32 - Wonnemond
Fécamp, Westfränkisches Reich
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Der kleine braune Spatz, der Aveline auf den Bauch gehüpft war, flog schnell davon, als sie sich zu strecken begann. Sie gähnte laut und rollte sich auf die Seite, um weiter zu schlummern. Das sanfte Seufzen des Meeres rauschte in der Ferne und wiegte sie beinahe wieder in den Schlaf.
Drei Tage hatte sie mitten im überwucherten Kräutergarten ihrer Mutter geschlafen, umzingelt von den Gräsern, Sträuchern und Blumen, die hier jedes Jahr wuchsen. Die Sonne schien Aveline ins Gesicht, weshalb sie langsam die Lider öffnete. Ein sanftes Lüftchen schob den salzigen Geruch des Meeres vom Strand zu ihrem Haus herauf. Sie lächelte. Seit Langem lächelte sie wieder, weil ihr danach war. Das hier war ihr Zuhause und hier konnte ihr Herz, ihre Seele heilen. Der schwere Eisklumpen in ihrer Brust war geschmolzen und liess sie freier Atmen, liess ihr Herz wieder die Wärme des Lebens spüren.
Sie schloss genüsslich die Lider und verharrte eine Weile noch auf der Seite liegend in der Sonne im hohen Gras, zwischen Kräutern und Schnecken. Dann erhob sie sich und schritt ein allerletztes Mal den geschwungenen Weg zum Tor hoch, das zur Strasse und weg von ihrem Haus führte. Sie blickte nicht mehr zurück, denn der Anblick der Trümmern wollte sie nicht mehr sehen.
Die Wunden in ihrem Herzen hatte sie während drei Tage bluten lassen, damit sie versiegen und heilen konnten. Zurückzublicken hätte ihr nicht geholfen mit diesem Kapitel abzuschliessen. Dieses Leben in Fécamp war vorbei. Es war schon lange vorbei gewesen, aber sie hatte diesen Abschied gebraucht.
Sie hatte es gebraucht, im Kräutergarten zu knien, um dem Tod ihrer Mutter nachtrauern zu können. Sie hatte den Geruch der Fischernetze einatmen müssen, damit sie noch einmal die Erinnerungen an ihren Vater hatte aufflackern lassen können. 'Der Trauer muss man den Raum geben, damit man sie überwinden kann.' Das hatte ihre Mutter ihr einst gesagt und erst jetzt realisierte Aveline, wie wahr diese Worte doch waren.
All die Zeit in Jütland hatte sie kaum um den Verlust ihrer Familie trauern können. Wie auch? Mit der Distanz und den Ablenkungen des neuen, ungewöhnlichen Lebens war es ein Leichtes gewesen, die traurige Tatsache zu ignorieren. Nun hatte sie sich aber der Realität gestellt und all das, was sie in Vestervig versäumt hatte, nachgeholt. Sie spürte, wie gut es ihr getan hatte und wie viel näher sie sich ihren Eltern fühlte.
Sie schritt den Weg entlang, der aus der Stadt führte. Links und rechts von ihr erhoben sich die Ruinen aus dem Boden. Aveline richtete den Blick vor sich auf den geschotterten Weg, denn sie wollte nicht das Elend sehen, das hier vor einiger Zeit veranstaltet worden war.
Sie wollte sich auf ihr nächstes Ziel fokussieren: Étretat. Das Nachbardorf, welches nach Angaben des Fischers die Überlebenden aus Fécamp aufgenommen hatte. Sie hoffte, dort Nouel oder Spuren von ihm zu finden. Aveline wusste zwar noch nicht, wie sie ihren Bruder ausfindig machen würde, aber sie war zuversichtlich, dass sie irgendwie an Informationen herankommen würde.
Zwischen ihren Fingern hielt sie den Rosenkranz fest umklammert. Mit dem Daumen strich sie Kreise über die braunen Kugeln, sodass das raue Material gegen ihre Haut kratzte, dann küsste sie das kleine Holzkruzifix. Gott würde ihr beistehen und ihr auf diesem Weg helfen, dessen war sie sich sicher. Seit sie in der Kirche gewesen war und Faralda kennengelernt hatte, hatte sich ihr Leben zum Besseren gewendet. Sie hoffte, dass dieses Glück noch lange anhalten würde.
