34 - Wonnemond
Bei Étretat, Westfränkisches Reich
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Während Aveline neben ihnen schlief, assen Luca und Rurik schweigend ihr Mahl. Luca war in Gedanken vertieft und jagte noch immer der Frage in seinem Kopf nach, weshalb Aveline bloss solche Angst vor Rurik hatte. Es wunderte ihn, denn sie hatte ihm in Vestervig nie davon erzählt. Irgendetwas musste zwischen den beiden vorgefallen sein, dass sie so ängstlich auf ihn reagierte.
„Sie weiss noch nicht, warum wir hier sind", sprach Luca in die Stille hinein, denn er realisierte, dass sie ihr noch nicht hatten verraten können, warum sie mitten im Unterholz sassen und sich vor der Welt versteckten.
Rurik warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Du hättest es ihr sagen sollen."
„Sie hätte es mir doch nicht geglaubt! Und sowieso kannst du es ja besser erklären, warum wir ihrem Bruder nachhetzen. War ja deine Idee", gab Luca schnippisch zurück.
Er hatte es satt ständig ein schlechtes Gewissen von dem Wikinger eingeredet zu bekommen. Seiner Meinung nach gehörte es nicht zu seiner Aufgabe, Aveline von ihrem waghalsigen Unterfangen zu erzählen, denn er war nicht freiwillig hier. Das alles war nicht sein genialer Einfall gewesen, sondern den von Rurik, also sollte der ihr die verzwickte Situation erklären.
Die zwei ungleichen Männer sassen eine Weile schweigend am Feuer und gingen ihren eigenen Gedanken nach, so wie sie es die Nächte zuvor schon immer getan hatten.
„Leg dich neben sie hin", knurrte Rurik plötzlich.
„Was?!"
„Ich habe gesagt, leg dich neben sie hin! Siehst du denn nicht, dass sie vor Kälte zittert."
Luca folgte seinem Blick. Ihr kleiner zusammengerollter Körper bebte unaufhörlich. Erst jetzt erkannte er, dass sie im Schlaf schlotterte. Wo er sie so zittern sah, merkte auch Luca, wie sehr er selbst fröstelte. Er rückte etwas näher ans Feuer, um seine Füsse aufzuheizen.
„Ja, aber das Feuer wird doch reichen."
Rurik schnalzte mit der Zunge.
„Das wenige Fleisch, das sie noch an den Knochen hat, reicht ihr nicht aus, um sich von einem einfachen Feuer aufzuwärmen. Bei Odin, jetzt leg dich doch einfach neben sie hin und wärme sie mit deiner Körperhitze."
Luca starrte den Wikinger verständnislos an. Warum reagierte der bloss so empfindlich?
„Und warum soll ich das tun? Du kannst es ja genauso gut."
„Sie würde das nicht wollen", zischte Rurik zurück.
Luca legte seinen Kopf schief. Also hatte ihn sein Gefühl nicht getäuscht. Da war was zwischen den beiden vorgefallen. Nicht umsonst würde Rurik sowas sagen.
„Warum?", fragte er neugierig.
„Bei Thor, bist du immer so widerspenstig? Könntest du jetzt einfach das tun, was ich dir sage? Für sie?", knurrte Rurik.
Seine Augen funkelten wütend, was Luca dann doch dazu veranlasste, ihm zu gehorchen. Die Nächte im Frankenreich waren selbst im Frühsommer kalt und auch er fühlte es, wie die kühle Luft unter die Kleidung kroch.
„Das ist aber unsittlich", meinte Luca und schob sich etwas näher an Avelines kleinen Körper.
„Sie friert, siehst du das nicht? Wenn es ums Überleben geht, kann man gerne mal auf prüde Sitten verzichten! Vorher hattest du auch keine Probleme damit, ihr auf die Pelle zu rücken."
„Ein Mann sollte sich nur dann neben eine Frau legen, wenn sie es ausdrücklich auch so wünscht. Und... wenn sie heiraten wollen", murmelte Luca zurück.
Rurik verdrehte die Augen.
„Ich habe dich ja nicht darum gebeten, mit ihr zu schlafen", brummte er, wobei diese Worte Lucas Wangen tiefrot anlaufen liessen, „sondern nur, um dich angekleidet neben sie zu legen. Bei deiner Röte sollte ihr das genug Hitze schenken."
