41 - Brachmond
An der Seine, Westfränkisches Reich
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Rurik lag auf der Seite und starrte geradeaus. Neben ihm schlief Aveline, eng in die löchrige Decke gehüllt, welche die Bäuerin ihnen gebracht hatte. Ihr Kopf lag auf ihrem Arm, die Knie hatte sie zu sich herangezogen. Ihr Gesicht war auf derselben Höhe wie seines und sie lag so nahe, dass er jede Form und Farbe ganz genau betrachten konnte. Ihr Atem streifte sein Kinn. Fasziniert musterte er ihre schlafenden Gesichtszüge. Er schaffte es nicht, seinen Blick von ihr abzuwenden. Sie war einfach so schön.
Er hatte sie mit einer Menge Heu zugedeckt, damit sie in der Nacht nicht frieren würde. Die Kälte war dennoch durch das trockene Gras gedrungen und so waren sie näher aneinander gerückt und hatten sich im Heu gemütlich eingenistet.
Aveline war mit ihrer Hand an seiner Brust eingeschlafen, wie wenn sie mit der stetigen Berührung sicherstellen wollte, dass er da war. Er fühlte die zarte Wärme ihrer kleinen Hand an seinem Brustkorb.
Es war eine Wohltat, sie so entspannt schlafen zu sehen. Der Anblick ihres traurigen, vor Schmerz verzerrten Gesichtes hatte ihm das Herz zerdrückt. Er hatte nicht anders gekonnt, als sie in die Arme zu nehmen und ihren Schmerz mit seinen Worten und seinen Berührungen zu lindern. Er war froh, dass er ihr die Geborgenheit hatte schenken können, die sie so sehr gebraucht hatte.
Rurik hatte kaum ein Auge zugetan. Die Gedanken tobten wild und der harte Schmerz in seinem Herzen wollte nicht abflauen.
Für einen kurzen Moment hatte ihn die Tatsache, dass sie sein Kind in sich getragen hatte, mit einem unbeschreiblichen Glück erfüllt, ehe seine Gedanken weitergerattert waren und er realisiert hatte, dass dieses unbekannte Wesen, das in ihren Leib unauffällig herangewachsen war und er gerne hätte kennenlernen wollen, für immer verloren war. Es war wie ein Schlag ins Gesicht gewesen und die Nacht hatte ihm überhaupt keine Ruhe gebracht.
Er gähnte erschöpft und liess seinen Blick über Avelines zusammengerollten Körper schweifen. Sie sah so zerbrechlich aus, wie sie vor ihm lag, mit ihren Fingerspitzen an seinem Herzen. Vorsichtig nahm er ihre Hand in seine und streichelte ihre Finger. Wie gerne er ihr jetzt einen Kuss auf ihre Stirn gedrückt hätte, oder gar auf diese unendlich weichen Lippen. Aber er hielt sich zurück, denn er war sich sicher, dass sie das nie wollen würde. Die Dinge zwischen ihnen waren nicht mehr wie früher.
Ihre Lider zuckten. Er lächelte, als sie die Augen aufschlug und ihn die honigbraunen Iriden schläfrig anblinzelten.
„Guten Morgen", raunte er.
Ein leichtes Lächeln formte sich auf ihren schönen Lippen, dann zog sie ihre Hand zu sich und drehte sich auf den Rücken, um sich zu strecken. Sie seufzte behaglich. Offenbar hatte sie gut geschlafen. Für Rurik auch kein Wunder, denn sie hatte sich eng an ihn geschmiegt, um sich an seiner Körperwärme zu bedienen.
„Morgen", murmelte sie zur Begrüssung und drehte den Kopf wieder zu ihm.
Das Bernstein in ihren Augen leuchtete im hellen Licht des Tages. Staubpartikel schwebten im Raum wie kleine weisse Punkte. In der Nacht hatte es aufgehört zu Regnen und die Sonnenstrahlen heizten die Scheune auf. Die Wärme drückte langsam durch das Dach und machte die Luft schwerer.
„Du hattest diese Nacht keine Alpträume", stellte Rurik fest und gähnte dann laut.
