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40 - Brachmond

An der Seine, Westfränkisches Reich

~

Der Regen prasselte unaufhörlich auf sie herab. In den Pfützen, die sich gebildet hatten, sprangen zwei Kinder glücklich umher, so dass das braune Wasser ihnen die Hosen beschmutzte. Aveline stand am Eingang des Bauernhauses und blickte die Frau, die ihr die Tür geöffnet hatte, flehend an.

„Bitte lassen Sie meinen Mann und mich für eine Nacht in Ihrer Scheune schlafen. Nur eine Nacht! Ich verspreche Ihnen, wir werden im Morgengrauen wieder verschwunden sein!", sagte sie durch ihre klappernden Zähne.

Ein Sturm war über sie hereingebrochen und Aveline hatte Rurik dazu überreden können, zu diesem einsamen Bauernhaus zu gehen um Unterschlupf zu suchen. Erst rieselte es nur ein wenig, aber dann hatten sich die Tröpfchen in Windeseile in einen strömenden Regen verwandelt und die beiden dazu gezwungen, das Trockene zu suchen.

Die misstrauischen dunklen Augen der Bäuerin wanderten von Aveline zu Rurik, der weiter weg auf dem Hof stand, seine Kapuze weit über den Kopf gezogen, so dass man seine nordischen Gesichtszüge nicht erkennen konnte. Der Rosenkranz lag deutlich sichtbar über dem Gewand auf seiner Brust. Die Frau musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen.

„Und warum trägst du keinen Ehering?", fragte sie an Aveline gerichtet, ohne den Blick von der grossen Gestalt auf ihrem Hofplatz abzuwenden.

„Wir wurden im Wald überfallen. Man hat uns alles gestohlen. Ich bitte Sie, gnädige Frau! Wir sind auf der Durchreise nach Paris und wollen für eine Nacht ein sicheres Dach über dem Kopf", sagte Aveline.

Sie hoffte, dass die Bäuerin endlich nachgeben würde, denn sie fror fürchterlich. Die Frau stemmte ihre Fäuste in die breite Hüfte, nach wie vor skeptisch.

„Kann der nicht für sich selbst sprechen? Schickt sein Weib, um betteln zu gehen?", murrte sie.

Aveline blickte flüchtig über die Schulter und sah, wie Rurik regungslos auf dem Hofplatz stand und neben ihm die Kinder im Dreck spielten. Seine normannische Kleidung war unter dem Mantel nicht zu erkennen. Die Frau hatte also eigentlich keinen Grund, so misstrauisch zu sein. Aveline überlegte fieberhaft, wie sie ihr Lügennetz weiter spinnen könnte.

„Er ist fast stumm", log sie. „Seine Kehle wurde vor einem Jahr von Wikingern durchtrennt. Er hat überlebt - dem Herr sei Dank - aber seither kann er kaum sprechen, nur krächzen. Sie würden ihn nicht verstehen. Wollen Sie seine Narbe sehen? Die sieht ganz fürchterlich aus."

„Nein, nein! Das muss ich nicht", winkte die Bäuerin ab.

„Wir suchen wirklich nur eine Unterkunft. Wir sind gute Menschen", murmelte Aveline und faltete ihre Hände vor sich zusammen.

Die stämmige Bäuerin wandte den Blick von Rurik ab und nickte dann.

„Also gut. Ihr könnt in die Scheune. Dort hinten bei den Schafen. Ich bringe euch eine Decke."

„Haben Sie vielen Dank! Gott segne Sie!", stiess Aveline aus und schüttelte dankend ihre Hand.

Als sie auf Rurik zuschritt, spürte sie, dass die Bäuerin sie noch immer misstrauisch beobachten musste. Sie blieb vor Rurik stehen und nahm seine Hand demonstrativ in ihre. Sie hoffte, dass er das Spiel mitspielen würde. Er hob den Kopf mit forschender Neugier in den Augen.

„Starrt sie immer noch?", fragte Aveline, woraufhin er nur stumm nickte. „Die glaubt mir nicht, dass wir verheiratet sind."

Rurik hob eine Augenbraue in die Höhe. 

