4 - Lenzmond
Vestervig, Nordjütland
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Eine frische Brise wehte vom Meer über die Landschaft und liess die Menschen in Vestervig schlottern. Im Norden konnte das Wetter im Frühjahr trügerisch sein. Es war die Jahreszeit, in der man sich bei einer Unachtsamkeit schnell eine Erkältung einfing.
Jarl Ragnar Sigurdson stand mit einer Delegation seiner Sippenältesten, dem jungen Rollo und dessen Vater Jarl Björn Graubart aus Skagen draussen in der kühlen Luft. Die Männer warteten vor dem Haus des Pferdemeisters, denn sie wollten mit ihm um den Brautpreis seiner Tochter feilschen. Ragnar hatte dem Verbündeten Björn Graubart eine Vermählung zwischen dessen Sohn und einer Frau seiner eigenen Sippe versprochen. Im Tausch dafür hatte Björn geschworen, gemeinsam mit zwei anderen grossen dänischen Jarlen, Ragnar zum König von Jütland zu erheben und ihn in seinen grössenwahnsinnigen Eroberungsvorhaben zu unterstützen. Der junge Bursche des Skageners hatte seine Gemahlin selber auswählen dürfen. Seine Entscheidung war auf die Tochter des Pferdemeisters gefallen - Torvi.
Wie es zur Tradition gehörte, sollten jetzt die Männer beider Sippen über den Preis der Braut verhandeln. Hartnäckig sollte einerseits der Brautpreis - welcher an den Vater der Braut bezahlt wurde - und die Mitgift - welche der Vater der Braut dem Bräutigam übergab - ausgehandelt werden.
Sie standen frierend vor dem Haus, denn der Vater von Torvi liess sie warten - mit hoher Wahrscheinlichkeit absichtlich. Rollo stampfte nervös auf und ab. Seine haselnussbraunen kurzen Haare wehten in der Brise. Sein jungenhaftes Gesicht wirkte besorgt, denn er befürchtete, dass dieser Versuch - der eigentlich schon sein zweiter war - wieder schief gehen könnte.
Er trug eine dunkelblaue Tunika mit weiss bestickten Ärmeln. Der lederne Hüftgurt, an welchem sein Schwert hing, liess sein Hemd in Falten über seine Oberschenkel fallen. Eine dunkelbraune Hose war darunter zu erkennen, die in seine Lederstiefel gestopft worden war. Er hoffte, dass er mit seiner edlen Kleidung Eindruck beim Vater der gewünschten Braut schinden könne.
Erst hatte er eigentlich eine andere Frau wählen wollen, aber es hatte sich herausgestellt, dass sie verschwunden war. Die schöne Heilerin der Stadt - Aveline - hatte es ihm wirklich sehr angetan, aber als er wenige Tage zuvor an die Tür ihrer Wohnstube geklopft hatte, war er nur von einem düster reinblickenden Bauer verscheucht worden. Die Heilerin habe die Stadt verlassen, hatte dieser Mann ihm gesagt. Enttäuscht war Rollo wieder gegangen.
Torvi, die Tochter des Pferdemeisters, war seine zweite Wahl, aber sie war fast so schön, wie seine erste. Ihre braunen Haare reichten ihr bis zu den Schultern und umrahmten ihr liebliches Gesicht. Ihre dunklen Augen glichen den eines schüchternen Rehs. Sie gefiel ihm doch auch sehr, das musste Rollo schon zugeben. Sicherlich würde sie eine hübsche Braut abgeben, wenn doch bloss ihr Vater endlich vor die Tür treten würde.
Ragnar betrachtete den nervösen Burschen mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. Die Narbe verzog seinen Mund in eine Schieflage, so dass seine gelben Zähne hervorblitzten. Seine rostblonden Haare hatte er streng nach hinten gestrichen.
„Lass dich nicht von einem störrischen Vater verunsichern!", grunzte Ragnar dem jungen Mann zu.
Rollo blickte ihn nervös an.