Die Müdigkeit in seinem Kopf wollte sich ausbreiten, aber er rieb sich das Gesicht, um die Durchblutung anzuregen und dem Nebel keine Chance zu geben.
„Das muss an der gemütlichen Schlafstätte liegen", meinte sie schmunzelnd.
„Oder an deiner kuschligen Begleitung", neckte Rurik.
Sie lachte auf. Es war ein klares und bezauberndes Lachen, das ihrem Inneren entkam. Rurik merkte, wie sehr er das liebte. Wie gerne er sie aufmunterte und ihr Gesicht zum Strahlen brachte.
„Vielleicht", meinte sie.
„Nein, warte. Es war die löchrige Decke."
Sie lachte abermals. Von Herzen.
„Bestimmt! Egal, was es war. Ich bin froh, dass ich in Ruhe schlafen konnte."
„Ich auch. Wenn du Albträume hast, schlägst du mich nämlich immer."
Aveline boxte ihn empört in den Oberarm. Er spürte es kaum und gluckste vergnügt. Ihre lachenden Augen konnten jeden trüben Tag in den schönsten aller Zeiten verwandeln.
„Ist gar nicht wahr! Du bist hier der Prügelknabe. Ich habe Glück, dass du mich nicht vom Heuboden geschubst hast!"
Ein spitzbübisches Lächeln formte sich auf seinen Lippen und er zwinkerte ihr zu.
„Das würde ich mit dir niemals tun."
Aveline biss sich auf die Unterlippe und Rurik sah, dass er sie mit seinen Worten schon wieder in Verlegenheit gebracht hatte. Es war auch einfach ein Leichtes, ihr die Schamröte ins Gesicht zu treiben. Er war froh, dass sie trotz der trüben Stimmung der letzten Nacht wieder heiteren Gemütes war.
Er setzte sich auf und klopfte den Staub und die Gräser von seiner Kleidung, die Balken unter ihm knirschten bei jeder Bewegung. Ein weiterer Grund, warum er nicht wirklich hatte einschlafen können. Er hätte Aveline aus dem Schlaf gerissen, denn die undankbaren Balken quittierten jede noch so kleine Regung mit einem lauten Ächzen.
Aveline setzte sich in den Schneidersitz und rieb sich die Augen. Ihr Blick schweifte durch den Raum, der in dem morgendlichen Licht ganz anders wirkte wie am gestrigen Tag, als sie bei strömenden Regen hierher gekommen waren. Schmale Lichtkegel drückten sich durch die Spalten zwischen den Balken und tauchten den Raum in ein angenehm warmes Ambiente.
Rurik gähnte und warf sich die Hand vor den Mund. Der Nebel in seinem Kopf verlangsamte seine Gedanken. Er hoffte, dass er in der nächsten Nacht mindestens ein Auge zubekommen würde. Auf Dauer war diese Schlaflosigkeit nicht hilfreich.
„Glaubst du wirklich, dass wir Nouel finden werden?", fragte Aveline plötzlich.
Er spürte, dass sie die Frage vorsichtig formuliert hatte, wie wenn sie befürchtete, ihn und seine Fährtensuche damit zu beleidigen. Aber Rurik nahm das nicht persönlich. Es war eine berechtigte Frage.
„Natürlich! Ich glaube sogar, dass sie nicht mehr weit sein können."
Ein hoffnungsvoller Blick traf auf seinen und er nickte, um seine Aussage zu bekräftigen. Es war eine wahre Tatsache, dass sie sich den Buben schneller genähert haben mussten, als sie es mit Luca zusammen bisher geschafft hatten.
„Wie kannst du dir so sicher sein?", hakte sie nach.
Eine gesunde Skepsis, das gefiel Rurik. Er wusste, dass Aveline nicht immer gleich alles glaubte, was man ihr sagte. Das mochte er so sehr an ihr. Er schmunzelte, als er ihr antwortete
„Die Spuren werden immer frischer."
„Wie lange noch, bis wir sie aufgeholt haben?", fragte sie weiter.
„Wahrscheinlich zwei, maximal drei Tage."