„Wir sind verheiratet?"

Aveline spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Es war eine Notlüge gewesen. Eine doch sehr glaubwürdige, aber sein belustigter Blick brachte sie in Verlegenheit.

„Die würde uns sonst nie in ihre Scheune lassen, wenn wir nicht vermählt wären. Rurik, die Leute hier sind solchen Dingen gegenüber sehr voreingenommen. Eine junge Frau darf nicht mit einem Mann alleine unterwegs sein, der nicht ihr Bruder, Vater oder Ehemann ist. Ich musste sie anlügen, sonst hätten wir im Regen schlafen müssen. Wäre dir das lieber gewesen?"

Er schmunzelte und schüttelte den Kopf.

„Nein, mich stört das nicht", antwortete er und hob dann den Blick, um in die Richtung des Bauernhauses zu blicken, wo die Frau weiterhin im Türrahmen stand und sie taxierte. „Die starrt aber noch immer."

„Verflucht!", klagte Aveline.

Sie wollte der Bäuerin den Rücken zudrehen, denn ihr neugieriger Blick war äusserst unangenehm, aber da spürte sie Ruriks Hand an ihrem Arm. Er hielt sie zurück.

„Was denn?", fragte sie.

Er zog sie zu sich und fuhr ihr mit einer Hand durch ihre nassen Strähnen. Aveline blinzelte ihn fragend an. Seine Augen glänzten vergnügt, während er mit seiner Hand über ihre Wange strich.

„Das Weib braucht was zum Tratschen", flüsterte er und beugte sich vor, um Aveline einen Kuss auf die Lippen zu drücken.

Für einen unendlichen Augenblick schien die Zeit stillzustehen, bis Aveline realisierte, was er da gerade tat. Sie riss ihre Augen weit auf und sah, wie Rurik seine geschlossen hielt. Es musste von hinten täuschend echt wirken. Was die Bäuerin aber nicht sah, war, dass Rurik den Daumen auf Avelines Mund gelegt und seine Lippen nur auf seinen eigenen Finger gedrückt hatte. Es sah aus wie ein Kuss, es war aber keiner.

Die Hitze strömte Aveline dennoch ins Gesicht, denn ihr Mund war wortwörtlich nur einen Fingerbreit von seinem entfernt. Als er sich von ihr löste, kribbelten ihre Lippen, so als hätte er sie tatsächlich geküsst. Es wäre kein besonders leidenschaftlicher Kuss gewesen, aber ein zärtlicher. Einer, den sich Eheleute bloss flüchtig schenkten und der dennoch die Vertrautheit zwischen ihnen widerspiegelte. Avelines Wangen glühten plötzlich ganz heiss. Er grinste schief und hob seinen Kopf.

„Siehst du? Jetzt ist sie gegangen. Hat ihr als Beweis wohl gereicht."

„Oh", hauchte Aveline.

Er hatte das Spiel souverän mitgespielt. So gut, dass sie selbst darauf reingefallen war. Für einen kurzen Moment hatte Aveline tatsächlich gedacht, er hätte sie küssen wollen.

„Wo ist diese Scheune?", unterbrach er ihre Gedankenspirale. „Wir wollen ja nicht im Regen stehen bleiben."

„Hinter dem Schafgehege anscheinend", murmelte Aveline.

Er blickte über ihren Kopf hinweg und nickte, als er das Gebäude erkannte, das auf der anderen Seite des Hofes lag. Dann verkeilte er seine Finger in ihre, denn er wusste, dass die skeptische Bäuerin jederzeit durch ein Fenster oder einen Türspalt nachschauen könnte, ob ihre Lügengeschichte denn wirklich stimmte. 

Mit Aveline an der Hand marschierte er zur Scheune.

...

Das Tor quietschte laut, als Rurik es aufstiess und ins Trockene trat. Aveline folgte ihm und zog sich die Kapuze vom Kopf. Ihr Umhang war nass, aber die Feuchtigkeit war glücklicherweise nicht bis zur Kleidung gedrungen. Nur ein paar nasse Locken hingen ihr ins Gesicht, welche sie nach hinten warf. Sie rieb sich die Oberarme, denn die Kälte kroch durch die Balken ins Innere.