...
Am frühen Nachmittag erreichte sie Étretat. Die Sonne schien wohlig warm auf die Siedlung herab. Die Kleinstadt lag ähnlich wie Fécamp an einem grossen Strand, der von weissen, runden Steinen bedeckt war. Fischerboote ankerten vor dem Hafen. Anders als in ihrem Heimatdorf, spürte man in Étretat nichts von dem Wikingerüberfall vom letzten Jahr. Hier lagen die Häuser nicht in Trümmern und waren auch nicht mit Efeu überwachsen.
An einer Strassenkreuzung blieb Aveline stehen und blickte um sich. Sie war sich nicht sicher, ob sie im Zentrum nach Nouel suchen, oder ob sie am Stadtrand einige Passanten fragen sollte. Eine Frau im beigen Kleid ging schnellen Schrittes an ihr vorbei, ein paar Holzscheite unter den Arm geklemmt. Aveline packte die Gelegenheit und sprach die Fremde an. Den schwarzen Umhang schlang sie enger um sich, sodass ihr einst grünes Kleid darunter verschwand. Die Frau sollte die Kleidung nicht erkennen können, denn Aveline wollte ja nicht als Normannin missgedeutet werden.
„Verzeihung. Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Vielleicht können Sie mir helfen", sagte sie auf Fränkisch.
Die Dame blieb überrascht stehen und wandte sich ihr zu.
„Selbstverständlich. Was brauchen Sie?", fragte sie und lächelte Aveline freundlich an.
„Mir wurde gesagt, dass Flüchtlinge aus Fécamp hierher gekommen und sesshaft geworden sind. Wissen Sie vielleicht, wo ich Überlebende von damals finden kann?"
Aveline hoffte, dass die Frau verstand, wovon sie sprach. Die Dame legte den Kopf schief und schien zu überlegen. Sie lehnte ihren Oberkörper nach hinten, denn die vielen Holzscheite in ihren Armen mussten schwer sein.
„Flüchtlinge, die... ah, Sie meinen sicher die provisorischen Siedlungen neben dem Hafen, die gebaut wurden!", antwortete die Frau.
„Neben dem Hafen sagen Sie?", fragte Aveline gleich weiter.
Sie spürte ein aufgeregtes Kribbeln in ihrem Bauch. Nicht zu glauben, dass sie so schnell fündig werden würde. Das klang ganz nach dem, wonach sie suchte. Die Frau nickte eifrig, als sie Avelines Begeisterung sah.
„Ja, Sie können es nicht verfehlen! Südlich vom Hafen haben die armen Leute gezeltet bis ihnen der Bürgermeister erlaubt hat, ihre Hütten dort zu errichten. Seit einem halben Jahr etwa stehen da jetzt richtige Häuser."
„Vielen Dank!", jauchzte Aveline und rannte sogleich in die Richtung des Hafens.
Ihre Füsse flogen über die Erde, die Umhängetasche und der Mantel wippten mit ihren springenden Schritten mit. Als sie die provisorische Siedlung erreichte, erkannte sie sofort, weshalb sie so hiess. Einige Häuser standen in ihrem Skelett da, die Dächer noch nicht fertiggebaut. Da und dort fehlten Fensterläden und bei einem Haus sogar die Tür. Die Menschen aus Fécamp hatten ihr Leben neu aufbauen müssen. Von allem beraubt, was sie einst besassen, waren sie hierher gekommen und hatten von Neuem begonnen.
Aveline wollte sich gar nicht vorstellen, wie schwierig das Leben für die Überlebenden gewesen sein musste. Sie stand am oberen Ende der Strasse, die an einem leichten Hang lag und runter bis zum Hafen führte. Die Häuser lagen aneinandergereiht zu beiden Seiten des Weges. Aveline zählte und kam schliesslich auf knapp zwanzig Gebäude, bei denen sie nach Nouel fragen wollte.
Ohne noch mehr Zeit zu verschwenden, begann sie sogleich an die Haustüren zu klopfen und den Menschen, die ihr die Tür öffneten, Fragen zu stellen. In den meisten Häusern waren Leute zuhause und öffneten ihr gewillt die Haustür. Da und dort erkannte sie sogar altbekannte Gesichter. Ihr war aber nicht für lange Gespräche zumute, denn sie wollte so rasch wie möglich Nouel finden.
