befürchte er, damit zu weit zu gehen. Als hielte er seine Lust an engen Zügeln. Sie hingegen zeigte ihm deutlich, wie sehr sie ihn gerade wollte. Sie klammerte sich fest an seine Schultern und zog ihn so nahe an sich, wie es nur möglich war. Sie küsste ihn gierig und senkte ihr Becken näher zu seiner Mitte herab.
Er keuchte, wie wenn die Offenbarung der Lust die grösste Anstrengung für ihn war. Mit jedem weiteren Kuss wurde sein Griff an ihrem Körper fester, seine Berührungen zielführender. Aveline krallte sich in seine Haut, wie wenn sie sich nicht mehr von ihm lösen wollte. Die Leidenschaft zwischen den beiden war entfacht worden und brannte lichterloh.
Er ergriff die Überhand und legte sie auf den Rücken. Dabei stöhnte sie erschrocken auf, denn von der Heftigkeit wurde ihr die Luft aus den Lungen gepresst. Sein Mund fand sofort den ihrigen. Seine Zungenspitze fuhr am Rand ihrer Lippe entlang und schlang sich um ihre Zunge. Ein feuchter Tanz begann, der Aveline nur weiter die Hitze in ihren Unterleib trieb.
Sie fühlte sich von den warmen Wellen, die ihr von seinen Küsse durch den ganzen Körper jagten, benebelt. Die Glut zwischen ihren Beinen wurde unerträglich und sie konnte nicht mehr warten. Sie wollte ihn ganz. So wie in ihrer ersten Nacht. Sie sehnte sich so sehr danach, seine Begierde an ihrem Körper zu spüren.
Er griff ihr mit einer Hand in die Locken und legte ihren Kopf zur Seite, so dass er ihr den Hals küssen konnte. Die Lippen und das Kitzeln seines Bartes jagte ihr eine Gänsehaut über den ganzen Leib. Rurik kannte den Effekt, den seine zärtlichen Küsse bei ihr auslösten, das hatte er schon bei ihrem ersten Mal mit Freuden entdeckt. Während er ihren Kopf in der einen Hand hielt, strich seine andere Hand ihrem Busen entlang bis zur Hüfte. Seine Finger gruben sich in ihren Hintern und er drückte sein Becken näher zu ihr heran. Aveline zog ihr Bein an, bereit ihm Einlass zu gewähren. Ein lustvolles Stöhnen entkam ihrer Kehle, als er in sie drang und sich rhythmisch in ihr zu bewegen begann.
Ihre Körper pulsierten im gleichen Takt. Es fühlte sich anders an, als in der ersten Nacht, die sie miteinander verbracht hatten. Anders, weil ein schmerzliches Gefühl mitschwang, jedes Mal, wenn sie die Lippen voneinander lösten und sie sich in die Augen blickten. So als versuchten sie, die Wunden, die sie einander zugefügt hatten, mit den zarten, lustvollen Berührungen zu heilen, aber wussten, dass die Milderung der Schmerzen nur eine kurzzeitige war. Sie wussten beide, dass der seelische Schmerz zurückkehren würde. Dass er das noch lange würde.
Aber sie liebten sich und sie wussten, dass solange sie einander nahe waren, sie sich nicht voneinander lösen konnten. Dass sie ohne einander nicht sein konnten. Dass mit jeder Berührung die Erinnerung wieder zum Leben erweckt wurde. Die Erinnerung an das, was sie gehabt hatten; An das, was sie gewesen waren; An das, was sie hätten haben können. Sie liessen beide los und ergaben sich ihren Gefühlen. Es war so einfach, sich in den Armen des anderen zu verlieren und die Welt zu vergessen. Und genau das war es, was sie suchten.
Gedankentaubheit.
Rurik entfesselte die Liebe, die er für Aveline verspürte. Er zeigte ihr mit jeder Berührung, jedem Kuss und jedem Lendenstoss, wie sehr er sie begehrte und wie sehr er sie haben wollte. Er hielt sich nicht mehr zurück, warf sich regelrecht an ihren zarten Körper und hörte erst auf, als Aveline am Höhepunkt ihrer Erregung angelangt war und sich ihre Finger verzweifelt auf der Suche nach Haftung in den Waldboden krallten. In dem Moment überkam auch ihn die Wärme aus seinem Inneren und er liess sich mit ihr gehen.
Gefühlsrauschen.
Als Aveline wieder klare Gedanken fassen konnte, spürte sie seinen Atem auf ihrem Schlüsselbein. Sein Herz pochte hart gegen ihre Brust und sein Kopf ruhte in ihrer Halsbeuge. Er lag mit halben Gewicht auf ihr, aber sie fühlte es kaum. Nur sein Herz so nah an ihrem. Sie schwebte noch immer in einer Trance, die nur davon hervorgerufen werden konnte, wenn der Trieb die Überhand über den Verstand genommen hatte.
Ihr Kopf war leer, sie fand die Sprache nicht. Aveline fühlte nur seinen Herzschlag, der gegen ihre Haut hämmerte. So stark und lebensbejahend schlug es in seiner Brust und sie war in dem Moment froh, dass sie es nicht geschafft hatte, dieses Herz zum Stillstand zu bringen. Sie war erleichtert, dass er lebte. Sie war froh, dass er hier war - mit ihr. Sie war froh, dass er sie nicht zurückgelassen hatte, obwohl er jeden Grund dazu gehabt hätte. Und sie war glücklich darüber, seine Liebe gespürt zu haben. An genau dieses Gefühl wollte sie sich für immer erinnern. Egal, was war, egal, was noch geschehen würde, aber so würde sie Rurik in Erinnerung behalten wollen. Als den Mann ihres Herzens.
„Ich liebe dich", flüsterte er in ihren Nacken. „So sehr, dass es schmerzt."
Eine Träne lief ihr über die Wange und sie umarmte ihn, so dass es ihr selbst die Luft aus den Lungen drückte. Sie konnte nicht fassen, was soeben geschehen war, aber sie wollte nicht, dass dieses schöne Gefühl verflog. Noch nicht. Sie wollte es hüten und geniessen, solange es andauerte.
Er löste sich von ihrer Umarmung und blickte ihr in die Augen. Seine Hand legte er sachte auf ihr Brustbein, zwischen den Busen, so dass ihr Herz nun nicht mehr gegen seine Brust, sondern gegen seine Handfläche pochte. Die Wärme seiner Hand strömte durch ihre Rippen in ihr Herz und wurde von dort in den ganzen Körper gepumpt. Diese einfache Berührung erfüllte sie mit so viel Wärme, Glück und Liebe, dass sie vergass zu atmen.
Ihr Herz schlug ihm direkt in seine Hand, wie wenn er es in seinen Fingern hielt. Genau dort gehörte es hin.
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Liebe SevenTimes-
Wie versprochen widme ich dir dieses Kapitel, weil du es verdient hast! ♡ Ich danke dir für deine stetige Unterstützung, deine Lebenslust, deinen Humor und die aufbauenden Worte, die immer zur richtigen Zeit kommen. Hab dich lieb, Einhörnchen! ♡
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