36 - Wonnemond
Vor Rouen, Westfränkisches Reich
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Aveline und Luca folgten Rurik schweigend, wie er in einer Geschwindigkeit durchs Unterholz marschierte, die für sie beide schwer zu halten war. Der Wikinger schien zu wissen, welche der vielen Brücken sie in der Gegend erkunden wollten.
„Rurik, warte bitte", sagte Aveline etwas ausser Atem, als sie am Waldrand angekommen waren.
Er blieb stehen und drehte sich zu ihnen um. Erst jetzt bemerkte er, dass er einen grossen Vorsprung aufgebaut hatte. Aveline hinkte und hatte sichtlich Mühe, barfuss durch das Unterholz zu gehen. Luca unterstützte sie dabei, indem er ihre Hand hielt und ihr über die Büsche und Wurzeln half.
„Deine Füsse?", fragte Rurik.
Als Antwort gab sie ihm nur ein stummes Kopfnicken und stützte sich am rauen Stamm einer Fichte ab. Sie hob einen Fuss an und begutachtete die Sohle. Rote Striemen auf dem Fussballen und eine grosse Blase an der Ferse traten nebst den Narben deutlich hervor. Sie zog zischend die Luft ein und hob den anderen Fuss an, der ein ebenso schreckliches Bild bot.
Ruriks Blick blieb auf ihren geschundenen Füssen hängen, während sich Luca hinter Aveline auf den Boden plumpsen liess.
„Ich brauche eine Pause!", stöhnte der Sklave.
Ihm schien alleine die Tatsache, dass er früh aufgestanden und bereits in der Stadt gewesen war, Grund genug dafür zu sein, sich wieder ausruhen zu dürfen.
„Wir haben keine Zeit für eine Rast!", dröhnte Rurik.
Luca brummte irgendwas Unverständliches, was seinen Unmut deutlich machte. Rurik ignorierte das allerdings gekonnt und richtete weiterhin seinen Fokus auf Aveline.
„Wie willst du eigentlich bei Tageslicht durchs Land ziehen? Ist das nicht zu gefährlich?", fragte Aveline, um von ihren Fusssohlen abzulenken.
Sie wollte nicht, dass man sich auf ihre körperliche Schwäche fokussierte. Es galt schliesslich Nouel so rasch wie möglich zu finden, da mussten ihre Sohlen warten. Schliesslich war ihre Frage mehr als berechtigt, denn bisher war Rurik meist nur Nachts oder in der Dämmerung durchs Land geschlichen. Es war für seine Verhältnisse unglaublich leichtsinnig, bei helllichtem Tag loszuziehen und sich den Franken so sehr auszusetzen.
„Es muss gehen", meinte er schulterzuckend.
Sie blickte ihn skeptisch an. Luca lachte hinter ihr spöttisch auf.
„Meinst du so wie beim letzten Mal, als man dich gesehen hat und die Bauern dann die Soldaten gerufen haben und wir davonspringen mussten? Auf sowas habe ich nicht nochmal Lust!"
Rurik liess hörbar ein Brummen von seiner Brust, das den Waldboden fast zum Vibrieren brachte. Dieser Vorfall schien keine guten Erinnerungen in ihm zu wecken. Er wusste, dass es fahrlässig war, sich bei Tageslicht zu zeigen. Seine Übergrösse konnte er so nicht verstecken.
Er wandte seinen Blick von Aveline ab und liess ihn über die Felder schweifen, die sich hinter dem Waldrand erstreckten. Eine ganze Weile lang würden sie ohne den Schutz der Bäume durchs Land marschieren müssen. Er schwieg, während er nachdachte.
„Wir könnten dich ja einfach hier lassen und ohne dich weiterziehen", murmelte Luca vor sich hin.
Rurik warf dem Sklaven einen mörderischen Blick zu.
„Und beim nächsten kräftigen Windstoss wirst du davon geblasen und Aveline steht dann alleine da", gab er dem Sklaven zurück.
Luca verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, denn er wusste, dass sie ohne Rurik nicht weiterziehen konnten. Der Normanne besass Fähigkeiten, von denen der Sklave nur träumen konnte und solange Kjetill und Emmik hinter den Buben her waren, brauchten sie jemanden mit Kampferfahrung.
Während sich die Männer angifteten, grübelte Aveline weiter.
„Ich habe eine Idee", sagte sie dann und humpelte auf Rurik zu.
