30 - Wonnemond
Bei Fécamp, Westfränkisches Reich
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Der laute Ruf, welcher der Vogel dort oben unter den Wolken von sich pfiff, jagte Aveline eine unangenehme Gänsehaut über den ganzen Körper. Sie blieb auf dem Feldweg stehen und betrachtete das schöne Tier, wie es über ihr schwebte.
Der Falke zog seine majestätischen Kreise über einer Wiese, die sich neben der Landstrasse erstreckte und in einem Wald mündete. Sie liess ihren Blick über das Gras schweifen, als sie in der Ferne am Waldrand eine grosse Gestalt erblickte, die in den Himmel starrte. Aveline blinzelte angestrengt, aber in der Finsternis waren die Umrisse nur schwer zu erkennen.
Nebelschwaden schlichen über das hohe Gras und sammelten sich zu einem milchig weissen Schleier, der immer dichter wurde und ihr die Sicht erschwerte. Der Nebel wiegte sich in der windstillen Luft in leichten Wellen und Wirbeln hin und her. Die Gestalt in der Ferne stand noch immer regungslos am Waldrand, den Kopf gen Himmel gerichtet.
Aveline zögerte. Irgendwas kettete ihre Füsse an den Boden, so als wolle es ihr sagen, sie solle stehen bleiben. Ihr Herz klopfte plötzlich ganz aufgeregt in ihrem Brustkorb, als die Erkenntnis kam.
Ihr Albtraum!
Dieser Nebel, der Falke, die Gestalt in der Ferne. Es schien alles verdächtig ähnlich, wie die Wahnbilder, von denen sie geträumt hatte. Sie wich ein paar Schritte zurück und zog sich die Kapuze weiter über die Stirn. Irgendein Gefühl in ihrer Magengegend sagte ihr, dass sie von dieser bedrohlichen Person dort nicht gesehen werden sollte. Die dunklen Umrisse und die kraftvolle Grösse deuteten auf einen Mann hin und Aveline wollte jeglichen Kontakt mit Reisenden - insbesondere mit den männlichen - vermeiden. Sie traute ihnen nicht. Bei Tag nicht und ganz besonders nicht bei Nacht.
Noch hatte sie der Mann dort nicht gesehen, weshalb sie sich gerade in Bewegung setzen wollte, um unbemerkt weiterzugehen, aber in dem Moment wandte er den Blick vom Himmel ab und starrte zu ihr herüber. Sie gefror zu Eis, so als hätte der Blick dieses Mannes sie gefesselt - selbst über das ausgedehnte Feld hinweg. Er hatte sie gesehen! Ihr Atem stockte. Irgendwas Beunruhigendes ging von der Person dort in der Ferne aus.
Für ein paar Atemzüge blieb sie wie erstarrt an derselben Stelle stehen, bis ihr Geist die Überhand über den Körper gewann und sich die Starre in ihren Gliedern löste. Ihr Albtraum hatte eine schreckliche Wendung genommen - erinnerte sie sich - und sie wollte nicht, dass diese Visionen auch noch Realität wurden.
Geistesgegenwärtig rannte sie davon, so schnell es hinkend ging. Aveline musste schleunigst Abstand gewinnen. Sie biss die Zähne fest zusammen. Den ganzen Tag war sie schon auf wunden Sohlen gelaufen. Aber der Fluchtinstinkt betäubte den Schmerz in den Füssen, der mit jedem Schritt unerträglicher geworden wäre. In ihrem Kopf rasten die Gedanken. Sie überlegte sich schon, wo sie sich verstecken wollte, für den Fall, dass dieser Kerl ihr auf den Fersen war.
Keuchend rannte sie in das Waldstück vor ihr und wurde augenblicklich von der Dunkelheit verschluckt. Mit klopfendem Herzen blieb sie hinter einem Baumstamm stehen und lugte vorsichtig hervor. Ihr Atem ging schnell und bildete in der kühlen Luft kleine Dunstwolken vor ihrem Gesicht. Ihr eigener schneller Puls rauschte ihr in den Ohren. Unzählige Herzschläge lang blieb sie hinter dem dicken Baumstamm verschanzt stehen, bis sie erleichtert aufatmete.