Luca zog erst ein langes Gesicht, gehorchte dann aber und rutschte noch näher an Aveline heran. Sie schlief friedlich und bekam nichts von der Diskussion mit. Die Erschöpfung zollte ihren Tribut bei ihr. Aveline lag auf der Seite, die Beine leicht angezogen, so dass sie stabil schlief. Ihr Kopf ruhte unbequem auf einem ihrer dünnen Arme, die Haare fielen ihr ins Gesicht. Ihr Atem ging tief und regelmässig.
Luca rutschte zu ihr hin, die Beine ausgestreckt und blinzelte zu Rurik.
„So?", fragte er, denn er verstand nicht ganz, wie Rurik sich das vorstellte.
Dieser seufzte und schüttelte den Kopf.
„Näher, du Schwachkopf. Du musst sie schon berühren."
„Aber dann wacht sie doch auf."
„Nein, sie schläft tief und fest. Sie wird sich schon nicht wehren. Nicht bei dir."
Luca blickte Rurik wieder überrascht in die Augen, aber tat, wie ihm befohlen wurde. Er legte sich hin. Sein Oberarm berührte Avelines Hand, die auf dem Boden ruhte. Er robbte an sie heran, so dass er seinen Arm unter ihren Kopf legen konnte. Wie wenn sie gespürt hätte, dass sich jemand an sie schmiegte, hob sie ihren Kopf an, so dass er seinen Arm darunter schieben konnte.
Er blinzelte zu Rurik, der nur mürrisch nickte. Da bewegte sich Aveline abermals im Schlaf, kuschelte ihren Kopf auf Lucas Brust und legte ihre Hand auf seinen Bauch. Ihre Beine schmiegte sie an seine Oberschenkel. Ihr Körper war jetzt so nah an seinem, wie noch nie zuvor. Sie schlummerte friedlich weiter.
Lucas Herz schlug härter in seiner Brust, aber er spürte, wie ihr sanftes Zittern sofort verebbte. Dass er ihr mit seiner Körperwärme helfen konnte, versprühte ein unbeschreibliches Gefühl in seinem Inneren. Endlich konnte er für seine Freundin da sein.
Dass diese innige Nähe ihn auch ganz andere Dinge spüren liess, versuchte er mit seinem Kopf zu unterdrücken. Ruriks strenger Blick half ihm, bei der Sache zu bleiben und nicht zu sehr auf das Gefühl von Avelines zartem Körper an seinem zu fokussieren.
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Rurik knirschte bei dem Anblick hörbar mit den Zähnen. Was hätte er jetzt selbst dafür gegeben, den Platz mit Luca zu tauschen. Er kämpfte innerlich mit sich selbst, diesen Anblick zu ertragen. Ein anderer Mann an ihrer Seite! Das war sein Albtraum, aber jetzt gerade genau das, was sie brauchte. Auch wenn es alles andere, als dem entsprach, was er hätte tun wollen. Wenn er gekonnt hätte, dann hätte er seine Arme sofort um sie geschlungen und sie nie wieder losgelassen. Aber das durfte er nicht. Nicht mehr.
Die Zeit verging und nach einer Weile versank auch Luca - eng an Aveline gekuschelt - in den Schlaf. Rurik hielt Nachtwache und stellte sicher, dass die Flamme an ihrer Feuerstelle nicht erlosch. Das war das Mindeste, was er tun konnte.
Während er wach blieb, klebten seine Augen unablässig auf der schmalen weiblichen Figur. Er konnte es noch immer nicht fassen, dass sie da war und wenige Schritte von ihm entfernt auf dem Boden lag.
Der Anblick ihres ausgezehrten Körpers machte ihn allerdings fertig. Bei ihrer Begegnung, als er sie hochgezerrt hatte, weil er gedacht hatte, sie sei eine Fremde, war es ihm aufgefallen. Sie hatte Gewicht verloren. Die Kleidung hing schlaff und viel zu weit an ihren schmalen Schultern. Ihre Wangen waren eingefallen und die Haut um ihren Mund herum warf zu tiefe Falten. Es war ihm überhaupt nicht recht, sie in einem solch ausgemergelten Zustand zu sehen.
Er warf einen Ast ins Feuer, so dass die kleinen Glutpunkte in der Luft tanzten und das Holz knisterte. Rurik gähnte, denn er kämpfte mit der Müdigkeit. Das war bereits das dritte Mal in Folge, dass er Nachtwache hielt. Luca war die letzten Male eingeschlafen und hatte alles andere getan, als das Lagerfeuer zu bewachen und für Sicherheit zu sorgen. So hatte Rurik entschieden, diese Aufgabe selbst zu übernehmen, wenn der Sklave so unfähig dazu war.