Er hob überrascht die Augenbrauen, als sie vor ihm stand und etwas aus ihrem Kragen hervorkramte. Es war ein gutes Zeichen, dass sie sich aus eigenem Willen heraus ihm genähert hatte. Seine Augen fielen auf ihre Hände, die an ihrem Hals herumfingerten.
„Wir müssen dich so Fränkisch wie nur möglich machen", sagte sie und bat ihn mit einem schüchternen Winken, sich zu ihr herunter zu beugen.
Er senkte seinen Kopf, so dass sie ihm die Kette um den Hals legen konnte. Dabei trafen sich ihre Blicke flüchtig.
„Das könnte dir helfen", murmelte sie.
„Was ist das?", fragte Rurik und nahm die hölzernen Perlen neugierig zwischen die Finger.
„Ein Rosenkranz. Es ist das Zeichen meines Gottes", antwortete sie leise.
Luca schnaubte durch die Nase. Der Franke schien alles andere als erfreut darüber zu sein, dass Aveline dem Normannen ein Kruzifix geschenkt hatte. Aber noch schlimmer empfand er die Tatsache, dass sie offensichtlich keine Furcht mehr vor Rurik verspürte, wie am Tag zuvor.
Aveline stützte ihre Hände in die Hüfte und musterte Rurik noch immer skeptisch. Er hob fragend die Augenbrauen.
„Was?"
„Deine Haare sind zu hell für diese Gegend", sagte sie dann und blickte sich um. „Damit verrätst du uns gleich."
Sie standen auf einem feuchten Grund, was Aveline dazu veranlasste, sich niederzuknien und den Boden mit ihren Händen vom Laub zu befreien. Die zwei Männer hinter ihr blickten sich fragend an, denn sie verstanden nicht, was sie vorhatte. Ein leichtes Schmunzeln formte sich auf ihren Lippen, als sie fand, wonach sie suchte: Schlamm.
Sie grub ihre Finger in den kalten Schlick und stand dann wieder auf.
„Tut mir leid, Rurik, aber wir müssen dich zu einem Franken machen. Das heisst: Dein blondes Haar muss weg", sagte sie und streckte ihm ihre schlammigen Finger entgegen.
Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.
„Nein!", wehrte er sich.
Luca amüsierte sich köstlich über die Wendung der Situation und kicherte in die Faust. Er verstand, was Aveline vorhatte und es gefiel ihm doch sehr, zu sehen, dass es den Normannen so störte.
„Ach komm, Rurik. Wolltest du nicht schon immer wissen, wie du mit braunen Haaren aussiehst?", grinste Luca.
„Nein!", protestierte Rurik. „Ich kann mir einfach die Kapuze über den Kopf ziehen. Das muss reichen."
Aveline lächelte freundlich, hielt ihre Hände aber noch immer auffordernd vor ihm. Sie meinte es ernst und er wusste, dass sie recht hatte. Versteckspielen war bei Nacht ein Leichtes, aber bei helllichtem Tag ein Ding der Unmöglichkeit. Der Wolf musste in den Schafspelz schlüpfen, damit er unerkannt blieb.
„Bitte, Rurik. So werden wir schneller vorankommen", versuchte ihn Aveline zu überzeugen.
Sein Kiefer mahlte sichtbar. Er war alles andere als erfreut über den Vorschlag, aber sah ein, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als sich zu ergeben. Ein lauter Seufzer entkam seiner Brust.
„Dann beeil dich."
Er ging in die Hocke und öffnete seinen Haarknoten, so dass ihm die Strähnen ins Gesicht fielen. Aveline stellte sich neben ihn und begann sogleich den kalten Schlamm in sein goldenes Haar einzuarbeiten. Sie massierte die braune Schlicke vorsichtig vom Haaransatz bis in die Spitzen, so dass sein Haar nicht zu schwer von der Feuchtigkeit war, aber dennoch vom Dreck verdeckt wurde.
Luca entfernte sich von ihnen und stellte sich an den Waldrand, um über das Feld zu blicken. Die saftgrüne Wiese erstreckte sich über eine hügelige, weitläufige Landschaft. Weit und breit war keine andere Menschenseele zu sehen.
Aveline hatte sich fast durchs ganze Haar von Rurik gearbeitet. Als sie seine letzte Strähne zwischen den Fingerspitzen rieb und das helle Blond gänzlich unter dem Schlamm verschwand, bemerkte sie, dass er sie anblickte. Seine Stirn warf Falten, was ihr ein Lächeln auf die Lippen zauberte.
