33 - Wonnemond
Bei Étretat, Westfränkisches Reich
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Als sich ihre Augen fanden, stiess goldenes Feuer auf Eisblau und entfachte einen Sturm zwischen ihren Seelen. Die Zeit hörte auf zu verstreichen, die Welt stand still. Ihr Atem ging im schnellen Takt, ihre Herzen klopften im selben Rhythmus hart gegen ihre Brustkörbe, so als drückten sie gegen die Rippen und als flehten sie sie an, näher zueinander zu rücken. Sie hielten die Kleidung des anderen fest in ihren Fäusten umschlossen, beide eigentlich bereit dazu, den anderen zu beseitigen, aber sie taten es nicht, denn sie hatten sich vergessen. Sie hatten sich in der Unendlichkeit dieses Augenblickes vergessen.
Mit einem Schlag war der Moment verfolgen und Rurik konnte wieder klar denken. Er erschrak dermassen, dass er den festen Griff um ihren Hals sofort lockerte. Auch sie liess seinen Kragen los und blinzelte ihn erschrocken an. Er öffnete seinen Mund, als wolle er etwas sagen, aber er brachte kein Wort über seine Lippen.
Rurik war sprachlos. Sein Körper erstarrt, sein Geist pausiert. Alles, was er tun konnte, war die Vollkommenheit ihres Gesichtes mit seinen Augen aufzunehmen. Sie war es wirklich! Seine Aveline stand vor ihm. Beinahe vergass er zu atmen, so sehr hielt ihn ihr Dasein im Bann. Wie sehr hatte er sich gewünscht, dieses Gesicht wieder zu sehen!
Da kam plötzlich Bewegung in ihren Körper und ihre Gesichtszüge entspannten sich. Sie war die Erste, die sich aus der Starre lösen konnte. Rurik gelang es noch immer nicht. Die Fassungslosigkeit paralysierte jede Faser seines Körpers. Er war ihr vollkommen ausgeliefert.
„Oh, mon Dieu! Pas encore", seufzte sie und verdrehte die Augen.
Rurik blinzelte verwirrt, denn er hatte kein Wort davon verstanden. Sie sprach Fränkisch.
„Sors de là, putain fantôme!", zischte sie und machte eine Handbewegung, die andeutete, dass er sich doch verziehen solle.
Er hob überrascht die Augenbrauen. So langsam lockerte sich seine Zunge und die Starrheit verschwand aus seinen Muskeln. Er konnte sich wieder bewegen. Sie standen sich sehr nahe. So nahe, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte, sie anzufassen. Mit einer langsamen Bewegung streckte er seine Hand aus, um ihr Gesicht mit seinen Fingerspitzen zu berühren.
„Aveline?", sagte er mit belegter Stimme.
Er räusperte sich, um klarer sprechen zu können. Seine Fingerkuppen berührten ihre Wangen, was sie leicht erschaudern liess. Sie blieb jedoch stehen und wich nicht zurück. Diese winzige Berührung jagte Rurik heisse Schauer durch den Arm bis ins Herz. Wie sehr hatte er sich danach gesehnt, ihre samtene Haut wieder einmal berühren zu können. Er traute sich kaum zu blinzeln, denn er befürchtete, dass sie beim nächsten Wimpernschlag verschwunden sein könnte. Er glaubte es noch immer nicht, dass sie direkt vor ihm stand und dass er mit seiner Hand über ihr Gesicht fuhr.
Sie blickten sich an und schwiegen, so als wussten sie beide nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen sollten. Aveline musterte ihn gespannt und analysierte jeden seiner Gesichtszüge, jede seiner Regungen. Ein neugieriger Schimmer lag in ihren Augen.
Da raschelte das Laub und Äste knackten. Ruriks mühsame Begleitung zwängte sich von der Seite an die Feuerstelle. Der unüberhörbare Trampel. Der Sklave.
„Ah, da bist du ja!", rief Luca auf Nordisch und kam aus dem Dickicht auf sie zu.
Aveline löste ihren Blick von Rurik und blinzelte verwirrt zu Luca.
„Tu peux le voir?", fragte sie ihn auf Fränkisch und zeigte mit dem Finger auf Rurik.