Jetzt strahlte sei. Die ganze Aura, die sie umgab, leuchtete vor Freude, heller als zuvor. Es war schön, dass seine Worte sie so glücklich machen konnten.
„Bald haben wir ihn gefunden", meinte er.
Sie nickte eifrig, zog die Schultern hoch und liess sie mit einem erleichterten Ausatmen wieder fallen.
„Danke, Rurik", sagte sie. „Danke, dass du mir hilfst. Ich wüsste wirklich nicht, wie ich das alleine je geschafft hätte."
Er senkte den Kopf. Dank hatte er nicht verdient, aber das wollte er ihr nicht sagen. Seit dem Tag, als er Avelines Bruder erkannte hatte, hatte er es als seine Aufgabe - gar seine Pflicht - gesehen, den Burschen in Sicherheit zu bringen. Er würde sich das nie verzeihen, wenn dem Buben etwas zustiesse. Rurik hatte Avelines Leben schon genug auf den Kopf gestellt. Indem er sie zu ihrem Bruder brachte konnte er mindestens vermeiden, dass sie das Letzte verlieren würde, was ihr noch blieb.
„Was wirst du tun, wenn wir ihn finden?", kam plötzlich die nächste Frage.
Rurik blickte sie überrascht an. Als sie seine Verwirrung sah, versuchte sie sich zu erklären - wie so oft, wenn sie meinte, man hätte ihre Frage nicht ganz verstanden.
„Also, ich meine —", wollte sie beginnen, aber da unterbrach sie Rurik.
„Wenn wir sie ausfindig gemacht haben, werde ich mich um Kjetill und Emmik kümmern und sie zurück zu Ragnar bringen."
„Natürlich...", murmelte sie.
Sie sagte nichts mehr, aber Rurik spürte, dass da noch eine Frage auf ihren Lippen brannte. Eine Frage, die sie nur schwerfällig hervorbrachte. Er wartete geduldig, um ihr die Zeit zu geben, die sie benötigte.
„Als du und Nouel... als ihr euch auf dem Schiff begegnet seid... hat er ... hat er dich erkannt?"
Ihre Stimme vibrierte plötzlich, was Ruriks Magen zusammenzog. Er mahlte mit dem Kiefer, denn die Richtung, die ihr Gespräch einschlug, war für ihn mehr als unangenehm. Er hatte gehofft, dass die heitere Stimmung etwas länger anhalten würde, aber sie wollte das Gespräch in diese Richtung lenken, also liess er sie.
Er schüttelte den Kopf.
„Ich glaube nicht. Aber er verabscheut mich. Das war sehr deutlich."
Aveline nickte, wie wenn sie die Abscheu ihres Bruders nachvollziehen konnte. Eine unangenehme Stille legte sich über die beiden, was Rurik nur nervöser machte. Er mochte es nicht, dass Dinge unausgesprochen blieben, dass eine solche Last auf ihren Schultern lag, die sie nur mit einem offenen Gespräch abschütteln konnten. Aveline blickte bedrückt auf ihre Hände.
Rurik wusste, dass sie nach mehr Wissen dürstete. Sie wollte wissen, was an diesem Tag vor mehr als einem Jahr geschehen war. Selbst wenn die Erinnerung an diesen Tag physische Schmerzen in ihm auslösten, er wusste, dass er sich ihren Fragen stellen musste. Er wollte es, denn er schuldete es ihr, selbst wenn ihn der alleinige Gedanke daran, was er zerstört und ihr weggenommen hatte, in den Wahnsinn trieb.
„Ich habe ihm damals ziemlich doll mit dem Griff meiner Axt eins übergezogen. Er war sofort bewusstlos. Ich habe ihn in den Kräutergarten gelegt, zwischen den hohen Sträuchern, da wo man ihn nicht finden würde."
Seine Worte hingen im Raum und schienen wie die kleinen Staubpartikel durch die Luft zu schweben. Aveline blickte ihn schweigend an. Die Stille war für Rurik unerträglich. Er wollte, dass sie was sagte. Er wünschte sich, dass sie irgendwie reagieren würde. Auch wenn sie ihn anschrie, aber er wollte, dass sie ihm zeigte, was sie dachte. Dieser Mantel des Schweigens war eine weitaus grössere Qual. Er wollte die Stille selbst mit Worten füllen, also fuhr er fort:
„Danach sind wir in die Stadt, zu den anderen Männern und —"
„Warum hast du sein Leben eigentlich verschont?", unterbrach ihn Aveline.