Der unheimliche Mann war ihr nicht gefolgt. Sie lehnte sich zur Rast an den Stamm und wartete, bis ihr Atem wieder ruhiger ging und ihr Herz regelmässiger in ihrem Brustkorb schlug.
Eigentlich hatte sie kaum noch Energie für solche Kurzstreckensprints. Seit ihrem Abschied von Faralda war sie eine beachtliche Distanz zu Fuss unterwegs gewesen. Ohne Karren und Esel gestaltete sich die Reise durch das Land aber als mühsam und energieraubend. Den ganzen Tag war Aveline schon auf den Beinen und sie wusste, dass sich Blasen an den Füssen gebildet haben mussten. Selbst wenn sie es durch die Narben nicht fühlte, sie hatte beim Gehen einen unangenehmen Druck in den Fersen gespürt.
Sie zog die Beine zu sich heran und betrachtete ihre Füsse, so gut es in der Dunkelheit ging.
„Verdammt!", fluchte sie leise in die Nacht hinein.
Ihre Fersen waren von Blasen überzogen, die an manchen Stellen schon geplatzt waren oder gar eine zweite Blase gebildet hatten. Kein schöner Anblick, aber Aveline war froh, dass sie nichts davon spürte. Das war immerhin ein kleiner Vorteil ihrer Verletzung.
Eigentlich hätte sie rasten sollen, aber sie konnte es kaum erwarten, endlich in Fécamp anzukommen. Die Tatsache, dass sie ihrem Zuhause so nahe war und die unheimliche Begegnung mit der Gestalt aus ihrem Traum bewegten sie dazu, den letzten Abschnitt bis nach Fécamp in der Finsternis hinter sich zu bringen. Wäre sie nicht von hier gewesen, hätte sie sich bei all den kleinen Wegen und Trampelpfaden schnell verlaufen können. Aber hier war sie zuhause und sie stand kurz davor, endlich wieder einen Fuss in ihre Heimatstadt zu setzen. Sie wollte nicht mehr warten, auch wenn es bedeutete, dass sie in der Düsternis der Abendstunde unterwegs sein musste. Risiko hin oder her, sie wollte nach Hause und nichts und niemanden würde sie mehr aufhalten können.
Ächzend erhob sie sich und lief weiter den Weg entlang, an dessen Ende Fécamp auf sie wartete.
...
Aveline erreichte ihre Heimatstadt bei Sonnenaufgang. Der stechende Schmerz in ihren Fusssohlen hatte sich mit jedem Schritt zu den Knöcheln hochgearbeitet und strahlte ihren Waden entlang bis in die Kniekehlen. Sie hinkte nun noch stärker als zuvor und war heilfroh, endlich an ihrem Ziel angekommen zu sein. Wie sehr sie sich jetzt gerade danach sehnte, ihre Füsse in den kühlen Ozean zu tauchen! Aber erst würde sie rasten müssen.
Sie hinkte langsamer, jetzt, wo sie ihrem Ziel so nahe war. Jetzt, wo ihr nichts mehr im Wege stehen konnte. Der kleine geschwungene Schotterweg, der am Kloster vorbei bis zu ihrem Haus und dann bis zum Meer führte, weckte die Erinnerungen in ihr.
Wie oft war sie in der Vergangenheit diesen einfachen Weg entlang gegangen? Sie erinnerte sich, wie sie regelmässig ihre Mutter bis zum Kloster begleitet hatte, um dort den segensreichen Handel mit den Nonnen zu betreiben. Sie erinnerte sich auch, wie sie gemeinsam mit ihrem Vater und ihrem Bruder an so vielen Tagen diesen Weg bis zum Strand genommen hatte, um im Meer fischen zu gehen.
Sie blickte nicht um sich, denn sie wollte die Zerstörung der Stadt nicht sehen. Die Kieselsteine, die ihr hellgrau im Sonnenlicht entgegen strahlten, waren die einzigen Dinge, die sie sah. Weit und breit war niemand da. Nur Aveline und ihre Gedanken, welche sie bis zum umzäunten Steinhaus begleiteten.