Rurik legte den Kopf schief, denn er verstand wieder kein Wort. Was fragte sie ihn da und warum sprach sie noch immer auf Fränkisch? Sie wirkte mit jedem Blick, den sie Rurik und Luca zuwarf, verwirrter.
„Ehm, ja?", antwortete Luca auf Nordisch. „Natürlich kann ich ihn sehen. Rurik ist die Person, von der ich gesprochen habe. Er kann dir helfen, deinen Bruder zu finden."
Bei den Worten erstarrte Aveline zu Stein. Die Tatsache, dass Luca ihr auf Nordisch geantwortet hatte, schien sie irgendwie aus der Bahn zu werfen.
„E-er ist kein Gespenst?", stotterte sie nun ebenfalls auf Nordisch.
Luca runzelte die Stirn und schüttelte energisch den Kopf.
„Nein, Aveline. Das siehst du doch! Er lebt. Rurik, jetzt sag auch mal was!", sagte Luca und machte eine Bewegung in seine Richtung.
Rurik verstand plötzlich, warum Aveline so verstört sein musste. Sie musste gedacht haben, er sei nicht echt. Er kam einen Schritt auf sie zu, was sie jedoch nach hinten straucheln liess, sodass sie beinahe über die Feuerstelle stolperte. Er blieb augenblicklich stehen und bewegte sich nicht mehr. Die Neugierde in ihren Augen war einer schrecklichen Furcht gewichen. Sie hatte Angst vor ihm.
„Aveline. Ich bin es wirklich. Ich lebe. Du hast mich nicht —"
„Nein! Nein, das ist unmöglich!", rief sie aus und ging um die Feuerstelle herum, um mehr Abstand zwischen sich und Rurik zu gewinnen. „Ich habe... Ich habe dir... Ich habe dich..."
„Nein, hast du nicht", antwortete er, um ihr die Antwort abzunehmen.
Sie starrte ihm ungläubig ins Gesicht. Ihre wunderschönen goldenen Augen durchstachen die seinen fast, so intensiv blickte sie ihn an. So voller Bestürzung und Schock. Dann wanderten ihre Augen seinen Körper hinab und blieben auf seiner Flanke liegen. Er hob wie zum Selbstschutz die Hand an die Stelle, an der sie den Dolch in seine Rippen gestossen hatte.
„Der Dolch hat mich nur schwer verletzt. Nicht getötet."
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Jetzt war Luca derjenige, der verwirrt blinzelte. Ihm war schon klar, dass der Anblick von Rurik - einem Wikinger - jedem Angst einflössen konnte, aber Aveline musste sich das doch gewöhnt sein. Sie hatte schliesslich mit diesem Wikinger unter einem Dach gelebt. Er konnte überhaupt nicht nachvollziehen, weshalb sie jetzt so überreagierte. Die Angst war ihr deutlich anzusehen, denn sie zitterte wie Espenlaub.
„Wovon spricht ihr zwei? Hallo?", fragte er irritiert.
Aveline schüttelte den Kopf.
„Das ist unmöglich. Nein! Das kann nicht sein!"
Sie schritt auf Luca zu und blieb hinter ihm stehen, so als wolle sie ihn als Schutzschild benutzen, dann flüsterte sie auf Fränkisch in sein Ohr:
„Luca. Ist er wirklich echt? Bitte sag mir, dass er nur ein Geist ist. Bitte!"
„Nein, Aveline. Das ist Rurik, wie er leibt und lebt. Schau, ich beweise es dir."
Entschlossen schritt Luca auf Rurik zu und klopfte ihm auf die Schulter. Rurik stöhnte bei der ruppigen Berührung auf, denn seine Verletzung bereitete ihm noch immer Mühe. Er blieb aber standhaft, denn er wollte Aveline mit seinen Bewegungen nicht weiter aufschrecken.
„Siehst du. Er ist echt", meinte Luca und kam wieder auf Aveline zu.
Das "bedauerlicherweise" murmelte er so leise, dass es keiner hörte. Aveline zog erschrocken die Luft ein, packte Luca am Arm und versteckte sich hinter ihm. Ihre zitternden Händen klammerten sich an seine Schultern, ihr Kopf drückte sie in seine Schulterblätter. Sie wagte es nicht, Rurik anzublicken.
„Bitte halte ihn mir vom Leib, Luca. Bitte!", murmelte sie mit zittriger Stimme.