Die Nacht verging ruhig und ohne Zwischenfälle. Rurik war in seinen Gedanken versunken, als die ersten Sonnenstrahlen durch die Blätter schienen. Seine zwei Begleiter hatten durchgeschlafen und Luca begann sich bei Tageslicht zu strecken. Sanft schob er Aveline zur Seite, die noch immer eng an ihn geschmiegt war und tief und fest schlief.
Der Sklave stand auf und gähnte laut. Rurik warf ein weiteres Stück Holz in die Flammen, damit Luca sich ein Stück Fleisch anbraten konnte. Er wusste, dass der Sklave gleich nach dem Aufstehen hungrig war. Das war er die Tage zuvor schon gewesen. Auch der hatte unter Ragnars Dienerschaft kaum Fleisch verzehrt und nutzte die Situation gnadenlos aus, dass Rurik ihm beinahe täglich mit leckeren Fleischrationen versorgte.
„Konntest du gestern eigentlich irgendwas herausfinden?", fragte Rurik.
Luca pikste mit einem Stecken am Fleischstück herum, das in der Hitze briet. Er schüttelte den Kopf.
„Nein. Aveline hat mich gefunden, bevor ich irgendjemanden fragen konnte. Wir sind dann gleich hierher gekommen."
„Dann solltest du schleunigst losziehen", antwortete Rurik mit einem befehlshaberischen Unterton.
„Ja, gleich. Erst einmal Frühstück."
Rurik seufzte und legte sich der Länge nach hin. Solange Luca noch da war und sein morgendliches Mahl verspeiste, wollte er für einen kurzen Augenblick die Augen schliessen und sich ausruhen. Auch wenn es viel zu kurz war und ihm alles andere als Erholung bringen würde, er wollte die Gelegenheit dennoch nutzen.
Er hörte, wie der Sklave genüsslich schmatzte, während er ein Stück Hirschfleisch verputzte. Dann stand er auf und wandte sich Rurik zu, der mit geschlossenen Augen auf dem Waldboden lag.
„Halte dich von ihr fern", sagte Luca und blickte dem Wikinger ernst ins Gesicht.
Dieser hob genervt die Lider.
„Du hast mir gar nichts zu sagen."
„Es ist nicht mein Wunsch. Es ist ihrer", knurrte Luca. „Sie hat mich gebeten, dafür zu sorgen, dass du ihr nicht zu nahe tretest. Hast du verstanden?"
Seine Stimme klang ungewöhnlich sicher, was Rurik nur noch wütender machte. Eine solche Forschheit liess er sich doch nicht von einem Sklaven gefallen.
„Jetzt hau ab und erfülle deine Aufgabe. Ich werde ihr schon nichts tun!"
„Das hoffe ich für dich."
Rurik blickte dem frechen Sklaven sprachlos hinterher, als er das Lager verliess und sich auf den Weg in die Kleinstadt machte. Wie der über Nacht an Mut gewonnen hatte, erstaunte Rurik doch sehr. Und das nur, weil Aveline neben ihn gelegen hatte und er ausnahmsweise mal nützlich gewesen war.
Als Luca ausser Sichtweite war, legte sich Rurik wieder auf den Rücken und blickte auf die Baumkronen über ihn. Die Blätter raschelten sanft in der Brise und schimmerten hellgrün im morgendlichen Licht. Er drehte seinen Kopf, und blickte in Avelines Richtung, die unweit von ihm noch immer regungslos auf Lucas Schlafstätte schlummerte.
Ihre zarten Gesichtszüge waren ruhig und entspannt. Ihre Lippen zuckten leicht und ihre Augen bewegten sich hinter ihren geschlossenen Lidern. Sie musste träumen und Rurik wünschte sich, dass er erfahren könnte, wovon ihre Träume handelten. Als er ihr schönes Gesicht von sicherer Entfernung aus musterte, fiel ihm allerdings auf, dass sie schon wieder fror. Ihre schmalen Schultern zitterten leicht. Die kalte Morgenluft musste ihr durch die Kleidung gedrungen sein.
Er setzte sich auf und sammelte Zweige zusammen, damit er das Feuer grösser anmachen konnte. Als er erkannte, dass sogar die Flammen das Schlottern nicht unterbanden, entledigte er sich seines eigenen Mantels und kam vorsichtig auf sie zu.
Darauf bedacht, sie nicht zu wecken, legte er seinen grossen Umhang um ihren Körper und stellte sicher, dass sie von den Schultern bis zu den Füssen darin eingehüllt war. Dann nahm er das Wolfsfell, das er als Kissen benutzt hatte und hob ihren Kopf sachte auf, um es ihr unter den Schopf zu schieben. Er konnte es nicht unterlassen, ihr mit dem Zeigefinger eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen. Ihre Haut an den Wangen war so weich.