Sie hinkte von einer Haustür zur anderen, bis sie am Ende der Strasse angekommen war. Beim letzten Haus stand eine Dame im Eingang, welche Aveline in ein längeres Gespräch verwickelte. Aber auch diese Frau wusste nichts von Nouel und seinem Verbleiben. Die Hauseigentümerin verschwand in ihrem Heim und liess Aveline auf der Veranda stehen.
Aveline stiess enttäuscht den Atem aus und stützte ihre Hände in die Hüfte. Das konnte doch nicht wahr sein! Jetzt hatte sie an jede Tür geklopft und praktisch jeden überlebenden Bewohner von Fécamp ausgefragt und keiner konnte ihr sagen, wo ihr Bruder steckte. Mit einer energischen Handbewegung strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie wollte nicht aufgeben und grübelte darüber nach, was sie denn jetzt noch tun konnte. Wenn er nicht hier war, wo war er dann hingegangen?
Aveline versuchte sich vorzustellen, was ein knapp zwölfjähriger Bub denken würde. Hatte er denn niemanden um Hilfe gebeten? War er überhaupt nach Étretat gegangen? Wo sonst konnte er hingeflüchtet sein?
Sie grübelte fieberhaft, aber fand keine Antwort in sich selbst. Ihr Blick schweifte über die Strasse und die Menschen, die sich am Hafen tummelten. Plötzlich erkannte sie in der Ferne ein bekanntes Gesicht. Ihr Herz setzte einen Sprung aus. Es war ein Gesicht, das sie hier so gar nicht erwartete. Ein Gesicht, das eigentlich nicht hier sein sollte! Sie setzte ihre Hand an die Stirn, um besser sehen zu können.
Das war unmöglich!
„Luca?!", schrie sie.
Er war gerade die Strasse hochgehastet und blieb wie angewurzelt stehen, als er ihre Stimme hörte. Etwas verwirrt blickte er um sich, bis er sie sah, wie sie dort auf der Veranda des letzten Hauses an der Strasse stand. Sein Blick war verstört, als er sie erkannte. Seine Augen waren so weit aufgerissen, dass man das weiss seiner Augäpfel deutlich sehen konnte. Er rannte die Strasse zu ihr herunter und stolperte fast über einen Stein, der ihm zwischen die Füsse geraten war. Keuchend blieb er vor ihr stehen. Er trug die Kleidung der Diener Ragnar Sigurdsons, was Aveline stutzen liess.
„Aveline?!", fragte er.
Sie blinzelte etwas überwältigt, lachte dann aber aus vollstem Herzen. Sie blickten einander in die Augen. Er war genauso fassungslos über ihren Anblick, wie sie über seinen. Sie hatten beide nicht erwartet, den anderen an diesem Ort vorzufinden.
„Was machst du hier?", fragten sie einander gleichzeitig.
Aveline lachte abermals laut auf und Luca strich sich geniert mit der Hand durch die zerzausten braunen Haare.
„Ich —", wollte Aveline sagen.
„Ich —", sagte Luca ebenfalls zur selben Zeit.
„Du zuerst", meinte Aveline schmunzelnd und hielt sich die Hand vor den Mund, damit sie nicht weitersprach.
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Luca starrte sie noch immer ungläubig an. Er konnte es nicht fassen, dass er vor Aveline stand. Vor seiner Verbündeten aus Fécamp; Vor der schönste Sklavin, welche die Normannen jemals gefangen genommen hatten; Vor der jungen Frau, die ihm unerwarteterweise das Herz hatte höher schlagen lassen und die er einst seine gute Freundin hatte nennen dürfen.
„Ich bin mit Ragnars Schiffen hierher gekommen, Aveline. Sie sind hier", sagte er wahrheitsgemäss, aber bereute es sofort, denn Aveline wich alle Farbe aus dem Gesicht.