Luca runzelte die Stirn, denn er verstand ihre Panik nicht. Er drehte sich zu ihr um und griff ihr an beide Unterarme, um ihr Zittern zu unterbinden.
„Was?! Warum? Er tut dir schon nichts", antwortete er auf Nordisch.
Aveline blickte ihn mit grossen Augen an. Die Furcht spiegelte sich unverkennbar in dem Gold wieder. Wie ein Tier in Todesangst schien sie sich hinter Lucas schmalen Körper verkriechen zu wollen. Luca warf einen Blick über die Schultern und sah Ruriks entsetzten Gesichtsausdruck. Auch der schien die Welt nicht mehr zu verstehen.
Ehe sich der Sklave versah, drehte sich der Wikinger um und verschwand wortlos im Wald. Luca blinzelte dem Normannen verdutzt hinterher. Wo der jetzt wieder hin wollte?
Aveline klammerte sich noch immer verzweifelt an Lucas Körper. Ihre Nägel bohrten sich in seinen Arm, was Luca dazu verleitete, sich von ihrer Umklammerung zu lösen.
„Komm setz dich doch erst einmal. Du musst dich von all dem hier erholen. Ich verstehe schon. Es ist gerade viel auf einmal."
Nur widerwillig liess sie von ihm ab und setzte sich auf einer der Decken neben der Feuerstelle. Ihre Knie zog sie eng an ihren Körper und die Arme schlang sie um ihre Beine, so dass sie ganz klein war. Während sie still da sass, begann Luca das Feuer anzumachen.
„Wenn der zurück ist, werden wir dir gleich alles erklären. Versprochen", sagte Luca, aber Aveline schien ihn nicht zu hören.
Sie sass zwar dicht neben ihm, zitternd und stumm, aber blickte unaufhörlich in die Richtung, in die Rurik soeben verschwunden war. Die Zeit verstrich und die Dunkelheit legte sich über sie.
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Aveline konnte es nicht fassen, was soeben geschehen war. Ihr Verstand hatte ihr schon wieder einen Streich gespielt! Das war tatsächlich Rurik gewesen, der noch vor wenigen Momenten vor ihr gestanden hatte. Rurik. Der Mann, den sie geglaubt hatte, getötet zu haben. Es war so unglaublich. So unmöglich!
Avelines vernebelter Verstand hatte ihr eingeredet, dass er doch nur ein Geist sei. Ihre tiefste Überzeugung hatte die Möglichkeit schlichtweg ausgeschlossen, dass er noch am Leben sein könnte. Er musste einfach ein Gespenst sein! Ein Geist, den sie mit einer einfachen Handbewegung fortjagen konnte - wie in ihren Träumen. Aber er hatte sich nicht in Luft aufgelöst. Er war echt geblieben und diese Tatsache schockierte sie zutiefst.
Als sie seine Schritte auf dem Waldboden hörte, stellten sich ihre Nackenhaare auf. Selbst wenn sie es nicht wollte, ihr Körper begann wieder unkontrolliert zu zittern. Er hatte sie angegriffen und töten wollen und nun wusste sie nicht, ob er es nochmals versuchen würde. Ihre Instinkte befahlen ihr, sich so rasch wie möglich aus dieser Situation zu entziehen, als stecke sie in Lebensgefahr. Aveline murmelte zu sich selbst, denn sie wollte dem Impuls nicht nachgeben.
Die Schritte kamen näher und mit jedem Knacken der Zweige zog sich etwas in ihrem Magen zusammen. Aveline umarmte ihre Knie und rutschte etwas näher zu Luca heran, der entspannt am Feuer sass und sich gerade die Ärmel seines schmutzigen Hemdes zurückkrempelte. Er blickte sie überrascht an, als er merkte, dass sie sich ihm genähert hatte.
Als Rurik aus der Dunkelheit in den Schein des Feuers trat, verkrampften sich Avelines Hände. Sie klammerte sich fester an ihre eigenen Beine und starrte auf den Boden. Unbewusst zog sie den Kopf ein. Sie wollte sich so winzig wie möglich machen. Sich vor den Augen des Raubtieres möglichst unsichtbar machen, um nicht gefressen zu werden.