„Keine Sorge, das lässt sich im Handumdrehen wieder auswaschen", sagte sie, denn sie vermutete, dass seine Sorge der Haarfarbe galt.
Sie wischte sich die Hände an ihrem Kleid sauber und nickte. Rurik stand wieder auf, sein Blick noch immer fest auf sie gerichtet. Sein ganzes Gesicht wirkte durch die dunklen Haare anders, irgendwie seltsam. Mit einer Hand fuhr er sich durch die schmutzigen Strähnen, dann senkte seinen Kopf.
„Das ist es nicht, was mich beunruhigt", sagte er.
„Was ist es dann?"
Sie musste ihren Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen zu blicken, denn er stand so unfassbar nahe.
„Deine Füsse", sagte er dann und liess seine Augen auf ihre nackten Zehen fallen, die unter dem Saum hervorlugten.
„Was ist damit?", fragte sie und verlagerte ihr Gewicht, so dass ihr Kleid ihre Zehen verdeckte.
Sie mochte es nicht, wenn er seine Aufmerksamkeit ihren deformierten Füssen widmete.
„Wir sind noch nicht weit gegangen und du hinkst schon nach dem kurzen Stück."
Aveline verschränkte die Arme vor sich, denn sein bevormundender Ton gefiel ihr gar nicht. Was wollte er ihr jetzt damit sagen?
„Ich habe es mit diesen Füssen von Vestervig bis hierher geschafft. Einen Grossteil davon zu Fuss", verteidigte sie sich.
„Das bezweifle ich nicht, aber —"
„Das Bisschen schaffe ich jetzt auch noch", sagte sie barsch und drehte sich von ihm ab.
„Das Bisschen könnte sich aber auch in die Länge ziehen. Ich kann dich ein Stück weit auf meinem Rücken tragen, wenn du möchtest", bot er an und hielt ihr dabei seine Hand hin.
Ihre Augen weiteten sich. Was dachte er denn jetzt wieder? Sie war doch kein Sack Zwiebeln, den man sich einfach so über die Schultern werfen konnte. Das hatte er schon zwei Mal getan. Einmal war sie ohnmächtig gewesen, das zweite Mal betrunken und jetzt war sie bei vollem Verstand. Und solange sie einen klaren Gedanken fassen konnte, würde sie es nicht zulassen, dass er sie ein drittes Mal über die Schultern warf - dass er sie jemals wieder über die Schultern warf!
„Danke, aber deine Hilfe brauche ich nicht. Ich kann ganz gut alleine gehen. Auf meinen Füssen."
Er senkte seine Hand und zuckte mit den Schultern.
„Wie du willst."
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Zu dritt machten sie sich auf den Weg und durchquerten die weiten Felder, bis sie an eine Strasse kamen, dessen Verlauf sie eine Weile folgten. Erst gingen sie nebeneinander, aber Ruriks entschlossenes Tempo veranlasste ihn ziemlich rasch dazu, ein paar Schritte weiter vorne zu gehen, während Luca und Aveline ihm folgten. Ruriks Plan war es, so schnell wie möglich zum grossen Fluss zu gelangen. Dann wollte er dem Ufer entlang marschieren, um unter den Brücken nach den Buben zu suchen.
Rurik wusste, dass Kjetill und Emmik kein leichtes Spiel hatten, die Buben ausfindig zu machen. Er vermutete, dass sich die zwei Normannen ebenfalls verdeckt halten mussten, denn auch nach ihren Köpfen würde gejagt werden, wenn man sie bei Tageslicht auf den Strassen erblickte.
Luca und Aveline plauderten munter auf Fränkisch, während Rurik die Richtung vorgab und schweigend vor ihnen ging. Es störte ihn, dass sie in ihrer Sprache miteinander quatschten und er kein Wort davon verstand. Selbst wenn er wusste, dass es keine gute Idee gewesen wäre, in aller Öffentlichkeit auf Nordisch zu sprechen - denn jemand könnte sie hören und irgendwelche Soldaten alarmieren - wünschte er sich, dass er am Gespräch teilnehmen könnte.
Zu gerne hätte er wissen wollen, worüber die beiden gerade sprachen. Er sehnte sich nach den Gesprächen mit Aveline, denn für ihn boten die Diskussionen mit ihr immer einen Einblick in ihre Gedankenwelt, in ihren Kopf. Er wollte wissen, was sie dachte und fühlte und nur über zweisame Gespräche war es möglich gewesen, etwas mehr Licht in diese Dunkelheit zu bekommen.