Er runzelte verwundert die Stirn, war aber dankbar darüber, dass sie ihn nicht zu Tode schwieg.
„Ich konnte es nicht. Er war ja bloss ein Kind. Er war unschuldig."
„Und meine Eltern? Waren die nicht auch unschuldig?", fragte sie gleich weiter, sichtlich darum bemüht, ihn möglichst neutral anzublicken.
Ihr Kinn zitterte. Er sah, wie sie mit den Tränen kämpfte, aber sich zu beherrschen versuchte. Die Gedanken mussten sie schon eine Weile geplagt haben und es hatte sie unglaublich viel Überwindung gekostet, diese Frage zu stellen und ihn damit zu konfrontieren. Er wollte ihren Mut mit einer ehrlichen Antwort honorieren, auch wenn er lieber geschwiegen hätte. Aber Ehrlichkeit war das, was sie verdient hatte. Er schluckte leer ob der Erinnerung dieses Tages.
„Doch, natürlich waren sie das. Wie alle anderen Franken, die wir überfallen haben. Sie waren unschuldig. Deine Eltern haben sich gewehrt und mussten deswegen mit ihrem Leben bezahlen."
Avelines Kopf jagte in die Höhe. In ihren Augen glänzte ein kleiner heller Schimmer.
„S-Sie haben sich gewehrt?", murmelte sie und klang dabei fast hoffnungsvoll.
„Mit Leib und Seele! Sie hätten Loki beinahe nach Asgard geschickt."
Eine Träne lief Aveline über die Wange und blieb an ihrem Kinn hängen, die sie sich dann schnell vom Gesicht wischte. Rurik ertrug es kaum, sie so traurig zu sehen und zu wissen, dass er obenauf noch dafür verantwortlich war. Wie sehr er sich selbst verabscheute, sie so verletzen zu müssen.
„Es tut mir leid", flüsterte er und senkte den Kopf, denn es schmerzte ihn, sie so zu sehen.
Er hatte gehofft, sie aufmuntern zu können, aber nun weinte sie schon wieder. Und das nur wegen ihm.
„Ich weiss", antwortete sie.
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Aveline kaute an ihrer Unterlippe und überlegte, wie sie ihm die Dinge sagen konnte, die sie ihm immer in ihren Selbstgesprächen zugeschrien hatte. Die Dinge, die sie ihm in ihren fiktiven Diskussionen vorgeworfen hatte. Jetzt, wo er vor ihr sass, hätte sie jede Gelegenheit gehabt, ihre ganze Wut nochmals an ihm auszulassen. All den Frust, den Hass, den Herzschmerz und die ganze Trauer. Aber sie konnte es nicht. Sie brachte die Worte nicht über ihre Lippen. Der Hass wollte nicht aus ihr raus, denn er war erloschen. Oder vielleicht nicht ganz erloschen, aber er glimmte nur noch schwach.
Eine ganze Weile lang sass sie ihm schweigend gegenüber. Es war ihm deutlich anzusehen, dass diese Stille unangenehm war.
„Es war richtig, mich zu erstechen, Aveline. Ich habe es verdient", sagte er dann, wie wenn er ihre Gedanken gelesen hätte.
Sie wischte sich eine weitere Träne von der Wange, denn sie wollte eigentlich nicht weinen. Nicht schon wieder. Sie hatte genug getrauert und sie wollte ihm mit all der Selbstbeherrschung gegenübertreten, die sie aufbringen konnte. Nie wieder wollte sie es zulassen, dass der Hass ihr Herz dermassen einnahm.
„Nein", stiess sie aus.
Ihre Stimme klang ruhiger als davor. Wie wenn sie sich wieder gefasst hätte.
„Wie, nein?! Was du getan hast, hätte jeder Normanne auch getan. Auf Tod folgt Tod, so einfach ist das."
Sie schüttelte den Kopf, denn damit war sie nicht einverstanden.