Sie blickte nicht auf, als er sich dem Feuer näherte. Nur der dumpfe Schlag von etwas Schwerem, das auf den Boden geworfen wurde, vernahm sie. Ein animalischer Geruch stieg ihr sofort in die Nase und liess sie den Blick heben.
Der gigantische Körper eines Hirsches lag vor ihnen neben dem Feuer. Leichter Dunst entkam von seinem noch warmen Körper. Der Normanne hatte sich mit dem Rücken zu ihnen gedreht. Ein schlitzendes Geräusch durchschnitt die Luft während Rurik in aller Ruhe begann die Haut des Tieres abzuziehen.
„Denkst du nicht, dass das ein bisschen viel Fleisch für uns drei ist?", fragte Luca.
Keine Antwort. Stattdessen bohrte Rurik seinen Dolch ins Fleisch des Hirsches und begann daran zu zerren. Mit einem kräftigen Ruck trennte er ein Bein vom Rumpf ab. Die Knochen und Knorpel knirschten und knarzten dabei. Avelines Augen klebten nervös auf dem Rücken des Jägers, der mit höchster Konzentration gerade seine Beute vor ihren Augen auseinandernahm.
„Werden wir damit nicht Wölfe anlocken?", hakte Luca weiter.
Er schien über den toten Leib alles andere als erfreut.
„Ich habe das Tier dort ausgenommen, wo ich es erlegt habe, Klugscheisser", knurrte Rurik, ohne dabei aufzublicken.
„Aber, die können das Fleisch doch meilenweit riechen."
„Das Feuer wird sie von uns fern halten", unterbrach Rurik Lucas Gedankengang.
Die drei schwiegen, während Rurik weiterhin Schnitt für Schnitt die besten Fleischstücke dem toten Hirsch entnahm und vorsichtig auf dem Boden platzierte.
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Lucas Augen ruhten auf Aveline, die wie ein kleines Paket eng um sich selbst geschlungen am Feuer hockte. Er musterte sie von der Seite, wie sie ihren Blick fest auf Rurik gerichtet hatte, wie ein ängstliches Tier, das sich vor jeder Bewegung, die er machte, fürchtete. Luca entging nicht, dass sie zusammen zuckte, als Rurik sich aufrichtete, um sich auf die andere Seite des Kadavers zu stellen und die besten Fleischstücke von der Rückseite zu schneiden.
Aveline hatte Angst vor Rurik, das war mehr als offensichtlich. Diese Feststellung verursachte ein merkwürdiges Gefühl in Lucas Brustkorb. Er wollte nicht, dass sie sich fürchtete, denn er wollte es sie wissen lassen, dass er hier war und sie nichts zu befürchten hatte. Wenn er ihr schon nicht ohne Ruriks Unterstützung helfen konnte, den Bruder zu finden, dann konnte er ihr mindestens Geborgenheit schenken, denn das war etwas, dass Rurik offensichtlich nicht konnte. Luca rutschte etwas näher zu ihr heran, in der Hoffnung, sie würde ihren intensiven Blick von Rurik abwenden und ihn mit ihren schönen Augen anschauen.
Selbst als er dicht neben ihr sass, wandte sie ihre Augen nicht von der vermeintlichen Gefahr ab, die von Rurik auszugehen schien.
„Aveline", begann Luca leise zu sprechen.
Bei den Worten zuckte sie aus ihrer Starre zusammen und endlich linsten die zwei goldenen Sonnen in seine Richtung. Luca erzwang sich ein kleines Lächeln und stupste sie mit der Schulter an. Diese kleine zärtliche Geste liess Ruriks Kopf in die Höhe schnellen, das bemerkte Luca aus den Augenwinkeln. Avelines Blick war aber fest auf seinen gerichtet. Sie hatte nicht mitbekommen, welch mörderischen Blitze von Rurik gerade auf Luca einschlugen.
Luca jedoch genoss diesen Moment. Das erste Mal seit Langem fühlte er sich dem Wikinger überlegen, denn Aveline schenkte ihm hier gerade die Aufmerksamkeit und nicht dem starken Jäger. Und vor allem hatte sie keine Amgst vor ihm.
„Wie bist du eigentlich ganz alleine hierher gekommen? Das muss nicht einfach gewesen sein", flüsterte er auf Fränkisch und senkte seinen Kopf näher zu ihrem Gesicht.