„Nein, nein. Keine Sorge! Sie sind nicht hier in Étretat. Sie sind in Paris. Sie... ich... ich bin geflüchtet. Ragnar wollte mich mitnehmen, damit ich ihm als Übersetzer helfe. Aber... ich wollte das nicht. Vor allem nicht nachdem...", erklärte er, aber hielt dann inne, als er sah, dass seine Worte sie nicht beruhigten.
Sie war bleich geworden, besorgniserregend blass. Ihre sonst so schöne, perlfarbene Haut hatte einen Gelbstich bekommen.
„Aveline... alles in Ordnung?", fragte er.
Sie schluckte mehrmals leer, so als sei ihr übel geworden. Ihre Unterlippe zitterte.
„Die Wikinger sind wieder hier?", fragte sie mit belegter Stimme.
„Ja. Du erinnerst dich doch sicher, dass sie im Frühjahr Plünderungen geplant hatten."
Sie nickte und strich sich eine Strähne hinters Ohr.
„Ah, natürlich."
„Als ich geflüchtet bin, standen sie kurz vor Paris. Es ist schrecklich Aveline. So schrecklich", murmelte er. „Aber hier bist du in Sicherheit. Keine Sorge! Sie plündern nur der Seine entlang. Ich konnte bei Ragnar mithören, als sie über ihre Schlachtpläne gesprochen haben. Sie haben nicht vor, an den Küsten zu halten, sie wollen nur entlang des Flusses brandschatzen."
Aveline setzte sich auf die Dielen der Veranda und blickte auf ihre Füsse. Sie liess den Kopf hängen, was Luca dazu verleitete, sich neben sie zu setzen und seinen Arm um sie zu legen. Sie schüttelte ungläubig den Schopf.
„Unglaublich", murmelte sie.
„Ja, das trifft es gut", schmunzelte Luca und drückte ihre mager gewordenen Schultern näher an sich.
Da drehte sie sich ihm zu und gab ihm eine Umarmung. Er hatte nicht damit gerechnet und sass etwas verdutzt da, nicht wissend, was er jetzt mit seinen Armen tun sollte. Aveline drückte ihren schmalen Oberkörper fest an seinen und legte ihren Kopf in seine Halsbeuge.
„Ich kann es nicht fassen, Luca. Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, dich hier zu finden", sagte sie dann und löste sich wieder von ihm.
Nach Lucas Geschmack hätte diese Nähe zwischen ihnen ruhig noch länger dauern können. Ein wunderschönes Lächeln formte sich auf Avelines Lippen. Ein entzückendes Lächeln, was Lucas Herz gleich erwärmte.
„Es ist schön, dich zu sehen", fügte sie an.
„Ebenfalls", gab er zurück.
Das war es wirklich. Er merkte, wie sehr er sie vermisst hatte. Wie sehr er dieses hübsche Gesicht hatte wiedersehen wollen.
„Lebst du jetzt hier in Étretat?", fragte sie nichtsahnend.
Er schüttelte schnell den Kopf. Das war eine valide Annahme, aber alles andere als die Wahrheit.
„Nein, ich suche hier nur jemanden. Und was machst du hier?"
„Ich suche meinen Bruder", antwortete sie. „Er muss hier irgendwo sein."
Luca verkrampfte sich. Sein Lächeln verstarb, während sie fortfuhr:
„Er hat den Überfall vor einem Jahr überlebt! Kannst du das fassen, Luca?! Mein Bruder lebt! Man hat mir gesagt, dass hier Flüchtlinge aus Fécamp leben. Ich habe an jedes Haus geklopft, aber niemand weiss etwas."
Luce massierte sich mit dem Daumen die Handfläche und blickte auf seine Hände. Er realisierte, dass dies der Grund gewesen war, warum Aveline als freie Frau Vestervig verlassen hatte. Warum sie nicht hatte dort bleiben wollen. Sie hatte es ihm ja sogar noch gesagt, dass sie zurück nach Hause kehren wollte. Am Julabend hatte sie es ihm gesagt. Sie musste sich damals kurzerhand dazu entschlossen haben und hatte ihn dann einfach in Vestervig zurückgelassen.
„Ich muss ihn unbedingt finden, weisst du? Er ist erst zwölf und er kann doch noch nicht auf eigenen Beinen stehen! Ich will mir gar nicht erst vorstellen, was er alles durchlebt haben muss, so ganz alleine. Ohne meine Eltern, ohne mich. Mein armer Nouel..."