„Nein. Ich hatte nicht das Recht, dich zu erdolchen, Rurik. Ich habe es mir genommen, aber es war nicht meins. Es...", sie schluckte leer und schloss die Augen, „es war ein Fehler."
Sie hob ihre Lider langsam an, um seine Reaktion zu sehen. In seinen Augen lag etwas Undefinierbares, aber vor allem tobte da ein Sturm. Zum zweiten Mal innerhalb eines Tages hatte sie es geschafft, ihn vollkommen sprachlos zu machen.
Ohne ihm noch die Möglichkeit zu geben, ihr etwas zu entgegnen, sprach sie weiter:
„Auch wenn du es mehr als verdient hättest... Es liegt nicht an mir, dich für deine Taten zu verurteilen, geschweige denn über deinen Tod zu entscheiden. Gott alleine tut dies und in seine Hände lege ich mein Vertrauen. Er wird dich richten. Nicht ich."
Rurik blickte sie lange an, während sein Gesicht fassungslos blieb und er ihre Worte verarbeitete. Seine Hand wanderte zum Rosenkranz, der auf seiner Brust lag. Er nahm das Kruzifix zwischen die Finger und musterte es ganz genau. Dann schüttelte er seinen Kopf, seine Augen ruhten unablässig auf den braunen Holzperlen.
„Ich verstehe deinen Gott nicht."
Aveline wusste, dass es für ihn schwierig nachzuvollziehen sein musste, was sie ihm da gerade gesagt hatte. Normannen kannten nur die weltliche Schuldbegleichung. Ihre Götter mischten sich nicht in die Angelegenheiten der Menschen ein und urteilten auch nicht darüber. Er konnte nicht verstehen, dass ihr Gott die Bürde der Schuld auf sich nahm, weil man das den Menschen nicht zumuten konnte. In seiner Welt war Vergeltung die Lösung und die lag in menschlicher Hand, nicht in göttlicher.
Aveline musste schmunzeln.
„Mein Gott hat eben etwas mehr aus dem Brunnen der Weisheit getrunken als Odin", sagte sie.
Jetzt war sie es, welche die Stimmung heben wollte, auch wenn das nicht gerade der passende Augenblick war. Aber sie war es satt, Trübsal zu blasen und diese Last, die auf beiden lag, ständig spüren zu müssen. Er hatte ihr auf ihre Fragen ehrlich geantwortet. Mehr wollte sie von ihm auch nicht wissen. Jetzt wollte sie nach vorne blicken und die dunkle Vergangenheit ruhen lassen.
Rurik schnaubte belustigt durch die Nase und nickte zustimmend. Er wirkte erleichtert über ihren Versuch, die Stimmung wieder lockern zu wollen.
„Dann muss dein Gott Mimirs Brunnen leer gesoffen haben!", sagte er und stand dann schwungvoll auf.
„Vielleicht hat er das tatsächlich", sagte Aveline lächelnd.
Dann streckte sie ihm ihre Hand entgegen, in der Erwartung, dass er sie hochziehen würde. Es war schon höchste Zeit für sie beide, weiterzuziehen, denn die Bäuerin konnte jeden Moment zurückkehren und ihre neugierige Nase in den Raum stecken. Rurik packte sie am Unterarm und hob sie auf die Füsse.
„Eine letzte Frage habe ich noch und dann lasse ich dich in Ruhe", meinte Aveline, als sie vor ihm stand.
Er legte den Kopf schief und wartete geduldig auf das, was folgen würde.
„Warum hast du mich damals mitgenommen und nicht liegen gelassen?"
Diese Frage zauberte das altbekannte Schmunzeln auf sein Gesicht. Das Schmunzeln, das seine Gesichtszüge so freundlich und weichmutig erscheinen liessen.
„Weil ich nicht anders konnte."
...
Sie verliessen die Scheune und machten sich auf den Weg in östliche Richtung. Nach einem guten Fussmarsch blieben sie an einer Strassenkreuzung stehen. Rurik kniete sich nieder und suchte den Boden nach Spuren ab.
„Hier lang!", meinte er dann, als er eine Fährte aufgenommen hatte.
