24 - Ostermond
Île Saint-Denis, Westfränkisches Reich
~
Rurik schüttelte beim Anblick der Richtstätte den Kopf. Er stand neben Ragnar und Thorsten und betrachtete das Geschehen vor sich. Die gesamte Wikingerarmee hatte sich auf der kleinen Insel mitten im Fluss versammelt. Etliche Bäume waren von einem naheliegenden Wald gefällt und gemäss Ragnars Wünschen aufgestellt worden. Ein prächtiger, zwölf Meter langer Galgenbalken thronte auf dicken Eichenstämmen, die Stricke baumelten in der kühlen Abendluft. Da es bereits dämmerte, hielten die Männer Fackeln in den Händen, um das Schauspiel nicht zu verpassen.
„Müssen wir das wirklich mit allen 111 Soldaten tun?", fragte Rurik seinen Jarl.
„Ja, mit allen."
„Bei allem Respekt, Ragnar. Ich denke nicht, dass Odin das gutheissen wird."
„Was weisst du schon, was unseren Gott glücklich macht, Rurik!", knurrte Thorsten dazwischen und blickte zufrieden auf die gefangenen Franken, die zitternd am Boden kauerten.
Rurik ignorierte den Kommentar seines Kollegen und liess seinen Blick unentwegt auf Ragnar ruhen.
„Zwanzig Stück hätten auch gereicht", fügte er an. „Mit dem Rest hätten wir Lösegeld aushandeln können."
Ragnar seufzte hörbar genervt und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Nein! Wir wollen doch einen bleibenden Eindruck hinterlassen", lachte der Jarl höhnisch und deutete mit dem Finger zum Hügelkamm auf der anderen Seite des Flusses. "Schau mal, dort oben am Hügel. Wir haben sogar Zuschauer bekommen!"
„Das sind wahrscheinlich Boten. Denen werden wir etwas zu berichten geben!", meinte Thorsten mit einem breiten Grinsen auf den Lippen.
Rurik schüttelte abermals seinen Kopf. Er wollte es noch nicht aufgeben, seinen Häuptling davon abzuhalten, zu einem Kriegsverbrecher zu werden.
„Ragnar. Es gehört nicht zu unserer Art so mit Gefangenen umzugehen", begann er, allerdings schnellte Ragnars Hand drohend in die Luft.
„Schnauze! Hör endlich auf den Tugendbold zu spielen! Es geht mir mächtig auf die Eier! Im Krieg laufen die Dinge nun mal anders, mein geschätzter Hauptmann", zischte Ragnar und deutete dann mit seiner Hand auf den wimmernden Haufen Franken vor ihnen. „Das hier sind keine Normannen. Das sind Christen und die hätten mit uns das Gleiche getan, wenn sie uns gefangen genommen hätten! Die Franken sollen uns fürchten lernen. Wir sind hier nicht zum Kuscheln hergekommen, sondern um sie zu schlachten!"
„Ragnar ...", wollte Rurik ansetzen, aber sein Jarl hatte ihm bereits den Rücken zugedreht.
„Erhängt sie!", befahl Ragnar lautstark.
Plötzlich kam Bewegung in die wartenden Wikinger, die wie Aasgeier um die Gefangenen gestanden hatten. Die ersten zehn fränkischen Kriegsgefangene wurden an den Schultern gepackt und zur Richtstätte geschleppt. Sie brüllten und flehten um ihr Leben, aber man hörte nicht hin. Man hatte die Gefangenen ihrer Kleidung entledigt und ihnen alle Wertsachen, die sie an ihren Körpern trugen genommen. Sie sollten so, wie ihr Gott sie geschaffen hatte um ihr Leben gebracht werden.
Einer nach dem anderen wurde ein Seil um den Nacken geschlungen. Die kleine Flussinsel bot einen fantastischen Schauplatz für eine Massenhinrichtung und genau das war es, was Ragnar wollte: Aufmerksamkeit.
Er wollte die Franken schockieren. Er wollte, dass sie sahen, was geschah, wenn man einem Normannen in die Hände fiel. Er wollte, dass der König dieses Landes davon hören würde, wie grauenvoll seine Soldaten exekutiert worden waren.
Bevor man die kleinen Baumstumpfe umstiess, auf denen die Hinzurichtenden auf Zehenspitzen taumelten, wollte Ragnar eine Rede halten. Der Jarl hob seine Hand als Zeichen in die Luft. Augenblicklich verstummten die Wikinger, denn sie wollten den weisen Worten ihres Häuptlings horchen.
„Allvater, Odin!", donnerte Ragnars Stimme über die Köpfe seiner Männer hinweg. „Mutig haben wir in deinem Namen geschlachtet, aber der Kampf ist noch lange nicht vorbei. Wir werden dich in grösster Ehre halten, in jeder Schlacht, die noch folgen wird! Lass unsere Klingen ihr Ziel treffen, mache unsere Arme schneller als jeder, der uns vernichten will. Bitte, erhöre uns und empfange diese Gabe!"