Sie seufzte und führte ihre Hand zum Rosenkranz, welchen sie um den Hals trug.
„Ich bete zu Gott, dass er wohlauf ist, Luca. Ich hoffe so, dass ich ihn wiederfinden werde."
Luca schloss ermattet die Augen.
„Aveline..."
Er wollte das eigentlich nicht tun, denn er wollte sie nicht zu ihm bringen. Aber er wusste, dass es falsch war, wenn er es nicht tun würde. Es musste sein, auch wenn es alles andere war, als das, was er gerade wollte.
Wenn Luca gekonnt hätte, hätte er sie angelogen und sie irgendwohin mitgenommen. Weg von dem Wikinger, weg von dem alten Leben. Obwohl er in diesem Augenblick gerne eigennützig gehandelt und Rurik im Wald seinem eigenen Schicksal überlassen hätte, liess es sein Gewissen nicht zu. Aveline musste ihren Bruder finden und Luca kannte den schnellsten Weg dazu: Rurik. Es wäre falsch von ihm gewesen, ihr nicht zu erzählen, was er wusste.
„Ja?", fragte sie, als er noch immer schwieg.
„Ich weiss, wo dein Bruder ist", antwortete Luca leise, so als ob er die Worte eigentlich nicht aussprechen wollte.
Sie packte ihn am Oberarm. Es war eine heftige Bewegung, die Luca verblüfft aufzucken liess. Ihre Fingernägel krallten sich in sein Fleisch, als sie ihren Griff um seinen Arm verstärkte. Ihre goldbraunen Augen waren ganz weit aufgerissen.
„Was hast du gesagt?!", stiess sie aus.
„Ich... also... ich weiss es nicht ganz genau. Aber ich kann dich zu jemandem bringen, der dir helfen kann", stammelte er.
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Aveline verstand nicht, was Luca meinte. Wer zum Teufel sollte ihr denn helfen können? Was redete er da?
„Was?! Wer?!", fragte sie verwirrt.
Luca seufzte und Aveline merkte, dass er mit sich selbst haderte. Es schien, als verheimliche er etwas vor ihr. Sie beugte sich näher zu ihm hin, damit sie ihm besser in die Augen blicken konnte, denn sie wollte sehen, was darin vor sich ging. Er wich ihrem Blick jedoch aus und starrte zu Boden.
„Ich glaube, am besten zeige ich es dir."
„Was willst du mir zeigen?"
„Wir kampieren nicht weit von hier. Gleich im Wald nebenan, ehrlich gesagt", murmelte er und stand auf.
„Im Wald?", fragte Aveline noch immer sichtlich verwirrt.
„Wie gesagt, ich glaube, es ist besser, wenn du einfach mitkommst. Das lässt sich dann so besser erklären."
„Luca, ich verstehe nicht..."
„Lass uns einfach gehen, ja?", sagte er gereizt.
Aveline blinzelte etwas irritiert ob seiner Forschheit, aber erhob sich dann langsam. Sie klopfte ihre Kleidung vom Staub der Veranda ab.
„In Ordnung", sagte sie leise.
Luca marschierte schweigend los und sie folgte ihm. Die Stimmung war plötzlich gekippt und Aveline konnte nicht nachvollziehen, aus welchem Grund ihr Freund schlecht gelaunt war. Aber wenn es wahr war, dass er jemanden kannte, der ihr helfen konnte, ihren Bruder zu finden, dann war es ihr in dem Moment gerade einerlei, die Gefühlsregungen ihres Freundes verstehen zu wollen. Hauptsache er brachte sie näher zu Nouel.
Sie liefen die kleine Seitengasse hoch und bogen in die Hauptstrasse, die sich aus Étretat schlängelte. Der Weg führte an einem sumpfigen Moor vorbei und durchquerte einen dichten Tannenwald. Luca ging entschlossen vor Aveline, noch immer schweigend. Das Licht stach nur noch schwach durch die hohen Tannen und Bäume. Es war dunkler geworden und die Luft kühler. Ein erdiger Geruch wehte ihnen entgegen, als sie die ersten Bäume erreichten. Der Duft des Waldes.