Sie schlief fest, sodass sie sich überhaupt nicht regte. Ihre blassen Wangen schimmerten hell. Sie wirkte wie eine friedliche Lichtgestalt auf der dunklen Erde. Ein zartes Wesen, das sich in die Decke rollte, nach Wärme und Schutz suchend. Schutz, den er ihr so gerne geben wollte.
Er setzte sich neben sie hin, stets darauf bedacht, den Abstand zu wahren und beobachtete das Beben ihres Körpers ganz genau. Erleichtert atmete er auf, als er sah, dass sie aufgehört hatte zu zittern. Er legte sich wieder hin, stütze seinen Kopf auf seine Arme und blickte in den Himmel, der durch die dichten Baumkronen nur ansatzweise hindurchschimmerte.
Seine Lider wurden schwerer und er musste kämpfen, um nicht in den Schlaf abzudriften. Ihre tiefen Atemzüge machten ihn benommen. Nach einer Weile gab er den Kampf gegen seine eigene Müdigkeit auf und versank in einen Schlummer. Das Feuer knisterte leise zu seinen Füssen.
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Der herbe Geruch von Tannennadeln und feuchter Erde stieg ihr in die Nase. An ihren Zehenspitzen spürte sie eine wohlige Wärme, die ihr die Waden hoch in den ganzen Körper strömte. Sie kuschelte sich enger um den angenehm schweren Stoff, der auf ihr lag. Etwas Weiches kitzelte sie an der Wange und liess sie ihre Lider aufschlagen.
Eine Armlänge von ihr entfernt lag er. Rurik. Aveline zuckte erschreckt zusammen und richtete sich augenblicklich auf. Sie rieb sich die Augen und blinzelte nochmals in seine Richtung. Der Augenschleim der Nacht trübte ihr die Sicht und sie versuchte vergeblich den Sand aus den Augen zu wischen.
Tatsächlich.
Sie hatte also nicht geträumt. Sie war ihm wirklich begegnet. Vor ihr lag Rurik und sein Anblick liess ihr Herz höher schlagen, so dass sie es in ihrem Hals pochen spürte. Die Furcht breitete sich schlagartig wieder aus. Erschrocken kroch sie rückwärts davon, um den Abstand zwischen ihm und ihr grösser zu machen. Der schwere Umhang, der auf ihr gelegen hatte, fiel zu Boden. Äste knackten unter ihrem Gewicht. Das Geräusch liess ihn aufspringen, denn seinem ausgeprägten Gehör entging auch wirklich nichts.
Sie konnte einen kurzen, erschreckten Aufschrei nicht verhindern und hielt sich sofort die Hand vor den Mund. Das hatte sie eigentlich nicht gewollt, aber die Angst hatte die Überhand gewonnen. Er stand auf und blickte sie genauso erschrocken an, wie sie ihn.
„Aveline", sagte er dann langsam.
Bei den Worten kroch sie noch etwas weiter von ihm weg.
„Wo ist Luca?", fragte sie heiser.
Sie kauerte auf der Erde wie ein eingeschüchtertes Tier. Er wollte einen Schritt auf sie zu wagen, aber als er sah, dass sie dadurch den Kopf einzog und sich noch kleiner zu machen versuchte, blieb er stehen. Seine Hände hingen schlaff an seiner Seite.
„Aveline...", wiederholte er, „bitte fürchte dich nicht vor mir. Ich werde dir nichts tun."
„Wo ist Luca?!", wiederholte sie und krallte ihre Finger in die Erde, so als gäbe ihr das mehr Halt und Sicherheit.
Rurik seufzte laut.
„Er ist schon in die Stadt und fragt herum."
Sie blinzelte verwirrt, als sie seine Worte verarbeitete.
„In der Stadt? Warum?"
„Ich kann es dir erklären, aber tu mir dafür einen Gefallen", antwortete Rurik und streckte ihr eine Hand entgegen.
Aveline blickte ihn nur fragend an.
„Bitte setz dich näher ans Feuer. Du musst warm bleiben und zu Kräften kommen."
Diese einfachen Worte liessen Avelines Herz plötzlich ruhiger schlagen. Er wollte ihr nichts Böses. So schien es immerhin. Ihre Muskeln, die zur Flucht bereit und angespannt gewesen waren, lockerten sich langsam.