„Ich will mir keine weitere Peinlichkeit leisten, Jarl Ragnar. Es war schon demütigend genug, an der Türschwelle zu erfahren, dass die Heilerin die Stadt verlassen hatte."
Ragnar bleckte die Zähne bei dem Gedanken. Ja, wahrlich. Es war ärgerlich, dass die Fränkin einfach spurlos verschwunden war. Die besondere Frau, die er erstmals in der Geschichte seiner Sippe als Fremde in die nordische Gesellschaft und in seine Sippschaft aufgenommen hatte, war wie vom Erdboden verschluckt worden.
Ein Blutbad hatte man nach ihrem Verschwinden in dem Haus, in welchem bescheidene Leute sie mit offenen Armen willkommen geheissen hatten, vorgefunden. Das ungute Gefühl in seinem Magen sagte Ragnar, dass die Heilerin wohl verantwortlich sein musste, für das, was dort vorgefallen war. Ausgerechnet seinen besten Krieger hatte sie ihm genommen. Diese verfluchte Fränkin! Ein Knurren entkam seiner Kehle.
Wenn sie jemals in seine Hände fallen würde, dann würde sie sich wünschen, niemals den Zorn des mächtigsten Jarls von Jütland geweckt und die ihr geschenkte Ehre mit Füssen getreten zu haben. Er würde diese zarte Pflanze, die er stets so freundlich behandelt hatte, mit seiner Faust zerquetschen, wenn er könnte.
Die Tür zum Haus des Pferdemeisters ging auf und Rollo blieb plötzlich wie erstarrt stehen. Halvdan, der dicke Vater der zu vermählenden Torvi trat mit ernstem Blick heraus. Sein dichter Bart verdeckte seinen Hals und liess ihn noch runder wirken. Er rieb sich seinen Bauch und hob die buschigen Augenbrauen überrascht hoch, als er den schmächtigen Mann vor sich taxierte.
„Du Häufchen willst meine Torvi zur Frau nehmen?", platzte es aus dem breiten Mann heraus.
„Nenn meinen Jungen nicht so! Er wird noch zu einem richtigen Mann, schliesslich fliesst Skagener Blut in seinen Adern!", knurrte Björn Graubart zur Verteidigung seines Sprösslings und verschränkte die Arme vor seinem eigenen breiten Körper.
Halvdan lachte auf.
„Das will ich sehen! Der muss ja noch zweimal so gross werden, wie jetzt, um nur halbwegs wie ein echter Kerl zu wirken! Ich verscherble meine Tochter doch nicht an so einen Jüngling!"
Björn ballte die Fäuste. Er mochte es nicht, wenn man sich über seinen letzten Sohn, den er noch unter den Lebenden zählen durfte, lustig machte. Rollo blickte enttäuscht zu Boden, denn er rechnete schon mit dem Schlimmsten - einer zweiten Abfuhr.
„Halvdan!", warf Ragnar ein, denn er sah, dass die Verhandlungen nicht gerade gut begonnen hatten. „Ich hoffe doch sehr, dass deine Pferde alle wohlauf sind."
Halvdans Gesichtszüge enthärteten sich bei den Worten seines Jarls.
„Die Biester sind alle bei bester Gesundheit!", rief er stolz.
„Das habe ich mir schon gedacht, mein guter Pferdemeister. Jeder weiss, dass du deinen Tieren gut Sorge trägst."
„So ist es", grummelte Halvdan.
„Nun wundert es mich aber, dass du nicht das Gleiche mit deiner Tochter tust. Hat sie es nicht auch verdient, genau so glückselig zu sein, wie deine Pferde?", fragte Ragnar.
Der Pferdemeister presste die Lippen zusammen.
„Was meinst du damit?", knurrte er.
„Willst du nicht das Beste für deine liebe Tochter?"
„Doch, natürlich!"
