31 - Wonnemond
Bei Étretat, Westfränkisches Reich
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„Schmeckt dir der Haferbrei?", fragte Nouel den kleinen Lapin, der sich laut schlürfend die Schale ins Gesicht hob und den Kopf in den Nacken warf, damit ihm die letzten Tropfen Brei in den Rachen flossen.
Links und rechts von seinem Mund tropfte ihm die Milch von der Schale und beschmutzte sein Hemd. Es war für den Buben mit Hasenscharte nicht besonders einfach, sich das Essen ohne zu kleckern in den Mund zu schieben. Seine Oberlippenspalte erschwerte ihm da sehr das Leben, aber der Bursche kümmerte sich nicht darum. Er schlemmte das Mahl mit Leib und Seele, auch wenn das bedeutete, dass er sich danach einem Ganzkörperbad unterziehen musste.
Nouel schmunzelte bei dem Anblick, als Lapin die Schale von seinem Gesicht nahm und ihn breit angrinste. Haferstücke und Milchtropfen klebten an seinem Kinn und reichten beinahe bis hinter die Ohren.
„Lecker!", stiess Lapin mit vollem Mund aus.
Neben ihnen schlabberte der Hund Garou den Teller aus, den man ihm auf den Boden gestellt hatte und auch der älteste der Bande, Hamo, sass genüsslich schlürfend auf dem Boden und gönnte sich eine Schale.
„War wohl doch nicht so eine schlechte Idee, die Wikinger zu bestehlen, was?", grinste der Anführer.
Nouel schwieg, selbst wenn diese Worte eigentlich an ihn gerichtet waren. Selbstverständlich war er froh drum, dass der Plan aufgegangen war. Dennoch waren sie nur glimpflich einer Katastrophe entkommen und es hätte sehr schlimm für sie alle enden können. Das war eine Tatsache, die Nouel selbst fünf Tage nach ihrem gewagten Raubzug nicht einfach vergessen konnte.
Sie hatten mit ihrem waghalsigen Vorhaben ihre eigenen Leben aufs Spiel gesetzt. Auch wenn sie gerade am Rande der Klippen rasteten und sich die Bäuche mit Essen voll schlugen, wollte Nouel kein Gras darüber wachsen lassen. So eine leichtsinnige Tat sollten sie nicht mehr wiederholen, wenn ihnen ihre eigenen Leben lieb waren. Und Nouel war sein eigenes Leben mehr lieb, als der Triumph über diese grässlichen Krieger.
Nouel schüttelte verneinend seinen dunkelblonden Schopf, was Hamo dazu veranlasste, genervt die Augen zu verdrehen. Die beiden zankten sich seit dem Überfall auf die Wikinger und keiner wollte nachgeben. In dieser Hinsicht waren beide die grössten Sturköpfe auf Erden.
„Oder denkst du, es wäre besser gewesen, nichts mitzunehmen und die Leute hungern zu lassen?", fragte Hamo provokativ.
Nouel sagte abermals nichts, denn er war es Leid, eine Diskussion mit dem Bandenchef zu führen. Sie waren unterschiedlicher Meinung und das würde auch so bleiben. Da war jedes weitere Wort blosse Energieverschwendung.
„Nein, natürlich nicht", murmelte Nouel dann, um den streitfreudigen Anführer ruhig zu stellen.
Nouel hätte sich mit einer Meinungsverschiedenheit zufrieden geben können, nicht aber Hamo. Dieser wollte, dass man ihm recht gab, denn er musste immer jede Auseinandersetzung gewinnen.
Hamo nickte zufrieden, denn somit hatte Nouel einmal mehr nachgegeben. Er warf die leere Breischale auf den Boden und liess seinen Blick in die Ferne schweifen. Die Buben sassen am Rande der schwindelerregend hohen Kalksteinklippen der westfränkischen Küste, den Ärmelkanal zu ihren Füssen. Die Sonne schien in ihre Gesichter und eine milde Brise zog an ihnen vorbei ins Landesinnere. Die Felsen leuchteten weiss im hellen Licht.
„So eine Pause war schon lange überfällig! Schön hier, nicht wahr?", meinte Hamo und lehnte sich zurück, seine Beine ausgestreckt, sich mit den Armen im Gras abstützend. Er wackelte mit den Zehen und schloss genüsslich seine Lider.