Sie gingen an einer hohen Mauer vorbei, dessen Steine unordentlich aufeinander lagen. Die Steinbrocken waren bräunlich grau verfärbt und an gewissen Stellen von Moos bewachsen. Das Gemäuer zog sich eine Weile lang der Strasse entlang. Rurik lugte über die von Efeu überwucherte Mauer und liess seinen Blick über die Wiese gleiten. Das musste einst ein schönes Anwesen gewesen sein, dies liess der heruntergekommene Garten anmuten. Das marode Dach zeigte deutlich, dass die Zeit an dem Gebäude genagt hatte.
Rurik war so abgelenkt vom Anblick der Mauer, die sich um das Anwesen dieses verkommenen Hauses wand, dass ihm die Soldaten entgingen, die gerade um die Ecke bogen.
„Ne bougez pas! Qui êtes-vous?!", liess ihn eine unbekannte Stimme herumfahren.
Luca und Aveline blieben erschrocken stehen. Etwa hundert Schritte vor ihnen waren drei Soldaten aus dem Nichts aufgetaucht. Ihre Helme glänzten in der Sonne. Sie trugen eine bronzene Oberkörperrüstung und waren mit Langschwertern bewaffnet, die noch in ihren Schlitzen ruhten. Ruriks aufmerksamen Blick war nicht entgangen, dass ihre Hände nervös über den Schwertknäufen zuckten - allzeit bereit, die Waffen zu ziehen.
Obwohl Rurik die fränkischen Worte nicht verstand, hatte er das Misstrauen in der Tonlage des einen Soldaten gespürt. Er wusste, dass sie sich aus dieser Situation nicht mehr herausreden konnten. Langsam drehte er sich zu seinen Begleitern um. Aveline schaute ihn hilfesuchend an, ihr Blick voller Furcht, während Luca rückwärts stolperte. Das verursachte den Soldaten dazu, ein weiteres Mal auszurufen, diesmal energischer.
„Ne bougez pas!"
Rurik knirschte mit den Zähnen. Dieser Sklave würde sie nur noch mehr in Schwierigkeiten bringen. Luca krümmte sich und zog seinen Kopf ein, wie wenn er damit zeigen wollte, dass er harmlos war. Aveline blieb wie angewurzelt an derselben Stelle stehen. Sie schien fieberhaft nachzudenken und Rurik konnte sich schon vorstellen, dass sie sich überlegte, wie sie jetzt ohne Konflikt aus dieser Situation entkommen konnten. Aber ihm war bewusst geworden, dass dies nicht mehr möglich war. Die Soldaten mussten bereits Verdacht geschöpft haben.
Für einen flüchtigen Moment schloss er die Augen, um sich zu sammeln. Dann rannte er los, in die entgegengesetzte Richtung.
„Emparez-le!", schrie einer der Soldaten entsetzt, denn es sah so aus, als wolle er flüchten.
Die Vasallen zögerten nicht und kamen herangestürmt.
In zwei Schritten war Rurik bei Aveline. Er schlang seine Arme um ihre Taille und zerrte sie zu der Mauer. Erschrocken und von der Situation völlig überfordert, krallte sie ihre Finger in seine Unterarme, ihr Blick wirr und überrascht. Mit einem kräftigen Stoss hievte er sie die Mauer hoch.
„Spring rüber!", rief er und hechtete neben sie auf die wackeligen Steine.
Aveline kletterte über das Efeu und liess sich auf der anderen Seite der Mauer auf den Boden fallen. Rurik sprang ihr hinterher. Luca folgte ihnen nicht über das Gemäuer, sondern ergriff die Flucht nach hinten und rannte den Weg zurück, von dem sie soeben gekommen waren, in der Hoffnung, die Soldaten würden ihn nicht aufholen können.
Rurik drückte Aveline an den Schultern gegen die Steine der Mauer. Sie blickte ihm angsterfüllt ins Gesicht, ihre honigbraunen Augen weit aufgerissen, ihr Mund vor Schreck geöffnet. Rurik wusste, dass die Soldaten mit ihren schweren Rüstungen es nicht über diese hohe Mauer schaffen würden. Die Steine umzäunten das gesamte Anwesen des Hauses. Hier waren sie für den Moment sicher.
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Aveline zitterte am ganzen Leib. Rurik presste sie fester gegen die braunen Steine, die unangenehm auf ihre Wirbelsäule drückten. Sein Blick war nach oben gerichtet, an die Krone der Mauer geheftet. Er schien abzuwarten, ob die Soldaten ihnen über die Steinwand folgen würden.