„Nur wenn du mir auch einen Gefallen tust", antwortete sie dann.
Er hob überrascht die Augenbrauen.
„Welchen denn?"
„Komm mir nicht zu nahe", sagte sie leise, aber er hatte es gehört und senkte seinen Kopf.
„Natürlich."
Als sie zurück zur Schlafstätte kroch, blickte sie ängstlich zu ihm. Er bewegte sich vorsichtig auf die andere Seite des Lagerfeuers, damit er den Abstand zwischen ihnen aufrecht erhalten konnte.
„So?", fragte er.
Sie nickte und zog sich den grossen schwarzen Umhang über die Schultern. Schon wieder wurde sie von dem angenehmen Geruch umhüllt, der ihr nur allzu bekannt war. Sie widerstand dem Bedürfnis, die Augen zu schliessen und den Stoff an die Nase zu heben, um den Duft in sich aufzunehmen. Stattdessen starrte sie in die Flammen vor sich.
„Danke", hauchte sie.
Rurik antwortete nicht und sass ihr ruhig und regungslos gegenüber. Obwohl sie ihm nicht in die Augen blickte, spürte sie seine auf ihr ruhen und sie wünschte, dass die Flammen höher schlagen könnten, damit sie diesem eindringlichen Blick, der ihr durch die Haut ging, ausweichen konnte. Sie wollte, dass das Feuer dieses Eis zum schmelzen brachte, das dort von der anderen Seite auf sie einstach.
Er schwieg eisern und je länger die Zeit verstrich, ohne dass sie Worte tauschten, desto unwohler fühlte sich Aveline. Selbst wenn sie die Angst nicht spüren wollte, sie war machtlos gegen den Instinkt, der in ihrem inneren Alarm schlug und ihre Muskeln zum Zittern brachte.
Sie hatte diesen Mann beinahe getötet. Das musste er ihr doch nachtragen. Er musste sich doch dafür rächen wollen!
Ein unkontrolliertes Beben schüttelte sie durch. Sie stöhnte genervt auf und schlang ihre Arme um ihren Oberkörper, im hoffnungslosen Versuch, wieder die Kontrolle über ihren Leib zu gewinnen. Das entging Ruriks Blick nicht.
„Aveline", murmelte er.
„Es will nicht aufhören", erklärte sie und merkte selbst, wie verzweifelt es klang.
„Ich werde dir wirklich nichts tun. Bitte, glaube mir", sagte er leise.
Dieses Mal traute sie sich, die Lider zu heben und ihm direkt in die hellblauen Augen zu sehen. Sein Blick hatte etwas Inständiges. Er sass mit angezogenen Beinen auf der Erde und stütze seine Ellbogen auf den Knien ab. Seine Hände hielt er vor sich zusammengefaltet. Seine langen Haare hatte er nach hinten gebunden. Nur eine Strähne hing ihm ins Gesicht. Eine Körperhaltung, die alles andere als bedrohlich wirkte. Aber es half Aveline nicht.
„I-Ich weiss, aber kann nicht aufhören zu zittern. Tut mir leid", murmelte sie entschuldigend.
„Dafür musst du dich nicht entschuldigen."
„Ich will es wirklich nicht, aber —"
„Du fürchtest dich vor mir. Ich weiss."
Dass er ihre Furcht erkannt hatte, half nicht sonderlich. Es machte alles nur noch schlimmer. Ihr Herz raste schon wieder in ihrem Brustkorb, wie wenn sie den ganzen Weg von Vestervig bis nach Fécamp gerannt wäre. Ihre Atmung beschleunigte sich, so dass es sich für sie anfühlte, als bekäme sie keine Luft mehr.
„Mein Herz... es schlägt mir bis zum Hals", keuchte sie atemlos.
Er setzte sich in den Schneidersitz und legte eine Hand auf seine Brust.
„Setz dich gerade hin, so wie ich", meinte er und nickte ihr ermutigend zu.
Seine Stimme klang sanft und wohlwollend. Sie zögerte, aber traute sich dann langsam, sich aus ihrer zusammengekauerten, verkrampften Position zu lösen. Sie setzte sich ebenfalls in den Schneidersitz, um seine Körperhaltung zu spiegeln. Ihr Oberkörper bebte noch immer deutlich und liess sie ihre Finger in die Oberschenkel krallen. Währenddessen sprach Rurik mit ruhiger Stimme weiter:
„Leg eine Hand auf dein Herz. So", sagte er und klopfte sich selbst mit der Hand auf den Brustkorb, um ihr zu zeigen, dass sie ihm diese Haltung nachmachen sollte.