Sie hatten sich schliesslich nicht an diesen Ort mit atemberaubender Aussicht über das Meer gesetzt um sich zu keifen, sondern um für einen kurzen Moment ihr Glück zu geniessen. Um für einen Augenblick durchzuatmen und ihr eigenes Elend zu vergessen. Die Aufregung der letzten Tage hatte sich allmählich gelegt und endlich kehrte Ruhe in die Gruppe ein. Selbst der Rüde Garou schien die Entspannung zu geniessen und rollte sich zufrieden zusammen.
Der Schatz war in einem Waldversteck von der Diebesbande sicher in der Erde vergraben worden. Die Buben wussten, dass es riskant war, mit so viel Beute bei helllichtem Tag durch die Strassen zu ziehen. Deswegen schlichen sie nur bei Nacht mit den Säcken geschultert durch die Landschaft, bis sie einen geeigneten Ort fanden, um sie wieder zu verbuddeln. Jedes Mal, wenn sie ein gutes Versteck gefunden hatten, entnahmen sie den Beuteln einen Teil des Silbers und tauschten es bei den örtlichen Bauern gegen Nahrungsmittel.
Die Bauern waren froh um das Silber und die Burschen freuten sich über das Essen. Aber wie es Hamos Art nun mal war, wollte er für die Tatsache kompensieren, dass sie den Wikingern mehr gestohlen hatten als sie für sich selbst hätten brauchen können. Darum stellte er sicher, dass sie die überflüssigen Lebensmittel der armen Bevölkerung schenkten. In Hamos Augen war damit die Gerechtigkeit wieder hergestellt und sein Gewissen rein.
Die Diebesbande zog von Dorf zu Dorf und schenkte den dankbaren Bettlern und Strassenkindern Haferbrei, Äpfel und Möhren. Selbstverständlich stellten sie sicher, dass sie nicht zu lange an einem Ort verblieben, denn viel zu schnell verbreitete sich die Nachricht, dass eine grosszügige Bande durch die Ländereien zog und die Armen beschenkte. Ein Ruhm, den sie zwar genossen, aber der ihnen schaden konnte. Vor allem die gut betuchten Menschen in den Dörfern schien es besonders zu stören, dass eine ehrenhafte Diebesbande das Strassengelump beschenkte.
Nun waren die vier eine beträchtliche Weile durchs Land gezogen und hatten an der Küste des westfränkischen Reiches Halt gemacht. Beinahe an dem Ort, an welchem Nouel aufgewachsen war. Hamo hatte ihm vorgeschlagen, in sein Heimatdorf zu gehen, um nach dem Rechten zu schauen und dort allenfalls Nahrung zu verteilen, aber Nouel hatte das nicht gewollt.
Nouel wollte diesen Teil seines Lebens hinter sich lassen. Nie wieder würde er einen Fuss nach Fécamp setzen wollen, denn es hätte bloss schmerzliche Erinnerungen in ihm geweckt. Erinnerungen, die mit jedem Tag, der verging, weiter verblassten und für ihn je länger je mehr nicht mehr greifbar waren. Manchmal konnte er nicht mal Erinnerung von Traum unterscheiden. Er wusste nicht mehr, ob gewisse Dinge, die sich in seinem Kopf abspielten, tatsächlich geschehen waren, oder ob er sich das nur vormachte. Mit dem Verwischen von Realität und Idealisierung verblasste auch Nouels Fähigkeit, sich an die Gesichter seiner Familie zu erinnern. Nur wenn er sich ganz fest anstrengte, tauchten manchmal die Gesichter seiner Eltern und seiner Schwester vor seinem inneren Auge auf. Aber ob sie wirklich so ausgesehen hatten, wie sein Gedächtnis es behauptete, das wusste er nicht mehr.
„Weisst du, was ich mich frage?", sagte Hamo ins Leere, ohne dabei einen seiner beiden Kumpels anzusehen.
„Nein, waf denn?", fragte Lapin, denn Nouel schwieg gedankenverloren.
„Warum hat uns dieser Wikinger eigentlich gehen lassen?"
Lapin blinzelte seinen Anführer an, denn er hatte sich noch keine Gedanken darüber gemacht. Für ihn war es fast eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass sie ohne einen Kratzer von den Wikingerschiffen fliehen konnten. Dass es sich hierbei eher um eine Ausnahme als die Regel handelte, realisierte der junge Bursche nicht.
„Öhm", sagte er laut und rieb sich am Kinn, während er sich ernsthaft eine Antwort zu dieser Frage überlegte.
„Was weiss ich", zuckte Nouel mit den Schultern.
„Vielleicht hatte daf Monfter keinen Durft nach Blut", lispelte Lapin und rieb sich weiterhin das Kinn.