Aveline vermutete, dass die Soldaten Rurik als Fremden erkannt haben mussten, trotz all der Vorkehrungen. Da hatten selbst seine dunklen Haare nichts mehr gebracht und die Tatsache, dass er von ihnen weggerannt war, musste ihren Verdacht wahrscheinlich bloss bestätigt haben. Sie erinnerte sich daran, was sie auf ihrer Reise durch die zerrissenen Ländereien mit Faralda gelernt hatte. Manch Soldatengruppen stürzten sich auf unschuldige Zivilisten, um die Männer zur Wehrpflicht zu zwingen und um die Frauen zu missbrauchen.
Bei dem Gedanken schluckte Aveline leer. Sie wollten diesen Soldaten nicht in die Hände fallen!
Eine quälend lange Zeit blieben sie stumm an die Mauer gepresst stehen und horchten dem Scheppern der Rüstungen und den stampfenden Schritten der Soldaten. Aveline spürte die Wärme von Ruriks Händen an ihrem Körper. Sein Griff um ihre Schultern war fest und bestimmt.
„Poursuivez-le! Nous allons chercher les deux autres plus tard!", hörte Aveline einen der Soldaten rufen.
„Oh nein!", wimmerte sie.
Rurik wandte seine Augen von der Mauerkrone ab und blickte sie an.
„Was ist?", fragte er.
„Luca. Sie laufen ihm hinterher."
Rurik knurrte, was Aveline durch seine grossen Hände spürte.
„Warte hier", sagte er und liess sie los.
Das Fehlen seines sicheren Griffes liess sie augenblicklich erschaudern. Fassungslos schaute sie ihn an.
„Nein", sagte sie.
„Du wartest hier, ich muss Luca helfen."
„Nein, du kannst mich nicht alleine lassen", wimmerte sie und griff nach seinem Umhang, um ihn zurückzuhalten.
Sie wollte nicht, dass er ging. Ihre Finger klammerten sich in den schwarzen Stoff seines Gewandes und zogen ihn näher zu sich. Sein Blick wurde unwillkürlich sanfter und er nahm die Hand, die seine Kleidung festhielt, in seine. Dann führte er ihre Handfläche auf ihre Brust.
In der Ferne hörte man Luca verzweifelt aufschreien. Die Soldaten mussten ihn fast eingeholt haben.
„Mache es wie heute Morgen", sagte Rurik ruhig, sein Blick unablässig auf ihrem, "atme."
Sie blinzelte zu ihm hoch. Seine Gesichtszüge wirkten entspannt, sein Blick entschlossen. Rurik spürte keine Furcht, seine Atmung ging gesetzt und regelmässig. Bei Aveline hingegen krallte sich die Panik um ihren Brustkorb und liess ihre Lungenflügel angestrengt Luft pumpen. Ihre Rippen hoben und senkten sich im nervösen Takt der Angst.
„Geh nicht", murmelte sie.
Er verstärkte den Druck auf ihre Handfläche, die ihr auf der eigenen Brust lag. Mit seiner freien Hand machte er eine Bewegung, die ihr signalisierte, dass sie jetzt einatmen solle. Aveline tat, was er von ihr verlangte und atmete ein. Dann senkte er langsam seine Hand, was das Zeichen für sie war, wieder durch den Mund auszuatmen. Aus.
Unaufhörlich blickte er ihr dabei in die Augen. Das blaue Meer ruhte darin furchtlos und zuversichtlich.
„Vertraue mir."
„Rurik."
„Ich komme gleich zurück. Du wartest hier und atmest, so wie ich es dir gezeigt habe. Verspreche mir das!", sagte er.
Sie nickte schnell. Er löste seine Hand von ihrer und musterte sie, wie sie mehrmals ein- und ausatmete. Dann sprang er auf die Mauerkrone und war verschwunden.
Seine plötzliche Abwesenheit hinterliess ein merkwürdiges Gefühl in Avelines Magengegend. Der Schutz seines grossen Körpers war verschwunden und fast wäre sie nach vorne getaumelt, hätte sie sich nicht fester an die Wand gepresst, ihre Hand krampfhaft an die Brust gedrückt. Angestrengt sog sie die Luft in ihre Lungen, so viel, wie möglich war.
Ein.
Die kleinen Steine, die von seinem Sprung auf sie herab rieselten, versuchte sie zu ignorieren. Durch den Staub musste sie beinahe husten. Sie wischte sich den Schmutz vom Gesicht und bemühte sich, den Rhythmus ihrer Atmung nicht zu verlieren.