Als sie das kleine Gartentor aufstiess, das einst zu ihrem Haus führte, vernahm sie unmittelbar das vertraute Seufzen des Meeres in der Ferne. Sie schloss die Augen und ohne, dass sie es kontrollieren konnte, formte sich ein Lächeln auf ihren Lippen. Tief sog sie das Salz in der Luft und den Geruch nach Algen durch die Nase ein. Ihre Haut kribbelte und in ihrem Magen flatterten aufgeregte Schmetterlinge. So sehr hatte sie sich nach diesem Moment gesehnt. So sehr hatte sie sich nach ihrem Zuhause gesehnt!
Eine freundliche Brise wirbelte vom Meer herauf über den schäbigen Zaun und strich ihr durch die kupfernen Locken, so dass es ihr den Nacken kühlte. Sie atmete ein zweites Mal tief ein und wappnete sich für das, was kommen würde. Ein Wimpernschlag und ihre Augen waren geöffnet, bereit dazu, das zu verarbeiten, was sich ihr offenbarte.
Vor ihr stand ihr Haus oder das, was davon noch übrig war. Da, wo die Holzschindeln einst das Dach des Steinhauses bildeten, klaffte ein riesiges Loch. Die Mauer, deren Steine sorgfältig übereinander gelegt worden waren, als ihr Vater das Haus mit der Hilfe von anderen Stadtbewohnern aufgebaut hatte, hatte sich von der Hitze des Feuers an manchen Stellen gelockert und bröckelte auf den Boden.
Aveline schluckte leer, als sie es wagte, sich der abgebrannten Ruine zu nähern. Es war kein Haus mehr, das da stand, sondern bloss verbrannte Steine und verkohlte Balken, die übereinander lagen. Sie schritt auf den Eingang zu, der einst von der schweren Eichentür verschlossen war. Die Tür lag aber nicht mehr in ihren Scharnieren, denn diese waren durch die übermässige Hitze verbogen und hatten das Gewicht der Tür nicht mehr halten können.
Zittrig legte sie ihre Hand am Rahmen des Einganges ab und spähte in die Dunkelheit der Ruine. Die Trümmer warfen zu viele Schatten, als dass sie wirklich etwas im Inneren des Hauses hätte erkennen können. Geschlagen schloss sie die Augen und schluckte leer. Es war kein leichter Anblick, das Wohnzimmer in Schutt und Asche zu sehen.
Seufzend kehrte sie der Zerstörung den Rücken zu, da fiel ihr Blick auf die Kiste, welche vor dem Eingang neben der Bank stand. Sie war offensichtlich von den Flammen verschont geblieben. Die Kiste lag noch an exakt derselben Stelle, an der sie ihr Vater an diesem unglücksverheissenden Tag liegen gelassen haben musste. Aveline stockte der Atem beim Anblick all der Fischernetze, die sich darin befanden.
Ein schmerzhafter Kloss bildete sich in ihrem Hals, als sie sich daran erinnerte, wie sie an diesem Tag vor einem Jahr aufgestanden war, weil ihr Hintern vom vielen Sitzen so taub geworden war. Wie sie davon marschiert war - Nichtsahnend, dass es der letzte Augenblick in ihrem Leben sein würde, in welchem sie ihren Vater sah. Dass sie ihn niemals wiedersehen würde.
Vorsichtig ging sie auf die Knie und bekam eines der Fischernetze zwischen die Finger. Ihre Fingerkuppen strichen über die rauen, vom Salz steif gewordenen Fasern. Während sie das Netz hielt, ertappte sie sich dabei, wie ihre Finger unwillkürlich die Maschen inspizierten und an einer gelockerten Stelle hängen blieben.
Sie blinzelte die Tränen weg, die ihr in die Augen stiegen und setzte sich auf die Bank, damit sie das Netz besser inspizieren konnte. Mit einer schwungvollen Bewegung warf sie sich die Beine übereinander und legte sich das Netz auf den Schoss. In der einen Hand hielt sie die Netznadel, welche sie in der Kiste gefunden hatte und machte sich daran, das Netz zu flicken.