Seine Geschwindigkeit steigerte sich, was Aveline Mühe bereitete um mit ihm Schritt zu halten. Rurik schien auf einer heissen Spur zu sein, denn er ging immer schneller, während er den Abdrücken im Dreck folgte.
„Rurik, ich kann nicht so schnell", keuchte Aveline hinter ihm.
Sie liefen auf einer Waldstrasse, an dessen Ende sich eine Brücke über den Fluss streckte. Das Rauschen der Seine war schon von Weitem zu hören. Diese Brücke hatten sie noch nicht abgesucht und Aveline hoffte, dass sie endlich fündig werden würden.
„Sie können nicht mehr weit sein. Die Spuren sind wirklich sehr frisch!", sagte Rurik und machte keine Anzeichen, das Tempo zu drosseln.
Aveline humpelte mühsam hinter ihm her. Ihr Atem ging schnell und ihre Lungen schmerzten vom Laufschritt. Da blieb er plötzlich stehen, so dass sie fast in seinem Rücken gestossen wäre. Keuchend blieb sie neben ihm stehen und hielt sich die Hand an den Bauch.
„Was ist denn?"
„Shh", zischte er und hob seinen Zeigefinger an die Lippen.
Sie machte grosse Augen und versuchte, so leise wie möglich zu schnaufen. Er musste etwas gehört haben, das für ihre Ohren nicht wahrnehmbar war. Sein Jägerinstinkt sendete ihm irgendwelche Signale, die ein Laie locker überhören konnte. Sie musterte sein Gesicht, wie er konzentriert horchte. Seine Augenbrauen waren am Nasenansatz zusammengezogen, sein Kiefer fest geschlossen, die hellblauen Augen in die Ferne gerichtet.
„Irgendwas stimmt nicht", sagte er dann und ging ein paar Schritte näher auf die Brücke zu.
Aveline lief ihm nach.
„Was meinst du? Was stimmt nicht?"
Er blickte erst in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. Auf dem Waldweg war ausser sie beide niemand sonst unterwegs. Was auch immer er hörte, musste von einer anderen Richtung kommen. Der Wind strich durch die Blätter und liess sie leise rascheln. Dann wandte sich Rurik der Brücke zu und hätte Aveline ihn nicht die ganze Zeit beobachtet, wäre ihr nicht aufgefallen, wie sich seine Gesichtszüge plötzlich verhärteten. Erst jetzt vernahm sie das bekannte Poltern auf der Erde.
Pferdehufen!
Jemand kam von der anderen Seite der Brücke heran gedonnert - im gestreckten Galopp. Das Geräusch alleine wäre noch kein Grund zur Sorge gewesen, aber da war noch etwas anderes, das sie hörte.
Nordisch. Die Reiter sprachen Nordisch!
Ihr Herz sackte ab. Geistesgegenwärtig zog Rurik sie an ihrem Ärmel zu sich heran und rannte die letzten Schritte bis zur Brücke. Sie hatten keine Zeit mehr, sie mussten sich verstecken!
Aveline strauchelte, während er sie an ihrer Kleidung die kleine Böschung hinunter zog und sich mit ihr unter die Brücke zwängte. Da er so gross war, musste er sich ducken, um seinen Kopf nicht an den Steinen anzustossen.
Gerade als Aveline mit ihm unter der Brücke verschwand, knallten die Hufen auf die Brückensteine über ihnen. Mit einem ohrenbetäubenden Donnern überquerten die Reiter den Fluss. Aveline hielt sich die Ohren zu, denn das Krachen schmerzte in ihrem Kopf. Die Vibration des Bodens spürte sie durch die Füsse bis in die Knie.
Die Reiter hielten an der Kreuzung vor der Brücke, um sich zu orienteiren. Sie standen nun genau an der Stelle, an welcher sich Rurik und Aveline vor wenigen Atemzügen noch aufgehalten hatten. Rurik stand angespannt neben ihr und bewegte sich nicht. Er horchte nur den Stimmen, die zu ihnen drangen.