„Dann gib es ihr, du Lümmel! Das Beste für deine Tochter steht gerade vor dir: Rollo. Der Sohn und Erbfolge meines Freundes, Björn Graubart - Jarl aus dem nördlichsten Punkt in Jütland. Mein guter Halvdan, er ist ein Skagener mit Herz und Blut, die stursten und ehrlichsten Männer Jütlands. So einer will deine Tochter heiraten. Rollo ist ein Mann von hohem Stand, selbst wenn der Bartwuchs ihn vergessen hat. Er wird deiner Tochter alle Wünsche erfüllen können und ihr mit der Hochachtung begegnen, die sie verdient hat. Willst du das nicht für deine Torvi?"
Halvdan guckte verwundert von Ragnar zum stämmigen Björn Graubart und dann zum potenziellen Gatten seiner Tochter. Er überlegte.
„Was bietet er?", fragte er dann.
„An Münzen soll es nicht fehlen! Der Skagener bietet sage und schreibe zwei Kisten voller Schätze für deine schöne Torvi! Eine Kiste gefüllt mit Kupfermünzen und eine weitere Kiste mit dem edelsten Skagener Bernstein, den du je in deinem Leben erblickt haben wirst!"
Die Augen des Vaters der Braut weiteten sich vor Erstaunen. Das war ein mächtiger Brautpreis! Ein Preis, der nur ein Verrückter abschlagen würde. Dennoch wollte er eine letzte Frage stellen, bevor er seine Entscheidung kundtat. Er wandte sich dem Burschen zu, der ihn immer noch mit unsicheren Augen anblickte.
„Mein Junge, hast du denn schon Worte mit meiner lieben Torvi ausgetauscht? Teilt sie deine Zuneigung?"
Rollo schluckte leer und nickte. Ja, natürlich hatte er mit ihr gesprochen. Er würde doch nie in seinem Leben ein Mädchen zur Frau nehmen wollen, mit welcher er noch kein Wort getauscht hatte.
„Wir haben uns auf dem Markt getroffen, ein Zufall wollte es so. Dort haben wir für lange Zeit gesprochen. Eure Tochter ist bezaubernd, ich muss zugeben, ihr Anblick hat mein Herz höher schlagen lassen. Ich hege grosse Wertschätzung ihrem lieblichen Wesen gegenüber. Sie hat mir ins Ohr geflüstert, dass sie Herzenswärme für mich verspüre. Das waren ihre eigenen Worte. Fragt sie selbst, wenn Ihr mir nicht glaubt."
Halvdan formte seine Augen zu schlitzen.
„Gib mir dein Wort, dass du ihr niemals Leid zufügen wirst!", donnerte er.
Rollo wich nicht zurück. Er fühlte sich viel zuversichtlicher, als zu Beginn. Ein Ehrenwort? Das war für einen geborenen Skagener ein Leichtes.
„Ihr habt mein Wort. Bei allem, was ich habe und bei der Ehre meiner Ahnen, ich verspreche, dass ich sie ebenbürtig und mit Würde behandeln werde, bis ans Ende unserer Zeit. Und wenn ich Euch das Gegenteil mit niederträchtigen Handlungen beweisen sollte, dann sei Euch das Recht gewährt, mir den Kopf abzuschlagen!"
Halvdan grinste zufrieden. Wenn es wirklich dazu käme, dann würde er diesem Schlegel nur zu gerne den Kopf mit baren Händen von seinem kleinen Körper reissen.
„Einverstanden!", verkündete er.
Björn, Ragnar und die männlichen Sippenangehörigen, die gekommen waren, freuten sich über seine Entscheidung. Ein zufriedenes Raunen ging durch die Männergruppe.
„Und was bringst du unserer Familie als Mitgift?", dröhnte Björn und stemmte seine beiden Hände in die Hüfte.
Noch waren die Verhandlungen nicht beendet. Halvdan stampfte dem Skagener mit schweren Schritten entgegen.
„Blick dich um, grosser Björn Graubart. Was siehst du? Einen Hof voller Pferde. Dies ist das Erbe, welches ich meiner Tochter hinterlassen werde, denn sie ist mein einziges Kind. Ein Hof mit siebzehn vollblutigen Rössern. Eine solche Mitgift hast du in deiner Lebzeit auch noch nie gesehen, was?"