Sie tat, wie er empfahl und legte eine zitternde Hand auf ihr Herz. Sie erschrak selbst ab der Heftigkeit des Herzschlages, den sie durch die Rippen unter ihrer Haut spürte. Es war, als wolle es ihr aus der Brust springen und zerbersten. Derweilen drang Ruriks milde Stimme über das Feuer zu ihr herüber.
„Jetzt versuche langsamer und tiefer zu Atmen, damit dein Herzschlag sich beruhigt", meinte er. „Angst lässt sich mit der Atmung kontrollieren. So mache ich es immer vor einer Schlacht."
Sie hob überrascht die Augen, denn nie in ihrem Leben hätte sie erwartet, dass ein Wikinger ihr gestehen würde, jemals Angst zu verspüren. Wovor sollte sich so jemand denn überhaupt fürchten?
„Es ist nicht ungewöhnlich, Angst zu haben, wenn man denkt, dass Gefahr droht. Dein Körper sendet dir eigentlich die richtigen Signale... Ich kann dir aber versichern, dass von mir keine Gefahr ausgeht. Du bist hier sicher, Aveline. Bei meinem Leben, ich schwöre dir, ich würde es nicht wagen, dich zu verletzen."
Sie schluckte leer, hielt seinem Blick allerdings stand. Rurik log nie, das wusste sie, denn im Grunde genommen kannte sie diesen Kerl nur allzu gut. Aber ihr Instinkt sagte ihr was anderes.
„Und jetzt atme tief ein. Durch die Nase", erklärte er weiter, dabei blickte er sie erwartungsvoll an.
Ein. Sie atmete hörbar durch die Nase ein. Das Zittern ihres Körpers übertrug sich auf ihre Atmung und die Luft strömte nur zaghaft in ihre Lungen.
„Und jetzt atme aus dem Mund aus", sagte er, als sie ihre Lungenflügel ganz mit Sauerstoff gefüllt hatte.
Sie gehorchte und stiess die Luft durch ihre Lippen. Aus.
„Gut. Du machst das noch etwas zu schnell. Wir wiederholen das jetzt mehrere Male. Ich zeige dir, wie schnell du ein- und ausatmen sollst", meinte er und atmete mit ihr mit, um ihr den Rhythmus vorzugeben.
Ein. Aus. Ein. Aus. Ein. Aus.
Sie folgte seinen Atemzügen. Die Stille legte sich wieder um die beiden und nur noch das regelmässige Strömen ihrer Atmung war zu hören. Während sie gemeinsam um die Feuerstelle sassen und die Ruhe in der Atmung fanden, blickten sie sich an.
Sie atmeten zusammen ein und atmeten zusammen aus. Immer im selben wiegenden Rhythmus, der sie fast in eine Trance versetzte.
Aveline spürte, wie sich ihre Muskeln mit jedem Atemstoss entspannten und wie ihr Herz ruhiger in ihrer Brust schlug. Er hatte es tatsächlich geschafft, sie aus ihrer Panik zu holen. Sie merkte, wie gut es ihr tat, einfach zu atmen und den Geruch des Waldes durch die Nase aufzunehmen. Erleichtert schloss sie die Augen und horchte nur seinem Takt. Die Brise, die durch die Blätter zog, schien im selben Rhythmus an ihnen vorbei zu streichen.
„Besser?", fragte er vorsichtig.
Sie fühlte sich tatsächlich besser und nickte.
„Ja."
„Gut", sagte er und lehnte sich zurück, seine Arme auf dem Waldboden abgestützt.
„Danke..."
Rurik schwieg wieder und schien in seinen Gedanken verloren zu sein. Die Ruhe tat Aveline jedoch gut, denn sie brauchte diese Zeit, um sich an all das zu gewöhnen. An seinen Anblick. An seine Anwesenheit. An die Tatsache, dass sie ihn nicht getötet hatte. Dass er aus einem ihr noch unerklärlichen Grund mitten in einem Waldstück mit Luca sass. Und als sie ihre Gedanken sortierte, fiel ihr wieder ein, dass man ihr noch eine Erklärung schuldig war.
„Rurik?", sprach sie in die Stille.
„Hm?"
Er richtete seinen Blick wieder auf sie, was ihre Atmung für einen Moment zum Flattern brachte. Sie räusperte sich, um ihre belegte Stimmte zu befreien.
„Warum seid ihr hier?", fragte sie.
„Wir suchen deinen Bruder."