„Verdammt Kjetill! Wir hätten diese Pferde nicht stehlen sollen. Jetzt haben wir zwei wütende Bauern am Hals!", hörten sie Emmik ausrufen.
Aveline zog erschrocken die Luft ein, was Rurik dazu bewegte, seinen Zeigefinger nochmals an die Lippen zu führen. Es galt jetzt so still wie nur menschenmöglich zu sein. Sie wollten nicht, dass die zwei Wikinger sie entdeckten. Aveline legte sich die Hand an den Mund, um sicher zu gehen, dass sie keinen Mucks von sich geben würde.
„Ach was! Die trauen sich doch nicht, uns zu folgen. Ich hab keinen Bock mehr, durch diese Sumpflandschaft zu latschen! Ich will diese scheiss Kinder endlich finden!", rief Kjetill aus.
Alleine seine Stimme verpasste Aveline eine unangenehme Gänsehaut. Dieser Kerl war ihr nicht geheuer, dennoch war sie froh zu hören, dass die zwei Wikinger es offenbar noch nicht geschafft hatten, die Diebesbande ausfindig zu machen. Ihr einziger Trost in dieser verzwickten Lage.
Aus den Augenwinkeln sah Aveline, dass Rurik versuchte, unter der Brücke hervorzuspähen, um die zwei Normannen in den Augenschein zu nehmen. Die Pferde, welche sie gestohlen hatten, schienen unruhig auf und ab zu gehen. Sie trippelten im Kreis und peitschten mit ihren Schweifen.
„Dieses Viech will nicht stillstehen!", fluchte Emmik hörbar genervt.
Plötzlich wieherte das Pferd empört und bäumte sich auf seine Hinterbeine. Emmik rutschte vom Rücken und prallte auf den staubigen Boden. Aveline hörte die nordischen Fluchwörter, die aus dem Rotschopf donnerten, als er sich zeternd wieder aufrappelte. Es waren keine schönen Dinge, die Emmik dem Pferd da gerade zurief.
Sie blickte zu Rurik, dessen Ausdruck sich in der Zwischenzeit verdunkelt hatte. Sie spürte, wie er seinen Arm ausstreckte und sie sachte hinter sich schob, sodass er schützend vor ihr stand. Dann zog er seinen schwarzen Umhang aus und legte ihn lautlos ins Gras. Er deutete Aveline an, dasselbe zu tun. Sie gehorchte und legte ihren Kapuzenumhang ab.
„In den Fluss!", flüsterte er dann, ohne sie anzublicken.
Aveline stutzte. Erst wollte sie protestieren, denn das konnte er doch nicht ernst meinen, aber dann sah sie, wie das Pferd wiehernd und Nüstern aufblähend im Kreis lief und wie Emmik versuchte, das Tier wieder einzufangen und zu beruhigen. Wenn der rothaarige Wikinger nur einen Moment zum Fluss blicken würde, könnte er sie von seiner Position aus sehen. Glücklicherweise war er aber im Moment noch abgelenkt.
„Ins Wasser. Das Schilf. Dort", flüsterte Rurik und deutete mit seiner Hand flussabwärts.
Aveline folgte seinem Blick und erkannte die Stelle, die er meinte. Hohe Schilfgräser stachen an einer Stelle am Ufer in den Himmel und boten einen weitaus besseren Sichtschutz, als diese Stelle unter der Brücke. Wenn sich Emmik und Kjetill der Brücke näherten, würden sie Rurik und Aveline sofort entdecken. Sie mussten schleunigst von der Brücke weg und der einzige Weg führte durch den Fluss.
„Aber...", wollte Aveline sagen, da wurde sie jedoch von Rurik weiter rückwärts geschoben.
Er stellte sicher, dass er stets vor ihr stand und die Wikinger ihn als erstes sehen würden, falls sie sich umdrehten. An ihren Fersen spürte sie schon die Nässe, die dem Saum ihres Kleides hochkroch. Vorsichtig wateten sie rückwärts in die Strömung, sehr darauf bedacht, das Wasser nicht auffällig glucksen zu lassen.
Rurik starrte unablässig zu Emmik, der mit grösster Mühe und Not das Pferd zu greifen versuchte. Kjetill lachte laut auf, denn ihn schien die Ungeschicktheit seines rothaarigen Begleiters doch sehr zu unterhalten.