Björn hob amüsiert die Augenbrauen und grinste.
„Da hast du wohl Recht."
„Und, was sagst du dazu, mein Freund?", fragte Ragnar an Björn gerichtet.
Er wollte diese Diskussion schnellstmöglich beenden, denn er hasste es, sich um solche Angelegenheiten kümmern zu müssen. All dies tat er nur, weil er Björn im Gegenzug für seine Loyalität versprochen hatte, dass die Vermählung mit seinem Burschen noch vor Abfahrt ins Frankenreich stattfinden würde. Es galt keine Zeit mehr zu verlieren, denn in sechs Tagen wollten sie bereits für ihre Raubzüge aufbrechen. Die Diskussion schien sowieso beendet zu sein.
„Meinetwegen", grunzte Björn, woraufhin er die fleischige Hand von Halvdan packte.
Die Männer schüttelten sich kräftig die Hände und klopften sich auf die Schultern. Rollo seufzte erleichtert und freute sich, dass er die liebe Torvi bald seine nennen durfte. Er wusste auch schon, was er ihr als morgendliches Brautgeschenk überreichen würde: Den wunderschönen Halsring aus Bernstein und Silber, welcher seiner Mutter gehört hatte. Ein Wendelring, der einer braunhaarigen Schönheit sicherlich gut stehen würde. Er konnte es kaum glauben, dass er in absehbarer Zeit vermählt sein sollte. Mit schönen Gedanken in seinem Kopf folgte er der Männergruppe zurück in die grosse Versammlungshalle.
...
Am Tag von Frigg wurden die beiden vermählt. Torvi verbrachte den Vormittag ihrer Hochzeit mit ihrer Mutter und anderen verheirateten Frauen, wo sie in die Geheimnisse des Ehelebens eingeweiht wurde. Die Frauen hatten ihr so einiges zu erzählen, wie man sich den Gatten bei Laune halten konnte. Dazu gehörten unter Anderem die Zubereitung von köstlichen Speisen oder die Beglückung des Mannes im Ehebett. Torvi schmunzelte, denn beim Zweiteren hatte sie schon mehr als genug Erfahrung sammeln dürfen.
Ihr persönlicher Kopfkranz, den sie als ledige Frau getragen hatte, wurde durch eine Hochzeitskrone aus geflochtenen Weizengräsern und Blumen ersetzt. Danach wurde sie rituell von den Frauen gewaschen und in ihr weisses Hochzeitsgewand gekleidet. Sie sah schön aus und ihre Mutter vergoss bei dem Anblick ihrer Tochter nicht wenige Freudentränen.
Rollo hingegen verbrachte seinen Vormittag mit seinem Vater und männlichen Bekannten. Für ihn galt es, die Schwertzeremonie erfolgreich zu bestehen, um seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Das Schwert seiner Ahnen wurde am Hafen von Vestervig im Wasser versenkt und seine Aufgabe bestand darin, die Waffe aus den Tiefen des Ozeans zu fischen. Sein Tauchgang wurde unter lautem Johlen und Gebrüll von seinen männlichen Begleitern angefeuert. Glücklicherweise gelang es ihm, beim ersten Versuch schon das Schwert aus dem Meer zu holen. Triumphierend kam er aus dem Wasser gewatet und hielt die Waffe in die Lüfte.
Danach wurde auch er gewaschen und in eine elegante, grüne Tunika mit dunklen Hosen gekleidet. Die Männer um ihn herum gaben ihm ihre besten Ratschläge, wie er seinen Pflichten als Ehemann nachgehen könne. Ihm wurden die kuriosesten Dinge darüber erzählt, wie er seine Frau im ehelichen Bett befriedigen könne. Der jungfräuliche Rollo schluckte leer beim Gedanken daran, dass er bald seine Männlichkeit vor den Augen eines Weibes unter Beweis stellen musste.