Seine Antwort kam so schnell und unerwartet, dass Aveline erst verwirrt blinzelte, bis sie realisierte, was er ihr da gerade gesagt hatte. Aber bevor sie weitere Fragen stellen konnte, begann Rurik alles zu erklären.
„Ich bin deinem Bruder vor sieben Tagen am Fluss begegnet, als er mit seinen Freunden auf unsere Schiffe geklettert ist."
Das warf bei Aveline nur noch mehr Fragen auf, was Rurik zu spüren schien. Er fuhr fort:
„Sie wurden beinahe dabei erwischt, wie sie unsere Beute stehlen wollten. Ragnar hat Kjetill und Emmik nach ihnen geschickt. Sie sollen ihm ihre Köpfe bringen. Soweit ich es einschätzen kann, haben die zwei die Kinder aber noch nicht gefunden. Bis jetzt."
„Was?!", stiess Aveline schockiert aus.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Das war alles zu viel auf einmal.
„Nouel ist in Gefahr?!"
„Er und seine Freunde."
„Was... Wo habt ihr sie das letzte Mal gesehen?"
„Gesehen haben wir sie schon lange nicht mehr. Wir folgen den Aussagen von Dorfbewohnern, die sie gesichtet oder etwas gehört haben. Ich suche ebenfalls nach Spuren im Dreck, aber die sind ehrlich gesagt nicht hilfreich."
Aveline verarbeitete seine Worte und liess sich Zeit, damit sie die Gedanken ordnen konnte.
„Darum Luca."
Rurik nickte.
„Sonst hätte ich diesen nutzlosen Schuft nie mitgenommen. Wenn ich eure Sprache nur sprechen würde, dann..."
„Du kannst nicht in die Städte und Dörfer", stellte Aveline fest.
„Ja", sagte Rurik durch zusammengebissene Zähne. „Sonst werde ich eingesperrt oder hingerichtet. Verständlich, nach all dem, was Ragnars Männer entlang des Flusses angerichtet haben..."
Die Feststellung, dass Ruriks Leben in ihrer Heimat in Gefahr war, fühlte sich absurd an.
„Ragnars Männer... zu denen du übrigens auch gehörst", murmelte Aveline.
Diese Worte liessen ihn frustriert aufstöhnen.
„Nein, zu Ragnar gehöre ich schon lange nicht mehr."
Sie blickte ihn lange an, denn irgendwie wusste sie, was er meinte. Sie hatte ihn schliesslich kennengelernt und sie wusste, dass in diesem Wikinger kein Bösewicht steckte. Sie wusste, wie sehr er selbst die grausamen Taten verabscheute. Eigentlich. Er konnte zwar vor Ragnar davonlaufen, aber vor sich selbst konnte er nicht fliehen. Er war ein Wikinger und nichts würde das ändern können. Das konnte er nicht verleugnen.
„Rurik?", fragte Aveline dann.
„Hm?"
„Warum tust du das?"
„Warum tue ich was?"
„Warum willst du meinem Bruder helfen?"
Rurik öffnete seinen Mund, um ihr auf die Frage zu antworten, da wurden sie jedoch von Luca unterbrochen, der von seiner Erkundung ans Lagerfeuer zurückkehrte.
„Ich sehe, ihr seid beide wach! Sehr gut", sagte er und musterte die zwei.
Der Franke schien sich über die grosse Distanz zwischen den beiden sehr zu freuen. Dies verriet jedenfalls sein zufriedenes Nicken, als er seinen Blick über die beiden auf dem Boden sitzenden Gestalten schweifen liess. Er setzte sich neben Aveline hin und legte augenblicklich seine Hand auf ihre Schultern, was von Rurik nur mit zusammengekniffenen Augen zur Kenntnis genommen wurde.
„Hast du gut geschlafen, Aveline?", fragte er.
Sie nickte und lächelte freundlich.
„Das habe ich Luca. Danke der Nachfrage."
„Hast du etwas herausgefunden?", unterbrach Rurik mit genervter Stimme das Turteln des Sklaven.
Dieser seufzte laut, denn die Ungeduld des Wikingers strapazierte seine Nerven. Er war doch gerade erst zurückgekehrt, nicht einmal ein paar Momente der Ruhe konnte ihm dieser Normanne gönnen.
„Sie sind nicht hier. Keiner weiss was. Wir müssen sie irgendwie überholt haben", antwortete Luca trotzig.
Bei diesen Worten stand Rurik energisch auf.
„Verflucht!", rief er. „Dann müssen wir weiterziehen. Wenn wir zu weit gegangen sind, dann kann es sein, dass Kjetill und Emmik ihnen jetzt näher sind als wir."