Als er seine Hand fallen liess, wurden die Baumstumpfe von den Füssen der karolingischen Krieger gekickt und sie begannen um ihr Leben zu zappeln. Ihre Kameraden, die noch immer auf dem Boden kauerten, mussten mit Entsetzen zusehen, welch Schicksal ihnen in wenigen Augenblicken ebenfalls blühte. Das Keuchen und Würgen der Vasallen erfüllte die Luft und wurde allmählich von den verzweifelten Rufen der wartenden Hinzurichtenden abgelöst. Die Wikinger standen grinsend und lachend neben der Richtstätte und genossen das Spektakel.
Nachdem die ersten zehn Gefangenen erhängt worden waren und man ihren Tod festgestellt hatte, wurden sie von den Galgen gebunden und ihre Leichname an einer Stelle abseits der Richtstätte aufeinander gestapelt. Dann waren die nächsten zehn nackten Hinzurichtenden an der Reihe. Einige Männer begannen sich mit mehr Verzweiflung zu wehren, aber es gab kein Entkommen, denn sie waren von Wikingern umzingelt und heute war der Tag, an dem sie sterben würden.
Rurik ertrug diesen Anblick kaum. Das Wimmern und Jammern schmerzte in seinen Ohren. Das war kein Tod, den diese Soldaten verdient hatten. Da wäre es ihm lieber gewesen, sie auf dem Schlachtfeld zu töten, als sie erbärmlich und entblösst an einem Strick hängen zu sehen. Das war wirklich kein ehrenvoller Tod für einen Krieger, selbst wenn dieser zum Feind gehörte.
Er riss Thorsten die Fackel aus der Hand, drehte dem Geschehen den Rücken zu und stampfte in Richtung der Schiffe, die im Fluss leicht wippten. Selbst wenn diese Hinrichtung eine Opferung für seine Götter darstellte, war ihm das im Moment gerade einerlei. Odin war kein grausamer Gott und Ragnar hätte durchaus mehr Barmherzigkeit zeigen können, ohne dass er den Göttervater damit erzürnt hätte. Rurik wusste, das Ragnar wieder einmal mehr nur provozieren wollte. Er wollte die Franken aus ihrer Falle locken und ihnen gehörig Furcht einflössen. Das konnte Rurik nicht mehr mitansehen.
„Wo willst du hin?", fragte Thorsten, der ihm hinterher blickte. „Das kannst du dir doch nicht entgehen lassen!"
„Ich muss mal pissen", murrte Rurik und sprang auf das erste Schiff.
Mit energischen Schritten lief er über die Balken, welche die Boote miteinander verbanden, in der Hand die Fackel, die ihm einen schwachen Lichtstrahl spendete. Die Rufe und Schreie erfüllten das ganze Flussbett und liessen die Grillen, die sonst so laut am Flussufer zirpten, vollkommen verstummen. Es war, als wäre selbst die Natur geschockt von dem, was Ragnar da veranstaltete.
Die fränkischen Späher, die noch immer am Hügelkamm standen, beobachteten unentwegt, welch schreckliche Szenen sich auf der Insel abspielten.
...
Rurik verstärkte den Griff um die Fackel. Seine Finger waren von der Kälte steif geworden. Die Frühlingsnächte im Frankenreich waren genauso kühl wie in Jütland, hatte er festgestellt. Deshalb trug er seinen schwarzen Umhang und ein blaugraues Wolfsfell um die Schultern.
Mit zwei grossen Schritten überquerte er den letzten Balken zum Prunkschiff und setzte sich seufzend am Vordersteven auf eine Kiste. Die Fackel schmiss er laut scheppernd in die Feuerschale, die sogleich die Flammen aufnahm und einen warmen Strahl verbreitete.
Er war froh, dass er für einen Moment für sich sein konnte. Auf Raubfahrt war das ansonsten ein Ding der Unmöglichkeit. Auf den Schiffen sass oder stand man zusammengepfercht eng aneinander. Da gab es keinen Raum für Privatsphäre. Bei Tag und bei Nacht verbrachte man jeden Atemzug seines Lebens mit seinen Brüdern. Es tat gut, einfach mal die Ruhe zu geniessen.
Rurik griff in die kleine Innentasche, die er unter seiner Rüstung hatte und nahm den silbernen Armring hervor. Mit seinem Daumen strich er über die Muster des Halbringes. Der Armreif bestand aus zwei silbernen Röllchen, die sich spiralförmig umeinander wanden und an den offenen Enden in zwei Wolfsköpfe übergingen, die sich anknurrten. Der Sigurdson-Ring - so viele hatte er davon in seiner Vergangenheit gesammelt aber nur dieser hier in seinen Händen war von Bedeutung. Er betrachtete das Schmuckstück, während in seinem Kopf die Erinnerung auftauchte wie dieser Ring an Avelines Oberarm geschimmert hatte. Ein langer Seufzer entkam seiner Brust und er stopfte sich den Armreif schnell wieder in die Rüstung.