Er merkte, wie Rurik in seinen Bewegungen innehielt und ein verärgertes Räuspern aus seinen Lungen stiess. Luca zuckte aber nicht mit der Wimper, denn die Tatsache, dass seine Frage Avelines Gesichtsausdruck etwas entspannen liess, war ihm Geschenk genug, um sein Selbstvertrauen in die Höhe schiessen zu lassen.
„Oh, Luca. Das ist eine ewig lange Geschichte!", antwortete sie und schenkte ihm ein vorsichtiges Lächeln.
„Erzähl' mir davon!", forderte er sie auf.
Ihr Lächeln verstarb augenblicklich und Luca sah, wie es in ihrem Kopf rumorte. Sie schien zu überlegen. Zu zögern. Er vermutete, dass Ruriks Anwesenheit sie noch immer verunsicherte, weshalb er anfügte:
„Du musst dich nicht vor ihm —", er schielte bei diesen Worten zum Wikinger, „— fürchten. Ich bin hier."
„Danke, Luca. Das schätze ich sehr", hauchte sie zurück.
„Er wird dir nichts tun. Nicht solange ich da bin."
Ihr Gesicht war so nah an seinem, dass ihr Atem auf seinen Nacken traf. Luca schmunzelte ihr aufmunternd zu. Ein triumphierendes Gefühl kam in ihm auf, als er hörte, wie energisch Rurik aufstand und sich dem Feuer näherte. Der Wikinger wirkte über ihren kleinen intimen Austausch nicht besonders erfreut.
„Könnt ihr bitte nicht in eurer Sprache sprechen? Ich verstehe nichts", knurrte er auf Nordisch und legte ein grosszügiges Stück Fleisch in die Flammen, so dass es laut zischte.
Seine zornige Körperhaltung liess Aveline unbewusst näher an Luca heranrücken. Kein Blatt mehr hatte zwischen den beiden Platz.
„Luca hat mich nur gefragt, wie meine Reise war", antwortete Aveline mit zittriger Stimme auf Nordisch.
Luca spürte, dass sie sich unglaublich dafür hatte überwinden müssen, diese Worte aus sich herauszupressen. Ihre Hände bebten noch immer stark, selbst wenn sie ihre Finger krampfhaft in ihre Schenkel krallte.
Ruriks Blick wurde augenblicklich weicher, als er seine Augen auf ihr ruhen liess. Er kniete sich nieder und schob das Stück Fleisch etwas aus den Flammen. Ein feiner Duft von Gebratenem breitete sich über dem Lager aus.
„Und?", fragte er mit mehr Sanftheit in der Stimme.
„Und was?", entgegnete Aveline sogleich.
Luca war erstaunt darüber, wie bestimmter ihre Stimme klang. Was auch immer sie aus der Fassung gebracht haben musste, war verflogen. Die Aveline, die jetzt sprach, war mutiger. Er vermutete, dass ihr neugewonnene Zuversicht daran lag, dass sich ihre Schultern berührten. Sie musste sich durch seine Anwesenheit, durch seine Nähe sicherer fühlen. Bestimmt.
„Wie war sie - deine Reise? Das würde nicht nur deinen Freund neben dir interessieren. Auch mich", meinte Rurik und blickte auf das brutzelnde Stück Hirschfleisch.
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Aveline schluckte leer. Sie musste sich noch immer an den Anblick von Rurik gewöhnen. Der Dämon, der sie während ihrer Reise verfolgt hatte, stand mit funkelnden Augen lebendig vor ihr. Seine dunkle Aura trieb ihr eine unheimliche Kälte durch den Körper. Ihr Herz schlug ihr noch immer panisch bis zum Hals. Die Stelle auf ihrer Haut, an welcher er sie an der Gurgel gepackt hatte, brannte.
Sie merkte, dass Luca zu ihr herangerückt war. Er musste ihre Furcht spüren. Sie war froh, dass er als ihr Verbündeter neben ihr sass, denn alleine wäre ihr Herz vor Angst wahrscheinlich stehen geblieben. Immer wieder begann sie beinahe unkontrolliert zu schlottern. Insbesondere dann, wenn Rurik seinen schneidenden Blick auf sie richtete.