Rurik wollte gerade seinen schwarzen Umhang von den Schultern gleiten lassen, da hielt Aveline ihn auf.

„Warte. Die Bäuerin bringt uns noch Decken für die Nacht. Es ist besser, wenn sie dein Gesicht nicht sieht."

Während sich Aveline die Hände warm rieb, schlenderte Rurik durch die Scheune und betrachtete die Werkzeuge und Utensilien, welche hier gelagert wurden. Der Schupfen war zwar klein, wies allerdings einen zweiten Stock auf, der mit stabilen Querbalken und zahlreichen Holzlatten gezimmert worden war und dem Bauer dazu diente, sein Heu und Stroh für die Schafe zu lagern. Der Zwischenboden war über eine kleine Leiter erreichbar, die am Bretterrand lehnte und mitten im Raum stand.

Aveline blieb mit klopfendem Herzen stehen, ihre Lippen brannten noch immer von dem dezenten Kuss, den er vorgetäuscht hatte. Rurik wirkte abgelenkt durch all die staubigen Gegenstände und merkte nichts von Avelines Befangenheit. Wie immer schienen ihn diese Dinge kaum aus der Fassung zu bringen. 

Da knarzte es hinter ihr und das Tor wurde aufgezogen.

„Ihr dürft da oben auf dem Heuboden schlafen. Es kann kalt werden in der Nacht", sagte die Bäuerin und reichte Aveline ein kleines Bündel.

„Haben Sie vielen Dank", murmelte Aveline und nahm den Stoff mit einer höflichen Verbeugung dankend entgegen.

Die neugierige Bäuerin warf einen letzten misstrauischen Blick auf Rurik, der ihr den Rücken zugedreht hatte, damit sie sein Gesicht nicht sah, dann liess sie die beiden alleine.

Als das Scheunentor zu fiel, warf sich Rurik erleichtert den Umhang von den Schultern und befestigte ihn zum Trocknen an einen Haken. Er strich seine nassen Haare nach hinten und fuhr sich mit der Handfläche übers Gesicht. Der Schlamm war an seinen vorderen Strähnen durch den Regen ausgewaschen worden. Das Blond kam allmählich wieder zum Vorschein.

„Wir werden hier drin trocken schlafen können!", meinte er deutlich zufrieden über die Unterkunft.

Aveline nickte gedankenverloren und strich mit der Hand über die Decke. Die Rolle fühlte sich ziemlich dünn an, weswegen sie den Stoff auseinander faltete.

„Die hat uns nur eine Decke gegeben!", stiess sie erschrocken aus.

Rurik war schon auf die Leiter geklettert, um den oberen Stock der Scheune zu untersuchen, da blieb er auf halbem Weg auf der Holzleiter stehen. Auf seinem Gesicht hing ein scherzhafter Ausdruck.

„Als Ehepaar schläft man schliesslich im selben Bett, da braucht man nicht zwei Decken!", meinte er.

Aveline verdrehte die Augen, denn sie hatte schon damit gerechnet, dass er sie deswegen necken würde.

„Du weisst, was ich meine! Dieser Fetzen wird uns nicht warm halten", wehrte sie sich und warf ihm die viel zu kleine Decke an den Kopf.

Er lachte, fing den Stoff in der Luft auf und klemmte ihn unter die Achsel. Dann kletterte er die letzten Sprossen nach oben und sprang auf den Heuboden, sodass es den Staub aufwirbelte und das Holz unter seinem Gewicht knirschte.

„Ganz schön kuschlig hier", meinte er von oben herab, während er den Zwischenstock abschritt.

Aveline blickte zu Boden und hielt sich ihre kalten Hände an die heissen Wangen. Sie wusste, dass er sie absichtlich aufzog, denn er war seit Lucas Verschwinden scherzhafter geworden. Erst war die Stimmung zwischen ihnen leicht angespannt gewesen. Mit der Zeit hatte Rurik die Gemütslage mit seinen Witzen aufzulockern versucht und hin und wieder war es ihm sogar gelungen, ein Lächeln aus Aveline zu entlocken.