Irgendwas liess Avelines Herz höher schlagen. Vielleicht war es der schnelle Schritt, den Luca aufgenommen hatte und sie ausser Atem brachte. Vielleicht war es aber auch die Aussicht auf das Zusammentreffen mit einer Person, die allenfalls wusste, wo ihr Bruder steckte, oder wie sie ihn finden könnte. Oder vielleicht war es einfach die Aufregung des heutigen Tages. Aveline hielt den Rosenkranz um ihren Hals noch immer fest in einer Hand umklammert. Das Glück durfte sie nicht verlassen.
Plötzlich verliess Luca den Waldweg und stapfte durch das Dickicht. Aveline humpelte ihm hinterher, sehr bedacht darauf, nicht mit ihren Füssen an einer Wurzel hängen zu bleiben oder auf Dornen zu treten. Luca ging mit seinen Lederschuhen weniger vorsichtig und gewann somit einen Vorsprung. Aveline strauchelte ihm hinterher.
Während sie durch das dichte Unterholz marschierten, fragte sich Aveline, weshalb Luca sich mit dieser unbekannten Person im Wald verschanzt hatte. Versteckten sie sich etwa vor jemandem? Es musste sich eindeutig um einen Unterschlupf handeln, denn warum sonst würden sie so tief im Wald ihr Lager aufgebaut haben - fernab der Strasse und vor Blicken geschützt. Ihr war schleierhaft, weshalb sie sich verdeckt hielten.
„Luca, warum genau...?"
„Wie gesagt, Aveline. Es ist einfacher, wenn du ihn triffst. Dann können wir dir alles erklären."
„Ihn? Mit wem bist du denn hier?", fragte Aveline gleich weiter.
Sie war wirklich neugierig und mochte diese Geheimnistuerei nicht.
„Das wirst du gleich sehen", grummelte er und duckte sich, denn ein tiefliegender Ast war ihm im Weg.
Aveline konnte sich gerade noch rechtzeitig bücken, sonst wäre sie gegen den Ast geknallt. Sie beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen, denn sie merkte, wie Luca gereizter wurde, je tiefer sie in den Wald drangen. Nach einer beträchtlichen Weile erreichten sie endlich eine kleine Böschung, über welche Luca fast schon sprintete.
„Dahinten ist unser Lager", sagte er und verschwand hinter dem kleinen Hügelkamm.
Aveline folgte ihm sogleich. Die Böschung fiel auf der anderen Seite steil hinab. Wurzeln und Steine hielten den Abhang zusammen und bildeten somit eine natürliche Mauer. Eine Feuerstelle war neben dem Erdwall erbaut worden und zwei Decken wiesen darauf hin, dass es sich um zwei Schlafstellen handelte. Das Feuer war nicht angemacht worden, aber rauchende, verkohlte Äste lagen in der Mitte. Jemand musste erst vor Kurzem hier am Lager gesessen haben. Luca ging um die Feuerstelle herum und rieb sich gestresst den Nasenrücken. Seine Augenbrauen kniff er fest zusammen.
„Verdammt! Er ist schon wieder nicht hier geblieben. Dieser Bastard!"
Aveline zog sich die Kapuze über den Kopf, denn sie fror. Es war kalt im düsteren Wald. Die Arme schlang sie sich um ihren Körper und rieb sich die Oberarme, um etwas Wärme zu erzeugen. Sie stand neben Luca und blickte ihn fragend an.
„Warte hier. Ich gehe ihn suchen. Weit kann er nicht sein", knurrte Luca und verschwand zwischen den Bäumen.
„Luca? Was...?", rief Aveline ihm hinterher.
„Warte einfach hier!"
Etwas betreten blieb sie stehen und blickte um sich. Die Feuerstelle war geschickt gewählt worden, denn der steile Abhang der Böschung bot guten Schutz von einer Seite. Schutz vor der kühlen Brise aber auch Schutz vor potenziellen Angreifern. Aveline betrachtete die zwei braunen Decken, die den kampierenden zum Schlafen dienten. Wirklich gemütlich sah es nicht aus.