Aus.
Das dumpfe Geräusch seiner Schritte auf dem Boden war zu hören und wie er sich weiter von ihr entfernte. Je weniger deutlich sie seine Schritte hörte, desto schneller pochte ihr Herz in ihrem Brustkorb. Sie schloss ihre Lider, die vor Aufregung flatterten.
Ein.
Das Blut rauschte in ihren Ohren und machte sie für einige Augenblicke taub. Sie hörte nur ihr eigenes Herz wild und panisch in der Brust schlagen. Sie hoffte so, dass diese Soldaten nicht über sie alle herfallen würden. Dass Rurik es schaffen würde, sie ausser Gefecht zu setzen. Irgendwie.
Aus.
Die Geräusche der Aussenwelt drangen langsam wieder zu ihr heran. Das Rauschen in den Ohren verstummte.
„Achtung! Der Grosse kommt von der Seite!", hörte sie einen der Soldaten rufen.
Das Geräusch von Eisen, das aufeinandertrifft. Das Keuchen und Brüllen von Männerstimmen. Aveline kniff angestrengt die Augen zusammen. Ihr Herz wollte ihr aus dem Körper springen, weshalb sie sich ihre zweite Hand auf die Brust schlug.
Ein.
Dumpfe Schläge gemischt mit dem hellen Ton von aufeinander brechendem Metall. Ein gellender Schmerzensschrei von Luca jagte durch die Luft, was Aveline erschrocken die Augen aufreissen liess.
„Auf ihn!"
Aus.
Ihre Gedanken rasten und sie überlegte sich, ob sie zu dem schäbigen Haus am anderen Ende der Wiese laufen sollte um sich dort zu verschanzen. Sie fühlte sich an dieser Mauer zu sehr der Welt ausgesetzt. Wenn diese Soldaten über die Steinwand kamen, dann hätte sie keine Chance, denen zu entkommen. Sie wäre denen ausgeliefert.
Ein.
„Luca, hilf mir!", hörte sie Rurik brüllen.
Seine Stimme zu hören, löste ihre Unsicherheit in Luft auf. Rurik war noch da. Sie spitzte die Ohren, denn das metallische Klirren war verstummt. Keine Waffen mehr, die aufeinander trafen. Ob Rurik alle drei Soldaten getötet hatte? Es kam keine Antwort von Luca.
Aus.
Es kamen überhaupt keine Geräusche mehr. Nicht einmal mehr Schritte waren zu vernehmen. Was wohl geschehen war? Aveline löste langsam ihren Rücken von der Steinwand, da hörte sie plötzlich, wie jemand von der anderen Seite auf die Mauer kletterte.
Sicherheitshalber duckte sie sich und huschte der Mauer entlang bis zu der Stelle, wo sie eine Ecke bildete. Mit dem Rücken an die Wand gepresst setzte sie sich in die Ecke und machte sich so klein, wie es nur möglich war. Ihre Augen fixierten die Stelle auf der Mauerkrone, an der die unbekannte Gestalt hochkletterte. Sie erkannte braune Haare und verkrampfte sich augenblicklich. Wer war das bloss?
Mit einem flinken Sprung landete die Gestalt auf ihrer Seite der Mauer und blickte zu der Stelle, an der sie gerade noch gestanden hatte. Sie hielt den Atem an, die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
„Aveline?"
Ruriks Stimme drang zu ihr herüber. Sie streckte ihren Kopf und erkannte, dass er es war, der über die Wand geklettert war. Erleichtert erhob sie sich von der Ecke. Die Furcht hatte schon wieder mit ihrem Verstand gespielt und sie denken lassen, er sei ein Fremder. Sie hatte sich noch immer nicht an seinen Anblick gewöhnt.
„Hier bin ich", brachte sie krächzend hervor.
Er kam schnellen Schrittes auf sie zu, in der einen Hand hielt er noch immer die Axt, mit welcher er sich verteidigt haben musste.
Nie hätte Aveline gedacht, dass sie das wieder einmal denken würde, aber sie war beruhigt, ihn zu sehen. Und sie war unglaublich erleichtert, als sie sah, dass er unverletzt war.
„Komm. Ich helfe dir über die Mauer", sagte er und streckte ihr seine Hand entgegen.
Erst zögerte sie, aber dann legte sie ihre Finger in seine Handfläche. Als seine Hand ihre umschloss, jagte ihr ein warmer Schauer durch den Körper.
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