„Bei der Menge Heu hier oben werde ich mich zudecken können. Du kannst die löchrige Decke haben", meinte er und Aveline hörte, wie er sich auf einen Heuhaufen geworfen haben musste, denn die Holzbretter über ihr ächzten panisch unter seinem Gewicht.

Sie schmunzelte. Es fühlte sich an manchen Tagen fast wieder so an, wie früher, nur dass da trotzdem diese Bitterkeit war, die immer dann auftauchte, wenn sie sich lachend in die Augen blickten. Immer dann rückte ein Keil zwischen sie und ihre lächelnden Gesichter erstarrten, wie wenn sie ihr eigenes Versteckspiel erkannt hätten. Das Scherzen war für sie beide eine Methode, um von der unangenehmen Realität abzulenken.

Aveline wusste, dass es unvermeidlich war. Irgendwann würden sie darüber sprechen müssen. Obwohl sie seit einiger Zeit nun schon gemeinsam unterwegs waren und sich die Gelegenheit für eine Aussprache bereits mehrfach ergeben hätte, hatten sie es noch nicht geschafft. Sie wusste, dass sie ihn zur Rede stellen musste, denn auf lange Zeit war dieses Verdrängen keine Lösung mehr - für sie beide nicht.

Aber jetzt gerade konnte sie nicht. Nicht bevor sie ihm diese eine Sache beichtete. Mit Luca war es nicht möglich gewesen, einen ruhigen Augenblick zu finden und nach dem grossen Streit hatte sie das Thema sowieso nicht mehr anschneiden wollen. Jetzt, wo sie nur zu zweit unterwegs waren, gab es keine Ausrede mehr. Sie musste es ihm sagen. Sie musste ihm von dem verlorenen Kind erzählen.

Draussen prasselte der Regen hörbar stärker auf die Welt herab. Das Dach der Scheune war dicht und hielt den herunterfallenden Wassermassen stand. Rurik war auf dem Zwischenboden still geworden. Vielleicht döste er bereits?

Eine ganze Weile lang blieb Aveline im unteren Stock des Heuschuppens und dachte nach. In ihrem Kopf formulierte sie die Sätze, die sie ihm sagen wollte, aber es fühlte sich alles so künstlich und falsch an. Je länger sie darüber grübelte, desto nervöser wurde sie. Nur schon daran zu denken bereitete ihr grosse Mühe, denn alles, was es tat, war, diese schrecklichen Erinnerungen hervorzurufen, die ihr so schwer in der Brust wogen. Aveline atmete tief aus. Sie musste es einfach tun, da half alles Denken nicht. Er musste es erfahren!

Entschlossen packte sie die Sprossen der Holzleiter und kletterte zu ihm hoch. Die Bretter des Zwischenbodens knirschten, als sie darauf trat. Es roch intensiv nach getrockneten Gräsern, Kräutern und Wildblumen, als lägen sie in einer frisch gemähten Wiese. Sie blickte um sich. Grosse Heukegel lagen zu beiden Seiten und bedeckten den ganzen Stock. Rurik hatte recht gehabt, sie brauchten hier gar keine Decke. Bei all dem Trockengras konnten sie sich ihr eigenes Nest bauen, wenn sie wollten.

„Rurik?", fragte sie in den Raum hinein, denn sie sah ihn nicht.

Er musste sich irgendwo im Heu vergraben haben. In der Dunkelheit konnte Aveline seine Umrisse nicht erkennen. Sie humpelte über das Heu und suchte einen Büschel ab, aber sah ihn nirgendwo.

„Hier", hörte sie ihn aus einem Heuberg sprechen, der rechts neben ihr lag.

„Ah", sagte sie und blieb daneben stehen.

Rurik streckte seinen Kopf aus dem getrockneten Gras. Das Lächeln, das seinen Mund umspielte, verstarb sofort, als er ihren betrübten Gesichtsausdruck sah. Er musterte sie stirnrunzelnd.

„Was ist los?"