Sie war froh, dass seine eiskalten Augen gerade auf dem bratenden Stück Fleisch ruhten und nicht auf ihr. Aber da hatte sie sich zu früh entspannt, denn weil sie nicht auf seine Frage antwortete, huschten die beiden Eiskristalle vom Feuer zu ihr und stierten sie erwartungsvoll an.
Aveline blinzelte nervös. Sie hatte Schwierigkeiten, sich unter diesen Umständen zu konzentrieren, geschweige denn einen klaren Gedanken zu fassen. Wie ihre Reise gewesen war? Sie überlegte krampfhaft.
In ihrem Kopf schwirrten die Erinnerungsfetzen ihrer beschwerlichen Reise. Wie sie in Jütland von Waldschurken überfallen und beraubt worden war. Wie sie gehungert und dabei fast ihren Verstand verloren hatte. Wie sie in Hedeby die Kontrolle über ihren Körper verlor. Wie sie beinahe nicht über die Grenze gekommen wäre. Wie ihr der Priester Hoffnung auf Vergebung gegeben hatte und wie die Reise mit der Begleitung von Faralda mehr positive als negative Wendungen genommen hatte. So vieles hatte sie in so kurzer Zeit erlebt.
Ihr Herz wog jedoch schwer in ihrer Brust von der Erinnerung an den Schweinestall in Hedeby. Tränen brannten in ihren Augen, die sie mit schnellen Wimpernschlägen wegzublinzeln versuchte. Sie biss sich auf die Unterlippe und senkte die Lider. Ruriks Blick durchstach sie wie ein Pfeil und sie spürte seine Augen auf sich, wie die brennenden Sonnenstrahlen auf einem Sonnenbrand.
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Rurik hatte den schmerzlichen Funken in ihren Augen gesehen, wie er aufgeflackert war und ihre ängstliche Miene zu einer traurigen Maske verzogen hatte. Er war besorgt, denn er sah ihr Leiden, er spürte es beinahe selbst in seiner Brust. Dass ihre Hände bei der Erinnerung an ihre Reise zu zittern begannen, dass sich ihre Stirn in tausend Falten legte. Er sah, dass er diese Frage nicht so unverfroren hätte stellen sollen. Am liebsten hätte er sich für seine Einfältigkeit selbst eins über den Kopf gezogen.
„Abenteuerlich", antwortete Aveline heiser, konnte aber das Beben ihrer Lippen nicht unterdrücken.
Der Franke neben ihr hob überrascht die Augenbrauen und legte seine schmutzige Hand auf ihre Schulter. Dieser Anblick liess Ruriks Magen aufbrodeln, wie wenn er darin heisse Kohle glühen hätte. Wie sehr würde er jetzt diesem nervigen Kerl seine Faust ins Gesicht schlagen. Es war offensichtlich, dass der Sklave Avelines Stimmungsschwankung nicht erkannt hatte.
Sein Annäherungsversuch war in diesem Moment mehr als unpassend. Aveline brauchte jetzt gerade keinen Idioten, der ihr den Hof machte. Sie brauchte Ruhe und es ging Rurik mächtig gegen den Strich zu sehen, dass dieser Luca so blind war und ihre Bedürfnisse nicht erkannte.
„Das klingt ja toll!", meinte Luca mit einem neugierigen Ton in seiner Stimme. „Willst du uns nicht mehr davon erzählen?"
Rurik sah, wie sie zögerte. Er musste nicht einmal genau hinschauen, um zu erkennen, dass sie das nicht wollte. Ihre Körperhaltung sprach Bände und deutete darauf hin, dass sie alles wollte, nur nicht darüber sprechen.
Sah dieser Tölpel das denn nicht?
„Eigentlich —-", wollte sie sagen, aber da fiel ihr Rurik ins Wort.
„Hier. Du musst hungrig sein. Besser du isst ein Stück. Sonst fällst du uns noch auseinander", meinte er ruhig und reichte ihr ein grosszügiges Stück Hirschfleisch.