Eine ganze Weile lang wartete Aveline geduldig auf Lucas Rückkehr. Er kam aber nicht so schnell wieder zurück, weswegen sie ihren Blick wieder neugierig über das Lager schweifen liess. Ein grosser, schwarzer Umhang lag neben einer der Decken auf dem Boden, daneben ein dunkelgraues Wolfsfell und ein kleiner Jutesack.
Aveline vermutete, dass dies Lucas Sachen sein mussten. Sie ging in die Hocke, um die Kleidung etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Jutesack war ihr aus irgendeinem Grund ins Auge gesprungen. Sie schlang ihren Umhang enger um den Körper, denn die Kälte des Waldes liess ihre Zähne klappern.
Mit einer Hand wollte sie den so verdächtig bekannt aussehenden Jutesack greifen, da hörte sie ein Knacken hinter sich, das ihr das Blut in den Adern gefrieren liess.
Jemand hatte sich angeschlichen.
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Rurik drückte seine Hand fester um das Griffstück seines Bogens, der Pfeil angelegt, die Sehne mit Zeige- und Mittelfinger weit ausgezogen. Er blickte unablässig auf die dunklen Gestalt an seiner Feuerstelle, während er mit der Pfeilspitze auf sie zielte. Vor wenigen Momenten hatte sich die unbekannte Person hingehockt und untersuchte nun seine Sachen. Er hatte keinen blassen Schimmer, wer das sein mochte, aber das war ein Eindringling und ein Eindringling musste eliminiert werden.
Am liebsten hätte er laut geflucht, als er auf den Ast getreten war und der das verräterische Geräusch von sich gegeben hatte. Als Jäger fiel ihm das lautlose Heranpirschen an seine Beute normalerweise nicht schwer. Aber irgendwie klappte das heute nicht so gut.
Schon davor - bevor er zu seiner Feuerstelle gekommen war, um mit Erschrecken festzustellen, dass eine fremde Gestalt gerade seine Sachen stehlen wollte - war ihm das Heranschleichen an eine Wildsau nicht gelungen. Die Sau hatte ihn gerochen und war grunzend davongesprungen. Dasselbe würde jetzt wohl mit der Person vor ihm geschehen, denn das Knacken musste ihn verraten haben.
Er spannte den Bogen weiter an, so dass seine rechte Hand, welche die Sehne mit den Fingerkuppen hielt, zu zittern begann und wartete ab, ob die Person auf das verursachte Knacken reagierte. Nur eine ruckartige Bewegung, nur ein hastiges Umdrehen genügte ihm und er würde die Bogensehne surren lassen. Ein kraftloser, aber höchst effektiver Akt.
Nichts geschah. Die Person hockte regungslos auf dem Boden.
Rurik hielt den Atem an und musterte den unbekannten Rücken. Die Person trug einen schwarzen Umhang mit Kapuze. Ab der Grösse und Breite schätzte er, dass es sich um einen weiblichen Störenfried handeln musste. Diese Erkenntnis liess ihn schmunzeln und plötzlich fühlte er sich zuversichtlicher. Das war eine leichte Beute für den starken Normannen.
So leise es ging, legte er den Bogen über seine Schulter und den Pfeil in den Köcher. Er wusste, dass er diese magere Gestalt überwältigen können würde. Da brauchte er keinen Pfeil verschwenden. Diese Person war dünn und musste nicht viel Kraft im Körper haben. Es würde ein Leichtes für ihn werden, die Frau mit baren Händen zu überwältigen.
Sie schien das Knacken tatsächlich nicht gehört zu haben, was ihn dazu verleitete, sich weiter zu nähern. Vorsichtig setzte er einen Fuss nach dem anderen auf den Boden, bis er ganz dicht an der Unbekannten stand und schon beinahe ihren Geruch durch die Nase vernehmen konnte.
Dann packte er sie mit einem beherzten Griff am Kragen ihres Umhanges und riss sie hoch. Sie kreischte panisch auf und fuchtelte mit den Armen. Ihre kleinen Hände fanden seinen Kragen und sie begann fest daran zu zerren. Seine Hand schnellte an ihre Gurgel und er drückte zu.
Dabei rutschte ihr die Kapuze vom Kopf und kupferbraune Locken sprangen Rurik entgegen. Ihr wunderschönes Gesicht kam zum Vorschein und das goldene Bernstein ihrer Augen funkelte ihn entgeistert an.
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