Sie wusste nicht genau, wohin sie ihre Hände tun sollte. Etwas steif stand sie vor ihm und suchte nach Worten. Ihr Herz schlug ihr plötzlich bis zum Hals. Den ganzen Mut, den sie unten noch gespürt hatte, hatte sich in Luft aufgelöst.

„Kann ich... können wir... reden?", stammelte sie.

Er erhob sich aus dem Heu und blickte sie verwundert an. Vorsichtig kam er näher. Er schien die Veränderung in ihrer Tonlage gehört zu haben.

„Was willst du besprechen?"

Aveline zögerte und versuchte, die innere Stimme, die ihr zurief, sie solle es doch nicht tun, zu überhören. Diese Stimme hatte ihr schon die Tage zuvor eingeredet, dass es nicht der richtige Zeitpunkt sei, um ihm davon zu erzählen. Aber wann war schon der richtige Zeitpunkt für sowas? Sie schluckte leer, denn ihr Mund war plötzlich ganz trocken geworden.

„Ich... Ich muss dir was sagen", murmelte sie und wandte den Blick von ihm ab, denn es machte das Sprechen schwieriger.

Er senkte seinen Kopf, auf der Suche nach ihrem Blickkontakt, aber sie schaffte es nicht, seinen hellblauen Augen zu begegnen.

„Was willst du mir denn sagen?", fragte er.

„Ich... Ich...", stotterte Aveline.

Der Kloss in ihrem Hals wurde grösser. Die Furcht nahm Überhand und sie sah schon, wie sie diesen Versuch wieder abbrechen würde, denn sie schaffte es einfach nicht.

„Ich kann es nicht", murmelte sie und verschränkte die Arme vor sich, als ob sie sich selbst Halt geben musste.

„Was plagt dich denn? Erzähle es mir."

Sein Blick war milde, so wie er sie schon all die Tage zuvor angeschaut hatte, als sie vor Furcht nur zittern konnte oder wenn die Zweifel kamen, ob sie es jemals schaffen würden. Er hatte sie stets ermutigt und ihr mit seiner zuversichtlichen Art Hoffnung gegeben, dass sie dieses schier unmögliche Ziel, ihren Bruder zu finden, erreichen könne - mit ihm zusammen. Er war für sie da und würde es bis zum Schluss sein.

Und weil er ihr so selbstlos zur Seite stand und sich zudem gerade anerbot, die Last ihrer quälenden Gedanken auch noch auf sich zu nehmen, fühlte sie sich verpflichtet, ihm von dieser Sache zu erzählen; Ihm das Ereignis zu schildern, das ihr das Herz gespalten hatte. Sie war es ihm schuldig, das wusste sie.

Sein sanftmütiger Blick und das freundliche Lächeln auf den Lippen lösten allerdings ein dumpfes Gefühl in ihrem Magen aus. Obwohl er ihr mit seiner rücksichtsvollen Art Mut zusprechen wollte, bezweckte er damit genau das Gegenteil. Es schnürte Aveline den Hals zu.

„Du weisst doch, dass du mir alles sagen kannst", meinte er.

Sie biss sich auf die Unterlippe. Es kostete sie Überwindung, ihm von dem schmerzlichen Verlust zu erzählen, der nicht nur ihrer war, sondern auch seiner. Sie musste ihm mit ihren Worten das Herz brechen und das fiel ihr unglaublich schwer.

Sie atmete tief ein und schloss die Augen. Dann formte sie diese grässlichen Worte in ihrem Mund. Ihre eigene Stimme klang fremd, als sie die Bürde von ihren Schultern lud.

„Ich habe unser Kind verloren."

Als sie aussprach, was geschehen war, blitzten nochmals die Erinnerungen in ihrem Kopf auf. Der Tag in Hedeby. Der Schweinestall. Der Schlamm. Das Blut. Tränen bildeten sich in ihren Augen und trübten ihr die Sicht, so dass sie blinzeln musste, um seine Reaktion zu sehen. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. Verwirrung. Bestürzung.

„Was hast du?", fragte er nach, wie wenn er nicht sicher war, ob er richtig gehört hatte.

Das Eis seiner Augen stach auf sie ein. Sie schluckte leer und wiederholte sich.