Mit grösster Konzentration wollte sie dieses Netz reparieren, selbst wenn die Müdigkeit sich über ihre Lider legte und die Traurigkeit ihr Herz umklammerte. Sie blinzelte fest, so dass die Tränen ihr auf die Oberschenkel tropften. ‚Die Masche muss nicht schön sein, aber sie muss halten, was sie verspricht.' Die Worte ihres Vaters hallten in ihrem Kopf und liess sie aufschluchzen. Das hatte er ihr immer ans Herz gelegt, wenn sie sich für ihre schäbigen Maschen geschämt hatte. Sie zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen. Dieses Netz hier wollte sie fertigstellen. Dieses Netz zwischen ihren Fingern musste geflickt werden, davor würde sie nicht schlafen gehen wollen. Dieses Netz hier schuldete sie ihrem Vater.
Völlig ausgelaugt sass sie auf der Bank und flickte das Netz, bis sie mit ihrer eigenen Arbeit zufrieden war. Sie hielt es gegen die Sonne, betrachtete die geflochtenen Maschen und nickte. Ihr Vater wäre zufrieden gewesen, denn das waren stabile Maschen, die sie da ins Netz geflickt hatte. Mit diesem Netz hätte er garantiert einen guten Fang gemacht.
Schwer seufzend legte sie das Fischernetz wieder auf die Bank und erhob sich. Da gab es noch etwas, das sie nachschauen musste. Mit schwerfälligen Schritten ging sie um ihr zerstörtes Heim herum, denn dort auf der hinteren Seite lag der kleine Kräuter- und Gemüsegarten ihrer Mutter. Aveline wollte nachsehen, wie sehr der Garten vom Brand in Mitleidenschaft gezogen worden war.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie die verbrannte Erde zu ihren Füssen sah. Das mussten die Rückstände der Flammen sein, die sich vom Haus bis knapp in die Mitte des Gartens gefressen hatten. Glücklicherweise waren sie aber nicht weiter gekommen. Aveline setzte ihre vernarbten Füsse auf die verkohlte Erde und sank auf ihre Knie ab. Ein erleichterter Laut entwich ihrer Kehle, als sie erkannte, dass der grösste Teil des Kräutergartens vom Brand verschont worden war. Die Kräuter wuchsen unordentlich und wild durcheinander, aber sie waren noch da.
„Maman", flüsterte sie und strich mit ihren Handflächen über die raue Erde.
Sie spürte, wie ihre Augen brannten und sich die Tränen schon wieder zu bilden begannen. Eigentlich hatte sie kaum noch Kraft, den Anblick ihres zerstörten Heims zu ertragen. Von der Trauer erschöpft fiel sie seitlings auf den Boden und liess den Tränen freien Lauf. Es kümmerte sie nicht, dass der Schmutz ihr in die Haare und Poren drang.
Hier an diesem Ort war sie ihrer Mutter am nächsten. Während sie schluchzte, blickte sie auf die tote Erde. Ihr Herz wog schwer in ihrer Brust und die kalte Trauer kroch ihr in alle Glieder.
„Es tut mir leid, Maman."
Sie schluchzte laut und krallte die Finger in die Erde, so dass sich der Dreck unter ihren Nägeln ansammelte.
„Ich konnte euch nicht mehr warnen."
Sie drückte ihre Wange fester auf den Grund, so dass sie beinahe den russigen Dreck einatmete. Ein weiterer schwerer Schluchzer entkam ihrer Brust, der Schmerz in ihrem Herzen wollte nicht nachlassen.
„Ich vermisse euch!", klagte sie und zog ihre Hände zu ihrer Brust.
Sie drückte die Augen fest zusammen, während die Tränen unaufhörlich von ihren Wangen auf den Schmutz tropften. Die Schluchzer schüttelten ihre mageren Schultern so heftig, dass ihr ganzer Körper bebte.
Eine ganze Weile lag sie zusammengerollt auf dem Boden und weinte. Sie weinte sich den ganzen Schmerz von der Seele, die Trauer aus dem Leib. Mit jedem Schluchzer fühlte sie, wie ihr Herz leichter wurde. Es tat gut, so nahe bei ihren Eltern zu sein. Es fühlte sich richtig an, hier zwischen all den Trümmern und der Zerstörung zu liegen und an sie zu denken.