„Jetzt mach mal hin!", grölte er.
„Würde ich ja, wenn dieses Biest nicht so zickig wäre!", antwortete Emmik frustriert.
Das Wasser reichte Aveline schon bis zur Brust, als Rurik sich ihr endlich zuwandte und ihr per Handzeichen zu verstehen gab, dass sie untertauchen und sich mit der Strömung bis zum Schilf treiben lassen sollte. Ihre Lippen zitterten von der Kälte. Es war eiskalt.
Sie tauchte das letzte Stück ihres Oberkörpers ins Wasser, so dass nur noch ihr Kopf und ihr Hals aus dem Wasser ragten und hob dann ihre Zehen vom schlammigen Flussbett. Augenblicklich wurde sie von der Strömung mitgezogen. Dann tauchte sie ab. Rurik tat es ihr nach und schwamm mit ihr mit, bis sie die Stelle erreichten, an welcher sie sich hinter dem Schilf verschanzen wollten.
Aveline pochte das Herz bis zur Brust, als sie wieder an die Wasseroberfläche gelangte und sich zwischen das Schilf presste. Keuchend zwang sie sich, ruhig zu atmen und das Klappern ihrer Zähne zu unterbinden. Sie blickte um sich und merkte plötzlich, dass Rurik nicht neben ihr war.
Wo war er bloss?
Sie wollte sich schon etwas erheben, um besser nach ihm zu suchen, da zog jemand an ihrem Fuss, so dass sie wieder tiefer ins Wasser rutschte. Die Wellen schwappten über und brachten die Schilfhalme ins Wiegen.
„Nicht aufstehen", flüsterte Rurik, der soeben vor ihr aufgetaucht war.
Seine blonden Haare klebten ihm am Kopf. Der Schlamm in seinen Strähnen war nun ganz ausgewaschen. Er liess ihren Fuss los und platzierte sich neben sie.
„Sind sie noch dort?", fragte Aveline, denn sie sah die Wikinger nicht mehr.
Er nickte mit düsterem Gesichtsausdruck.
„Haben sich noch nicht vom Fleck bewegt."
Eine gefühlte Ewigkeit mussten sie im eiskalten Wasser hinter den Schilfgräsern ausharren, bis die zwei Wikinger an der Kreuzung bei der Brücke endlich weiterzogen. Zu ihrem eigenen Leidwesen galoppierten die Normannen genau in die Richtung, in welche sie geschwommen waren.
Als die zwei Kerle an den hohen Schilfgräsern vorbeiritten, zog Rurik Aveline näher zu sich heran, wie wenn er versuchte, sie mit seinen breiten Schultern von den Blicken der Normannen zu schützen. Dabei schlang er seinen Arm um ihren Oberkörper und zog sie an die Brust. Seine Hand lag auf ihrer Flanke und sie konnte jeden seiner Finger an ihren Rippen spüren.
Sie klammerte sich mit ihren steif gewordenen Händen an seine Schulter und legte ihre Stirn an sein Kinn. Ihre Körper bebten vor Kälte. Der Regen der letzten Nacht hatte das Wasser stark abgekühlt. Sie verharrten noch so lange in der Position, bis sie das Donnern der Pferdehufen nicht mehr vernahmen und sie sicher gehen konnten, dass die Wikinger verschwunden waren.
Avelines Zähne klapperten hörbar, denn sie schaffte es nicht mehr, die Kiefer aufeinander zu pressen. Die Kälte stach unerträglich auf der Haut und am liebsten wäre sie sofort aus dem Fluss gesprungen, aber sie wartete, bis Rurik die Lage für sicher hielt und die Luft rein war.
Als Aveline ihren Blick hob, entging ihr nicht, wie seine hellblauen Augen eine unerträglich lange Zeit an ihren Lippen hingen. Sie meinte fast, zu spüren, wie er den Kopf zu ihr hinab senkte, aber dann lockerte er seinen Griff um ihre Taille und liess sie los.
Triefnass und vor Kälte schlotternd wateten sie aus der Seine.
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