„Ich habe unser Kind verloren."

Er starrte sie ungläubig an. In seinem Kopf mussten die Gedanken toben, denn er sagte nichts. Er war sprachlos. Es dauerte unendlich viele Atemzüge, bis er es begriff, bis seine Gedanken das Ausmass ihrer Aussage fassen konnten.

„Du warst mit Kind?! Mit unserem Kind?!"

„Ja", nickte Aveline und legte ganz automatisch eine Hand auf ihren brachen Unterleib, in trauriger Erinnerung.

In seinen Augen flackerte etwas, das Aveline nicht genau ausmachen konnte, was es war. Wie wenn das Licht bei einer Sonnenfinsternis von einem Moment auf den anderen verschwindet, nur um wenig später wieder aufzutauchen, aber in der Zeit, in der die Sonne verdunkelt ist, die Nacht sich über die Welt legt - genau so verloren Ruriks Augen ihr Leuchten. Mit dem Unterschied, dass dies anders als bei der Sonnenfinsternis eher einem endgültigen Erlöschen glich, als einem kurzzeitigen. Ein unheimlich düsterer Schatten lag plötzlich auf seinem Gesicht.

Aveline jagte bei dem Anblick ein kalter Schauer über den Rücken. Er schwieg, nur seine Kiefermuskeln mahlten ununterbrochen. Seine ganze Körperhaltung hatte sich verändert. Die Schultern waren leicht eingesackt, sein Kopf neigte sich nach vorne. Die hellblauen Augen jagten auf dem Boden vor und zurück. Er schien tief in Gedanken zu sein. Allem Anschein nach keine schönen Gedanken.

Etwas verunsichert über seine Reaktion versuchte Aveline das, was sie ihm soeben offenbart hatte, zu erklären.

„Ich... ich wusste es nicht. Ich habe es erst gemerkt, als es schon zu spät war. Mein Körper hatte keine Kraft mehr, ich konnte es nicht mehr in mir halten. In Hedeby ist es passiert. Es tut mir leid. Es ist meine Schuld, dass ich..."

Ihre Stimme versagte und die Tränen kullerten über ihre Wangen. Die Wunde in ihrem Herzen riss und begann zu bluten. Es brannte fürchterlich. Die Mauer, die sie zum Schutz aufgebaut hatte, bröckelte plötzlich und fiel in sich zusammen. Der Schmerz überwältigte sie und die Trauer über den Verlust nahm sie ein. Sie hielt sich die Hand an die Brust, um gegen das schmerzhafte Pochen ihres Herzens zu drücken.

Rurik trat augenblicklich näher an sie heran und schlang seine Arme um sie. Unmittelbar wurde sie von der vertrauten Wärme und den wohligen Geruch seines Körpers umhüllt. Nasses Leder, Heu und Tannennadeln. Er drückte sie fest an sich und hielt sie in seinen Armen.

„Sag das nicht", flüsterte er.

Wie wenn seine Umarmung den Knoten in ihrer Kehle gelöst hätte, schluchzte sie hemmungslos in seine Brust hinein. Sie hielt die Gefühle, die sie so lange unterdrückt hatte, nicht mehr zurück.

„Doch, ist es! Ich hätte nicht so schnell aufgeben dürfen. Ich wollte jagen und fischen, aber es ging nicht. Ich war nicht gut genug. Ich war zu schwach. Es ist alles meine Schuld!"

Ein lauter Schluchzer entkam ihrem Hals. Die Tränen nässten seine Tunika. Sie drehte ihren Kopf zur Seite und drückte ihre Wange an seine Brust. Ihre Finger klammerten sich nach Trost suchend an seine Kleidung. Er hielt sie fest und sicher an seinen Körper gepresst und liess sie trauern.

„Es ist nicht deine Schuld", murmelte Rurik und strich mit seiner Hand über ihre Haare.

Sie schüttelte kaum merkbar den Kopf und drückte sich von seiner Umarmung weg, damit sie ihm in die Augen blicken konnten. Sie wollte sicherstellen, dass er die Wahrheit in ihren Augen sah. Dass jedes Wort, das sie ihm sagte, aus tiefstem Herzen kam.