Als ihre Atmung wieder ruhiger ging, öffnete Aveline die Augen. Sie blieb allerdings in der Position liegen. Ihr Blick schweifte über den Boden, da fiel ihr ein winzig grünes Pflänzchen auf, das unweit von ihrem Gesicht aus der verkohlten Erde ragte. Das war tatsächlich ein Sprössling!
Aveline setzte sich auf die Knie und beugte sich vor, um das kleine Pflänzchen genauer zu betrachten. Ihr fachkundiges Auge erkannte sofort, was da aus der Erde spriesste: Rittersporn!
Ein glückliches Jauchzen entkam ihr, denn dies war die Lieblingspflanze ihrer Mutter. Aveline erinnerte sich, wie die blau-violetten Dolden des Rittersporns wunderschön in der Sonne geleuchtet hatten und wie oft ihre Mutter insbesondere in den Sommermonaten davon geschwärmt hatte, wie schön der Garten doch damit aussah.
Dieser Sprössling war eine der vielen Heilpflanzen, die einst in diesem Gärtchen wuchsen. Der widerstandsfähige Rittersporn hatte das Feuer überlebt, denn seine Wurzeln waren nicht versengt worden. Auf Avelines Gesicht formte sich ein Lächeln. Nichts hatte der Schönheit und dem Überlebenswillen dieser Pflanze entgegensetzen können.
Diese Pflanze konnte Leben schenken. Die Schönheit der violett schimmernden Blüten trogen allerdings. Wer mit dem Rittersporn nicht umzugehen wusste und ihn falsch zubereitete, konnte mit seinem eigenen Leben dafür bezahlen, denn die Pflanze war hoch giftig. Genau wegen dieser zwiespältigen Eigenschaft liebte ihre Mutter diese Pflanze so sehr.
Aveline erinnerte sich daran, was ihre Mutter ihr einmal gesagt hatte, als sie gemeinsam die üppigen Blüten bestaunten.
‚Eine liebenswürdige, verführerisch gut aussehende, aber im Kern hoch gefährliche Pflanze. Mit Rittersporn vor dem Haus kann uns nichts passieren.'
Vorsichtig strich Aveline mit ihren Finger um den kleinen Sprössling herum, damit dieser halb von der Erde verdeckt etwas mehr Platz zum Wachsen hatte. Dann hinkte sie zu ihrer Umhängetasche und holte den Wasserbeutel hervor, den sie davor noch am Fluss aufgefüllt hatte.
Die Pflanze brauchte Wasser, um gedeihen zu können und das wollte sie ihr geben. Vorsichtig schüttete sie das Lebenselixier in die Erde und nickte dann zufrieden. In wenigen Wochen würde diese Pflanze zu einem prächtigen Rittersporn heranwachsen und seine schönen Blüten zeigen. Der Kräutergarten - das Erbe ihrer Mutter - war nicht zerstört worden.
Erschöpft kroch Aveline zu der Stelle des kleinen Kräutergartens, die den Flammen nicht zum Opfer gefallen war. Sie legte sich auf den Rücken hin und schloss die Augen. Alles, was sie jetzt brauchte, war Ruhe.
...
Aveline schlief lange zwischen den wilden Kräutern ihrer Mutter. Die Sonne stand schon tief, als sie erwachte und sich augenreibend wieder aufsetzte. Sie benötigte eine Weile, bis sie bei klarem Verstand war und realisierte, wo sie gerade sass.
Ächzend stand sie auf und machte sich auf zum Strand, denn dort wollte sie als nächstes hin. Dort, wo alles begonnen hatte. Dort, wo ihr Leben eine schreckliche Wendung genommen hatte.
Ihre Füsse trugen sie an der alten Eiche vorbei über das überwachsene Feld, an welchem Rurik sie zu Boden geworfen hatte. Die weissen, rundlichen Kalksteine des Strandes spürte sie kaum unter ihren tauben Sohlen, aber alles, was zählte, war das Gefühl der Meeresbrise auf ihrer Haut. Das Geräusch der jauchzenden Möwen, die in der Luft trieben und nach Fischen Ausschau hielten.