Das verleitete Aveline dazu, sich ebenfalls zu erheben und ihm einen überaus besorgten Blick zuzuwerfen. Luca tat es seinen Begleitern gleich und stellte sich ächzend wieder auf die Beine, obwohl er gehofft hatte, sich etwas länger ausruhen zu können.
„Du weisst, wo sich die zwei Wikinger befinden?", fragte Aveline nervös.
„Ich weiss nicht, wo sie sind. Aber ich kann sie aufspüren. Das letzte Mal habe ich sie vor zwei Tagen gesehen. Sie hatten sich in einem anderen Waldstück versteckt. Aber im Moment weiss ich nicht, wo sie sind. Ich müsste losziehen, aber das kann ich nur bei Dunkelheit."
Aveline spürte, wie die Verzweiflung in ihr hochkroch. Sie wollte sich nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn die zwei Wikinger ihnen zuvorkamen und ihren Bruder fanden. Das durfte einfach nicht passieren!
„Luca", sagte sie und wandte sich ihrem Freund zu. „Bist du dir sicher, dass das alles ist, was du erfahren hast. Weiss wirklich niemand etwas?"
Der Franke sah die Angst in ihren Augen, aber was ihm in dem Moment mehr auffiel, war, dass ihre Fingerspitzen seine Brust berührten. Es waren zwar nur drei Finger, die tatsächlich auf seinem Hemd ruhten, aber Luca merkte, wie sehr ihm diese winzige Berührung gefiel. Nachdem er die ganze Nacht an ihrer Seite gelegen hatte, hatte er grossen Gefallen daran gefunden, seiner Freundin so nahe zu sein. Die ganze Zeit in Vestervig hatte er solche amourösen Gedanken nie wirklich haben können, oder sie waren einfach weit in den Hintergrund gerückt. Jetzt, wo seine eigene Freiheit aber zum Greifen nahe war, hatte sich das verändert.
Luca fühlte sich wieder wie ein echter Mann und er wollte es dieser bildschönen Frau vor ihm beweisen. Er strich sich mit der Hand übers Kinn und überlegte fieberhaft, ob ihm nicht doch jemand einen Hinweis gegeben haben könnte, den er auf den ersten Blick übersehen hatte.
„Lass mich überlegen. Da war ein Mann, der auf dem Markt etwas gesagt hat. Dass er bei einer Brücke sich fast zu Tode erschrocken habe, weil er plötzlich ein Bellen gehört hatte."
Ruriks Gesichtszüge wurden finster.
„Und du dachtest, das sei keine wichtige Information?! Die Buben haben einen schwarzen Hund, du Dummkopf", bellte der Normanne und begann sofort die Sachen zusammenzupacken.
Er warf sich den Umhang um die Schultern und band sich das rote Tuch um den Hals. Dann rollte er das Wolfsfell zusammen, packte seinen Pfeilbogen und steckte sich die Axt in den Gurt. Die Tasche warf er sich über die Schulter und blickte Luca erwartungsvoll an, ihn stumm darum bittend, dass er doch auch seine Sachen zusammenpacken solle.
Luca verwarf genervt die Arme und machte sich ebenfalls daran, seine sieben Sachen zu einem kleinen Paket zusammenzurollen und sie in seinen Jutesack zu stopfen. Aveline bückte sich, um ihre kleine Umhängetasche um die Schultern zu werfen. Sie reiste mit leichtem Gepäck und hatte nur das, was sie am Körper trug.
„Versuch du mal mit gefühlt tausend Menschen zu sprechen und dir dann noch zu merken, wer dir was gesagt hat!", murrte Luca zurück.
„Wenn es dir wirklich wichtig wäre, hättest du es sofort gemerkt", knurrte Rurik, jedoch wurde er von Aveline unterbrochen.
„Wo ist diese Brücke?", fragte sie den Franken.
„Was?", sagte dieser etwas entnervt.
„Du sagtest der Mann habe den Hund bei einer Brücke bellen gehört. Welche Brücke, Luca. Hier in der Gegend gibt es ein Dutzend Brücken."
Sie sah, wie er realisierte, dass ihm diese eine wichtige Information fehlte. Dass er nicht wusste, von welcher Brücke dieser Mann auf dem Markt gesprochen hatte. Auch Rurik erkannte die Wissenslücke, aber er blieb pragmatisch.
„Dann suchen wir eben jede verdammte Brücke in der Gegend ab", knurrte er und stapfte los, als er sah, dass seine beiden Begleiter bereit waren.
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