Ihre Augen blieben für einen flüchtigen Moment auf seinen hängen. Es war zwar nur für einen Atemzug, aber er schien ewig zu dauern. Die Angst, die ihre hellen Augen verdunkelt hatte, verzog sich wie wenn ein düsterer Schleier zur Seite gezogen worden wäre. In ihren bernsteinfarbenen Augen flackerte ein winziger heller Funke. Sie dankte ihm stumm und der kleine Blitz, der ihn dabei traf, reichte Rurik in dem Augenblick vollkommen aus. Der Anblick ihres eingefallenen, müden Gesichtes, das selbst jetzt noch vor Erhabenheit strahlte, gab ihm ein warmes Gefühl in seiner Brust.
Viel zu schnell wandte sie den Blick von ihm ab und fixierte sich auf das Essen, das er ihr hinstreckte. Mit der Zunge benetzte sie ihre Lippen.
„Sollten wir uns das nicht teilen? Das ist wirklich ein grosses Stück", murmelte sie und nahm das Stück mit beiden Händen entgegen.
Rurik schnaubte belustigt auf und deutete mit seinem Daumen hinter sich.
„Für den Trottel und mich hat's noch genug. Ausserdem klappern unsere Knochen nicht so wie deine. Iss du zuerst. Wir können warten."
„He!", protestierte Luca.
Rurik warf ihm einen grimmigen Blick zu und drehte sich dann wieder zum Kadaver um, um ein weiteres Stück in die Flammen zu werfen.
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Aveline konnte ihr Glück kaum fassen und begutachtete das saftige Fleisch in ihren Händen. Fleisch! Frisches Hirschfleisch im Feuer gebraten. Es roch köstlich und sah verführerisch lecker aus. Sie schluckte den überflüssigen Speichel, der sich von dem unglaublichen Anblick in ihrem Mund gesammelt hatte, eifrig runter.
Eine Ewigkeit war es her gewesen, seit sie das letzte Mal ein richtiges Stück Fleisch hatte essen dürfen. Das letzte Mal war in der Nacht gewesen, in der sie mit Rurik... Aveline schüttelte den Kopf, um den Gedanken so schnell, wie er aufgeblitzt war, wieder von sich zu rütteln.
‚Nein!', dachte sie.
Als sich ihre Zähne in das Fleisch bohrten, schloss sie genüsslich die Augen. Dieses Stück war gerade das leckerste, was sie seit Langem gegessen hatte.
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„He, Rurik, ich habe auch einen Mordshunger! Kannst du dich da hinten etwas beeilen?", motzte Luca, der wieder etwas von Aveline weggerutscht war.
Wie es schien, war der Franke auch sehr hungrig. Rurik warf ihm nur einen abschätzigen Blick zu.
„Aveline nagt am Hungertuch, während du dir ein Bäuchlein angefressen hast. Sag mal, bittest du mich wirklich gerade um eine Tracht Prügel?!"
Erst jetzt schien Luca zu realisieren, worauf Rurik hinauswollte. Selbstverständlich hatte Aveline es mehr als er nötig, sich den Bauch mit einem saftigen Stück Fleisch vollzuschlagen - So mager wie sie war. Aber Luca hatte auch den ganzen Tag kaum was gegessen. Er störte sich an Ruriks Gereiztheit und verschränkte die Arme vor sich.
„Pf", antwortete er nur, denn er wusste nicht, was er dem sturen Wikinger entgegnen sollte.
Da bewegte sich Aveline neben ihm und hielt ihm ein Stück ihres Fleisches entgegen. Ihre magere Hand zitterte vom Gewicht des grossen Brockens.
„Luca, ich kann mit dir teilen", sagte sie und riss ein Stück ab.
„Danke, Aveline. Das ist sehr lieb von dir", antwortete er und nahm das Fleisch froh entgegen.
Sie schenkte Luca abermals ein scheues Lächeln. Der Franke grinste stolz zurück und blickte dann herausfordernd zum Jäger. Rurik ballte seine Hände zu Fäusten und Luca hätte schwören können, ein Knurren gehört zu haben.
„Sie will teilen. Lass sie teilen", zuckte Luca mit den Schultern und biss herzhaft in sein Stück.
Neben ihm schlang Aveline ihr Stück hörbar schmatzend und alles andere als damenhaft in gierigen Bissen herunter. Sie wirkte wie ein verhungerter Wolf, der seit Monaten endlich wieder etwas Vernünftiges zwischen die Zähne bekommen hatte.
„Du solltest das nicht so schnell essen", meinte Rurik, der ihr dabei besorgt zusah.