„Wenn ich es vorher gewusst hätte, ich hätte weitergekämpft, wirklich. Das musst du mir glauben! Es tut mir so leid, Rurik. Ich wollte es nicht verlieren."

Seine Augen ruhten lange auf ihren. Sie sah, wie das helle Meer darin Wellen schlug, aber er liess den Sturm nicht nach draussen. Er hielt sich zurück, allerdings glitzerte eine Träne in seinen Augenwinkeln, das sah Aveline ganz genau. Mit einer so zärtlichen Berührung, wie es Aveline schon lange nicht mehr kannte, strich er ihr eine Strähne aus der Stirn und legte ihr Gesicht in seine Hände. Dann senkte er den Kopf und lehnte seine Stirn an ihre.

Er schloss die Augen und Aveline tat es ihm gleich. Stirn an Stirn standen sie einander gegenüber, im gemeinsamen Verlust vereint. Die Wärme seiner Hände drang ihr durch die Wangen und floss in ihr Herz, um die Wunde zu heilen. Wie sie so da standen, spürte Aveline, dass seine Nähe genau das war, was sie brauchte. 

Rurik schluckte schwer. Sie sah an seiner gekräuselten Stirn, wie sehr ihm diese Offenbarung weh tat, wie sehr er gerade selbst um Fassung rang.

„Oh, Rurik", hauchte sie.

Er schlug die Augen auf und musterte ihr Antlitz, so wie er es in seinen Händen hielt. Ein nachdenklicher Ausdruck hing auf seinem Gesicht. Dann sprach er mit ruhiger Stimme, wie wenn die Worte, die folgten, ihm selbst Trost spenden würden:  

„Das Licht unsers Kindes leuchtet jetzt bei Odin in den Sternen."

Aveline blickte ihn traurig an.

„Bei Odin?", murmelte sie.

„Odin nimmt alle Sternenkinder zu sich auf und gibt ihnen den schönsten Platz am Himmelszelt."

Aveline weinte. Seine Worte trafen sie mitten ins Herz.

„Wirklich?"

Er nickte und strich ihr mit dem Daumen über die Wange.

„Dort, wo sie am hellsten strahlen können."

Es war eine Berührung voller Zuneigung und Verständnis. Voller Liebe. In diesem Moment fühlte sich Aveline ihm so verbunden wie schon lange nicht mehr. Sie schloss die Augen.

„Es tut mir leid", murmelte sie dann und blinzelte die Tränen weg.

„Mir auch", antwortete er. „Es tut mir leid, dass du alleine warst."

Das Hellblau schimmerte traurig und voller Bedauern. Als er seine Hände von ihrem Gesicht nahm, schlug augenblicklich die Kälte auf Avelines Wangen. Sie hob eine Hand an die Stelle, wo seine noch gelegen hatte, so als könne sie damit die Wärme einfangen, die sich ihr entziehen wollte.

„Ich war nicht alleine. Eine Freundin war an meiner Seite."

Er schüttelte den Kopf und seufzte.

„Aber ich hätte da sein sollen. Ich hätte da sein wollen."

Sie blickte ihn bekümmert an. Die Worte schmeckten bitter, denn auch sie hatte sich das gewünscht. So sehr hatte sie sich damals nach ihm gesehnt.

Ohne zu überlegen schlang sie ihre Arme wieder um seinen Oberkörper und drückte ihn. Sie bemerkte seine leichte Überraschung und wie er zögerte. Sie umarmte ihn aber nur fester, denn seine Nähe milderte den Schmerz. Da senkte er den Kopf in ihren Nacken und legte seine warmen Hände auf ihren Rücken. Auch er brauchte diese Umarmung.

„Jetzt bist du da", flüsterte sie.

Eine ganze Weile lang standen sie eng ineinander verschlungen und teilten sich das Leid über den gemeinsamen Verlust eines Lebens, das sie hätten führen können, wenn alles anders gekommen wäre. Ein Leben, das nie so sein würde, aber sich beide irgendwie gewünscht hatten.

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