„Ich glaube es war etwas anderes", meinte Hamo. „Ich glaube der konnte uns nichts antun. Er konnte es nicht, selbst wenn er gewollt hätte."
„Daf haft du gefehen?", fragte Lapin neugierig, denn er verstand nicht ganz, worauf sein Anführer hinaus wollte.
„Ja. Ich habs in seinen Augen gesehen. Sein Gewissen", antwortete Hamo. „Ich glaube, der hatte ein Gewissen und konnte uns deshalb nicht umbringen."
Nouel machte einen zischenden Laut mit seiner Zunge, der verächtlich und missfällig klang. Die emphatischen Gedanken seines Anführers dem Wikinger gegenüber billigte er überhaupt nicht.
„Tiere haben kein Gewissen", zischte er.
„Das kann sein. Aber irgendwas hat diesen Mann zurückgehalten. Das kannst du selbst nicht bestreiten, Nouel. Du hast gesehen, wie er sofort die Axt fallen liess, als er uns erkannt hat."
„Was weiss ich", antwortete Nouel abermals.
Er wusste, dass sein Anführer recht hatte, denn er hatte es selbst gesehen. Der entsetzte Ausdruck im Gesicht dieses Normannen, als er erkannt haben musste, dass da drei junge Buben vor ihm standen. Wie er ohne zu zögern seine Axt losgelassen und sich aus dem Weg gestellt hatte. Gerade noch rechtzeitig, damit sie mitsamt ihrer Beute vom Boot hatten fliehen können. Dieses Verhalten passte überhaupt nicht in das Bild, das sich Nouel von den Normannen über die Zeit hinweg gemacht hatte und es störte ihn gewaltig. Er wollte es schlicht nicht wahrhaben und so blieb er stur bei seiner Meinung. Wikinger waren und blieben für ihn widerliche Ungeheuer. Da konnte Hamo denken, was er wollte.
„Und übrigens", sagte Hamo an Nouel gerichtet. „Ist dir eigentlich auch aufgefallen, dass der dich so merkwürdig angeschaut hat?"
Nouel hob beide Augenbrauen überrascht in die Höhe. Das war ihm nicht aufgefallen und es wunderte ihn, dass Hamo eine solche Beobachtung gemacht haben sollte. Aber sein Freund schrieb unwesentlichen Dingen oft viel zu viel Bedeutung zu.
„Nein, ist mir nicht aufgefallen."
„Als ob er dich gekannt hätte."
„Pffff", spuckte Nouel abschätzig. „Vielleicht hat der ja verstanden, dass ich ihn einen Dummkopf genannt habe."
Lapin kicherte, denn er fand es richtig lustig, dass Nouel den grossen Wikinger angefaucht hatte. Wer konnte denn schon von sich behaupten, einen Wikinger beschimpft zu haben und mit dem Leben davongekommen zu sein?
Hamo blieb ernst und überlegte, denn diese Beobachtung schien ihn doch sehr zu beschäftigen.
„Nein, ich meine es ernst. Der hat dich so entgeistert angeschaut, als wärst du Luzifer in Person."
Lapin fand das ebenfalls vorzüglich und formte sein Gesicht zu einer Grimasse. Dann hob er seine Hände an die Stirn und streckte die Zeigefinger aus, sodass er die Hörner des Teufels damit imitieren konnte.
„Fataaaan", lispelte er dabei.
Seine beiden Freunde gingen aber nicht auf sein kleines Grimassenschauspiel ein und lachten auch nicht darüber. Nouel winkte bloss mit der Hand ab.
„Ach, was weiss ich. Ist doch unwichtig! Habt ihr aufgegessen? Wollen wir jetzt endlich weiterziehen?"
Nouel wollte vom Thema ablenken. Er hatte es satt, über die Wikinger und den Vorfall auf dem Boot zu sprechen. Hamo gab auf und sprach nicht mehr davon. Er beorderte die Gruppe dazu, alles einzupacken und zum nächstgelegenen Fluss zu marschieren, um ihre neuerworbenen Holzschalen auszuspülen und sich die klebrigen Münder zu waschen.
Danach wollten sie zu ihrem Schlupfloch im Wald zurückkehren, um ihrem versteckten Schatz ein paar Silbermünzen zu entwenden. Es war für sie alle vier höchste Zeit, weiter zu ziehen und das nächste Dorf ausfindig zu machen, in welchem sie wieder Gemüse oder Getreide an die Hungerleidenden verteilen wollten.
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