Am Nachmittag fand die Vermählung am Vesterhügel statt. Rollo stand umringt von seinen Familienangehörigen bereit, seine Frau aus den Händen ihres Vaters zu empfangen. Torvi ging mit Halvdan im Arm und ihrer erweiterten Familie im Schlepptau langsamen Schrittes den Hügel hinauf. Der Anblick seiner schönen Braut verpasste Rollo ein breites Lächeln aufs Gesicht. Die Freude war ihm deutlich anzumerken. Mit pochendem Herzen empfing er seine Braut und löste sie von den Armen ihres Familienoberhaupts.
Torvi strahlte über alle Backen. Sie freute sich, dass sie mit einem solch reichen Mann vermählt werden würde. Ihre Zukunft und die ihrer Kinder war mit diesem Bündnis gut abgesichert und ausserdem fand sie den Burschen ziemlich entzückend. Da war es für sie unerheblich, dass er nur ein halber Mann war, denn sie würde schon noch einen Mann aus ihm machen. Das hatte ihre Mutter schliesslich auch mit ihrem Vater getan.
Das Paar stand sich gegenüber und hielt sich die Hände. In einem Halbkreis standen ihre Nächsten um sie herum und zwischen ihnen der hohe Priester Radvaldur, dessen Aufgabe es war, die beiden zu vermählen.
„Wir stehen hier alle, um Zeuge von dem Bündnis dieser zwei Menschen zu werden", sprach Radvaldur mit erdiger Stimme. „Mit diesem Eid verbinden sich nicht nur diese Eheleute, sondern auch ihre Familien und schliesslich ihre Sippen. Möge diese Verbindung von den Ahnen gesegnet werden."
Björn Graubart trat hervor und reichte seinem Sohn das Ahnenschwert seiner Sippe. Das selbe Schwert, das Rollo aus dem Wasser gezogen hatte.
„Meine schöne Torvi. Mit diesem Schwert bringe ich dir die Seele meiner Abstammung. Bewahre es gut auf, meine Braut. Mit dir soll meine Linie weiterleben", sagte Rollo mit zittriger Stimme und streckte seiner Braut das Schwert mit beiden Händen hin.
Torvi hob es vorsichtig von seinen Händen und küsste den hölzernen Griff. Dann wurde ihr ihr eigenes Ahnenschwert gereicht, welches sie in gleicher Weise ihrem Gatten übergab.
„Mein mutiger Rollo. Mit diesem Schwert bringe ich dir die Seele meiner Abstammung. Bewahre es auch du gut auf, mein Bräutigam."
Rollo nahm das Schwert behutsam aus ihren Händen und auch er berührte das Gehilz mit seinen Lippen.
„Nun bringt uns die Ringe, die den ungebrochenen Kreis dieses Bündnisses zeichnen und den Eid unzerbrechlich machen", führte Radvaldur die Zeremonie fort.
Björn Graubart hielt sein eigenes Kriegsschwert waagrecht in die Luft. Auf der Spitze der Schneide lagen zwei silberne Ringe. Rollo nahm Torvis Hand in seine und hob den kleineren Ring von der Klinge.
„Willst du, Torvi, meine Lebensgefährtin sein auf dem Weg, der uns das Leben bietet? Willst du unter unserer Sonne meine Freuden sowie meine Sorgen teilen und die Seele unserer Ahnen atmen?"
Torvi schenkte ihm ihr schönstes Lächeln.
„Ich schwöre dir, dass ich dich zum Gatten haben will, denn du bist nach meinem Herzen und dich will ich am liebsten haben!"
Bei den Worten steckte Rollo ihr grinsend den Ring an den Finger. Sodann nahm Torvi den grösseren Ring von der ihr entgegengestreckten Schwertspitze und sprach dieselben Worte, die Rollo sie gefragt hatte. Auch Rollo schwor ihr, sie zu seiner nehmen zu wollen und liess sich den Ring an den Finger stecken.
Als nächstes reichte Radvaldur ihnen einen Hornbecher Met, von welchem zuerst Rollo, dann Torvi einen Schluck entnahm. Den Rest leerte der Priester für die Götter auf den Boden.