Sie kaute an einem grossen Brocken und schob es sich in die Backe, so dass es eine grosse Beule formte. Mit vollem Mund fragte sie:
„Warum nicht?"
„Wann hast du das letzte Mal richtig gegessen?"
Ihre Miene verfinsterte sich und sie begann wieder schneller zu kauen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, so dass die weissen Augäpfel hervortraten. Sie wirkte fast bestialisch, wie sie sich über das Essen hermachte.
„In Vestervig", antwortete sie zwischen zwei Bissen.
Diese Antwort schien in Rurik etwas auszulösen. Er stand auf und kam auf sie zu. Bei seiner Bewegung zuckte sie aber dermassen vor Schreck zusammen, dass er wieder stehen blieb.
„Nimm mir mein Essen nicht weg!", rief sie.
Rurik hob vorsichtig eine Hand, um ihr zu zeigen, dass er nichts Böses wollte.
„Wenn du zu viel und zu schnell isst, landet das alles wieder auf dem Waldboden. Du wirst dich sonst nur erbrechen müssen. Dein Magen ist sich so viel Essen nicht mehr ge—"
Aber weiter kam Rurik nicht in seiner Erklärung, denn der Würgereiz hatte Aveline bereits gepackt. Sie hielt sich die Hand an den Mund und drückte Luca das Stück Fleisch, an welchem sie gerade noch geknabbert hatte, in die Hände. Dann stand sie hastig auf und stolperte etwas abseits von der Feuerstelle davon.
Luca verzog das Gesicht vor Ekel, als die gurgelnden und würgenden Geräusche ihres Erbrechens zu ihnen herüber drang. Sie war weit genug davongestürzt, so dass der Geruch sie zumindest nicht erreichen konnte. Rurik musterte den Franken kopfschüttelnd.
Als sie sich erleichtert hatte und zurück zur Feuerstelle schwankte, waren die Tränen in ihren Augen mehr als erkennbar. Sie wischte sich mit der Handfläche die Tropfen von der Wange.
„Aber ich hab solchen Hunger!", klagte sie und blickte verzweifelt auf das Stück Hirschfleisch, welches Luca mittlerweile fast ganz verspeist hatte.
Rurik wollte ihr helfen, sich wieder ans Feuer zu setzen, aber beim Versuch, ihr die Hand auf den Rücken zu legen, wich sie ihm aus. Rurik seufzte und fischte ein weiteres Stück Fleisch aus den Flammen, welches er sodann in kleine Stücke zerteilte.
„Tut mir leid. Ich habe nicht daran gedacht."
„Dass ich fast verhungert wäre?", fragte Aveline und wischte sich den Mund ab.
Rurik schwieg zähneknirschend und hielt ihr dann die zerkleinerten Stücke hin.
„Iss langsam und fang mit diesem kleinen Stück hier an", sagte er nur und wandte dann seinen Blick von ihr ab, als sie ihm den Brocken aus den Fingern riss und wieder zu kauen begann.
Ruriks Vorgehen zeigte Wirkung und so konnte sie weitere Fleischbrocken herunterschlingen, ohne dass sie ihr gleich wieder in der falschen Richtung entgegenkamen. Als sie die wenigen Stücke heruntergeschluckt hatte, lehnte sie sich zufrieden zurück. Die Übelkeit wich einem Gefühl der Müdigkeit. Eine zufriedene Müdigkeit, die man nur dann fühlte, wenn man sich satt gegessen hatte. So hatte sich Aveline schon lange nicht mehr gefühlt und sie schloss die Lider.
Gähnend legte sie sich neben das Feuer auf den Boden und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Ihren Mantel hatte sie sich eng um den Körper geschlungen und ihr Kopf ruhte auf ihrem Oberarm.
„Ich bin so müde", murmelte sie.
Bevor die Männer noch irgendwas entgegnen konnten, driftete sie in einen tiefen Schlaf. Einen Schlaf, den sie schon lange nicht mehr hatte. Es war ihr völlig fremd geworden, sich so fallen lassen zu können, aber dank dem saftigen Fleisch in ihrem Magen, der wohligen Wärme des Feuers an ihrem Körper und der Gewissheit, dass Luca auf sie aufpassen würde, konnte sie sich seit dem Abschied von Faralda wieder so richtig entspannen.
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