Entschlossenen Schrittes ging Aveline geradewegs ins Meer hinein und blieb erst stehen, als sie die beissende Kälte des Wassers an ihren Oberschenkeln fühlte. Wie sehr sie das liebte!
Genau das hier, war alles gewesen, wonach sie sich so lange gesehnt hatte. An diesem Strand zu sein und in den Wellen zu stehen, den beruhigenden Rhythmus des Ozeans zu vernehmen und den Wind um sich wirbeln zu lassen. Aveline schloss die Augen und konzentrierte sich nur auf das, was sie an ihrem Körper fühlen konnte. Pure Herrlichkeit.
„Du, da! Geh nicht zu weit hinein! Die Strömung kann gefährlich sein!", rief jemand von der Seite und liess sie erschrocken aufblinzeln.
Ein Mann stand unweit von ihr entfernt bei seinem Boot und sortierte seine Netze. Ein Fischer. Aveline lächelte den Mann von Weitem an.
„Keine Bange, ich gehe nicht tiefer hinein!", rief sie.
„Das hoffe ich ja, sonst müsste ich noch eins meiner Netze auswerfen um dich rauszufischen!", lachte der Mann.
Aveline erwiderte das Lachen und stapfte aus dem Wasser. Ihr Kleid triefte und die Tropfen, die ihr von den Beinen auf den Boden rannen, versickerten zwischen den kalkweissen Steinen.
„Ihr seid Fischer?", fragte sie neugierig, als sie dem Mann näher kam.
„Ich bin es geworden", grinste der Mann und klopfte mit einer Hand stolz auf sein Boot. „Habe diese Schönheit hier gefunden."
Aveline nickte, denn sie kannte das Schiffchen. Es war das Fischerboot ihres Vaters. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf dem Rand ab. Die Berührung der rauen Bordkante verlieh ihr ein vertrautes Gefühl, das sie aus ihrer Kindheit noch kannte. In ihrem Kopf flackerten die Bilder ihres Vaters auf, wie er sie über den Schiffsrand hatte hieven müssen, weil sie noch zu klein gewesen war, um selbst hinaufzuklettern.
„Es ist ein gutes Boot", sagte sie gedankenverloren.
Der Fischer lächelte freundlich und deutete mit einem Nicken an, das er mit ihrer Aussage durchaus einverstanden war.
„Kommst du von hier?", fragte er dann.
„Ich kam einst von hier."
Der Mann nickte stumm. Sein Blick war wieder ernst geworden, denn er schien zu wissen, welch furchtbaren Dinge sich an diesem Ort abgespielt hatten. Er kaute auf seiner Unterlippe.
„Schrecklich, was passiert ist", meinte er bedrückt.
Aveline liess den Bordrand los und blickte über die sanften Wellen des Meeres. In der Ferne glitzerte die Abendsonne golden auf den Wogen.
„Das war es", antwortete Aveline. „Aber was war, ist nicht mehr."
Sie tauschte noch ein paar freundliche Worte mit dem Fischer aus, bevor sie wieder zu ihrem Haus zurückkehrte. Für die Nacht rollte sie sich im Kräutergarten ihrer Mutter zusammen. Die frische Luft zehrte zwar an ihrer Körperwärme, aber alleine der Gedanke, nahe bei ihren Eltern zu sein, wärmte ihr Herz, so dass sie nicht fror.
...
Den nächsten Tag verbrachte sie mehrheitlich im Garten ihrer Mutter. Immer wieder wurde sie von den Gefühlen des Verlustes und der Trauer überwältigt. Meist in den Momenten, in welchen sie die Ruine betrachtete. Sie schaffte es nicht, sich dazu zu überwinden, ins Innere des Hauses einzutreten. Zu gross schien der Schaden, der durch das Feuer angerichtet worden war und zu sehr schmerzten sie die Erinnerungen. Sie verweilte im erhaltenen Kräutergarten oder sass auf der kleinen Bank vor dem Haus, vollkommen von ihren Gedanken absorbiert.