„So sei dieses Bündnis von unseren Göttern gesegnet", schloss Radvaldur die Zeremonie und bespritzte das vermählte Paar mit frischem Opferblut aus einer Schale, die ihm gereicht worden war.
Die Angehörigen klatschten. Das Brautpaar strahlte über beide Ohren und Rollo traute sich sogar, seiner Frau einen schüchternen Kuss auf die Backe zu geben. Man klopfte sich auf die Schultern und umarmte sich.
Aber viel Zeit für Freuden gab es nicht, denn auf ein Hornsignal wurde augenblicklich das Brautlaufen eingeläutet. Urplötzlich rannten Rollos und Torvis Familienangehörige in Richtung Versammlungshalle. Rollo hatte noch gar nicht mit dem Beginn des Wettrennens gerechnet und strauchelte los. Torvi hüpfte lachend hinterher.
Das Brautrennen war ein Wettrennen zwischen den beiden Familien des Ehepaares. Wenn ein Angehöriger der einen Familie zuerst den Festsaal erreichte, dann musste die andere Familie den Gewinnern den ganzen Abend lang das Bier ausschenken. Rollo selbst musste sicherstellen, dass er nicht als Letzter ans Ziel kam, denn das wäre doch sehr beschämend. So stürzte er den Versterhügel hinunter, in der Hoffnung, dass er Torvis Familie überholen konnte.
Schlussendlich gewann dennoch Torvis Familie, denn ihr Onkel war schnell wie der Blitz den Hügel hinuntergerollt und hatte als Erster die Türschwelle zum Haus erreicht.
Rollo kam ausser Atem an und stützte sich am Türrahmen ab. Er wartete, bis seine Braut, die sich gemächlich Zeit nahm um den Hügelkamm hinunter zu steigen, bei der Versammlungshalle angekommen war.
Der junge Bursche bohrte sein Schwert in das dicke Holz des Türrahmens der Halle. Gemäss dem nordjütländischen Gebrauch hatte er als Gatte sicherzustellen, dass seine Frau nicht vor ihm in den Festsaal trat - nicht bevor er garantieren konnte, dass es für sie sicher war, um einzutreten. Nur unter seinem Schutz würde sie über diese Schwelle treten dürfen.
Rollo wartete nervös und leicht verschwitzt vom Wettrennen in seiner festlichen Kleidung vor dem Sippenhaus und rieb sich die Hände. Da kam bereits Torvi in ihrem prächtigen Hochzeitskleid, flankiert von ihren zwei Freundinnen Inga und Helga, die auch nicht am Brautrennen teilgenommen hatten, denn sie wollten sich ihre schönen Kleider nicht ruinieren.
Rollos Herz schlug höher, als er seine Braut erblickte. Er reichte ihr seine Hand und verkeilte seine Finger in ihre.
„Torvi, du siehst wirklich wundervoll aus!", begrüsste Rollo seine Frau.
Sie lächelte mit ihren rehgleichen Augen und klimperte mit den Wimpern.
„Danke, Rollo. Auch du siehst hervorragend aus", flötete sie zurück.
Der junge Mann entfernte das Schwert, das im Türrahmen steckte und sie traten gemeinsam in die Halle. Ein mächtiger Applaus begrüsste die beiden. Feierfreudige Bewohner Vestervigs hatten sich bereits versammelt und wie es schien, seit einer Weile schon zu trinken begonnen. Ein Fest kurz vor Abreise der grossen Krieger Ragnars liess sich doch kaum einer entgehen!
Das Paar setzte sich auf die zwei Stühle am Ende des langen Tisches, der wie eine Tafel in den Raum gestellt worden war. Es roch herrlich nach gebratenem Fleisch. Das Feuer in der Mitte der Halle loderte hell und munter.
Rollo blickte seiner neuen Frau tief in die Augen und er war froh, dass er sie ausgewählt hatte. Sie war für ihn heute und für immer die schönste Frau, denn sie war jetzt seine.
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