Ihr war bewusst geworden, dass sie ihren Bruder nicht in Fécamp finden würde. Wie ihr Luca damals in Vestervig gesagt hatte: Hier gab es nichts mehr, wofür man zurückkehren wollen würde. Fécamp lag in Trümmern und noch hatte sich niemand die Mühe gegeben, das Dorf wieder aufzubauen. Hier gab es nichts und niemanden, der auf sie wartete.
...
Am zweiten Tag schlenderte der Fischer, den Aveline am Strand kennengelernt hatte, am Zaun ihres Hauses vorbei. Als sie ihn erblickte, stand sie von der Bank am Eingang ihres Hauses auf.
„Mein lieber Fischer! Gehst du wieder auf Fischfang?", rief sie und sprang zum Zaun.
Der Mann blieb überrascht stehen, denn er hatte nicht damit gerechnet, hier auf die junge Frau zu treffen.
„Das bin ich!", meinte er und zeigte wieder sein freundliches Lächeln.
„Dann warte, bitte. Ich habe etwas, das du sicher gut gebrauchen könntest", meinte Aveline und drehte sich um.
Mit einem gekonnten Griff packte sie das Fischernetz, welches sie bei ihrer Ankunft geflickt hatte und streckte es dem Fischer hin. Dieser blinzelte verwirrt.
„Das hier kannst du besser gebrauchen als ich."
Der Mann nahm das Fischernetz mit beiden Händen entgegen und streckte es in die Luft.
„Engmaschig! Genau so eins habe ich noch gebraucht!", rief er erfreut.
„Die Maschen werden halten. Versprochen", grinste Aveline.
Der Anblick, wie sich dieser Mann über das Netz freute, erwärmte ihr Herz. Dieser Fischer erinnerte sie irgendwie an ihren Vater.
„Das glaube ich dir aufs Wort!", grinste der Fischer.
Aveline erwiderte das Lächeln. Der Mann machte Anstalten, weiterzugehen, denn er wollte schliesslich Fischen gehen. Aber eine Frage brannte Aveline noch auf der Zunge.
„Wisst ihr eigentlich, was mit den Überlebenden passiert ist?"
Die Frage war aus ihr herausgeflogen, ohne dass sie sich grosse Gedanken darüber gemacht hatte. Irgendwie vermutete sie, dass dieser Mann mehr über ihre Heimatstadt wissen musste als sie selbst. Ein ganzes Jahr war sie abwesend gewesen und seither hatte sich alles verändert. Nichts glich mehr der Heimatstadt, die Fécamp einst gewesen war.
Der Fischer nickte zu ihrer eigenen Überraschung.
„Ja, natürlich. Das weiss jeder aus der Gegend", antwortete er, was Aveline dazu veranlasste, die Augen weit aufzureissen.
Nie hätte sie gedacht, dass ihr dieser Mann tatsächlich weiterhelfen könnte.
„Wirklich?!"
„Die meisten sind nach Étretat geflüchtet und dort mittlerweile sesshaft geworden."
Aveline nickte aufgeregt, denn sie kannte Étretat. Es war das Nachbardorf und lag nur einen Tagesmarsch von Fécamp entfernt. Sie konnte es kaum glauben, dass die Möglichkeit, ihren Bruder zu finden, doch so nahe sein konnte! Es grenzte fast an ein Wunder! Sie bedankte sich bei dem Fischer und liess ihn gehen.
Aufgeregt über diese Neuigkeit setzte sie sich im Schneidersitz in den Kräutergarten und drehte einen Grashalm zwischen ihren Fingern. Sie überlegte eine Weile, ob das ein Ort war, an den ihr Bruder Nouel nach all dem gegangen sein könnte. Ob er sich getraut hatte, sich ganz alleine auf den Weg zu machen, wobei er doch gerade einmal zwölf Jahre alt war. Ehe sie sich versah, verging die Zeit wie im Flug, wie sie so da sass und ihre weiteren Schritte plante und es wurde Abend.
Sie legte sich zwischen die Kräuter und Gräser und schlief mit dem Gedanken ein, dass sie am nächsten Tag nach Étretat gehen wollen würde, um dort nach Nouel zu suchen. Ein Gefühl sagte ihr, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis sie ihn finden würde.
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