Da liess ihn ein Geräusch vor ihm unter der Segelplane aufhorchen. Er erhob sich langsam. Seine Ohren täuschten ihn nicht, das wusste er. Er hatte ein merkwürdiges Geräusch gehört, dessen Ursprung er unter dem roten Rahsegel vermutete.
Ob Loki und Rollo schon zurückgekehrt waren und ihm einen Streich spielten?
Die zwei waren die letzten Tage für einige Scherze bereit gewesen und hatten nur Ärger gemacht. Es hätte Rurik nicht erstaunt, wenn sie ihm auch heute Abend wieder mächtig auf die Nerven gehen wollten.
Er schritt zum Zelteingang und hob die Plane mit einer Hand zur Seite. Das Licht der Feuerschale hinter ihm drang in den dunklen Innenraum und erhellte die Ruderbänke. Rurik stutzte, als er plötzlich ein Jungengesicht im hinteren Teil des Schiffes erkannte. Automatisch schnellte seine Hand zu seiner Waffe, da hechtete ein Schatten vor ihm durch und liess ihn aufzucken.
Er blinzelte überrascht an die Stelle, wo der Schatten hingehuscht war. Rurik bekam seine Axt zwischen die Finger und zog sie aus seinem Gürtel heraus. Im selben Augenblick sah er etwas Silbernes aufblitzen, das in seine Richtung flog. Er duckte sich gerade noch rechtzeitig. Mit einem zischenden Geräusch rauschte das Beil haarscharf an seinem Gesicht vorbei und bohrte sich hinter ihm in eine Kiste.
Augenblicklich stürzte er sich auf den Schatten an der Reling, welche die Waffe nach ihm geworfen hatte. In dem Moment sprang ihm jemand auf die Schultern und preschte die Fäuste auf Ruriks Hinterkopf. Dem Gewicht zufolge musste das ein Kind sein. Der Wikinger packte den Jungen mit einer Hand und riss ihn von seinen Schultern. Der Bub krachte auf die Ruderbänke, die vom Aufprall zerbarsten. Der grössere Schatten, der die Axt geworfen hatte, kam dem Zwerg zu Hilfe. Dieser lag wimmernd auf dem Schiffsboden.
Rurik hielt im Kampf inne, seine Hand noch immer fest um die Waffe umschlossen. Sein Atem ging schnell, während er den Blick über die Gestalten schweifen liess. Drei Buben standen wie angewurzelt vor ihm, unfähig und zu schockiert, um weiter zu kämpfen. Er erkannte die Todesangst in ihren weit aufgerissenen Augen.
Ruriks Blick fiel auf die Jutesäcke, die vor den Buben auf den Dielen lagen und verstand sofort, was sie hier auf dem Schiff trieben. Das mussten Diebe sein. Er hob wieder die Augen und blickte dem grössten der drei Buben direkt in die Augen.
Mit einer langsamen Bewegung hob Rurik seine Hand, welche die Axt hielt und liess los. Die Waffe fiel krachend zu Boden. Das Geräusch liess den kleinsten der Buben erschrocken zusammenzucken. Rurik hoffte, dass die Jungen seine Geste verstehen würden. Der grösste der drei blinzelte überrascht. Sein Blick schweifte von Ruriks Axt, die nun auf dem Boden lag, zu seiner leeren Hand und anschliessend zu seinem Gesicht. Er starrte den Normannen an, ohne es zu wagen, überhaupt zu blinzeln.
„Ich tue euch nichts", sagte Rurik auf Nordisch, obwohl er wusste, dass sie nichts davon verstanden.
Seine Stimme war ruhig, aber bestimmt. Er hoffte, dass sie an seiner Tonlage verstehen würden, was er ihnen mitteilen wollte. Die Buben blickten ihn allerdings noch immer voller Furcht an. Der Kleinste klammerte sich schlotternd an die Seite des grössten Jungen. Der Mittelgrosse stand regungslos da. Er hatte sich die ganze Zeit nicht bewegt.
Rurik merkte, wie sich die Hintergrundgeräusche veränderten. Das Geschrei und Heulen der Gefangenen war verstummt, was nur bedeuten konnte, dass die letzten Hinzurichtenden verstorben sein mussten. Er wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis seine Kameraden zurück auf die Schiffe kehren würden.
Darauf bedacht, die ängstlichen Buben nicht noch mehr zu verschrecken, stellte er sich mit einer möglichst ruhigen Bewegung zur Seite und machte den Ausgang frei. Er stiess laut den Atem aus, denn er wusste, dass das, was er hier gerade tat, alles andere als ehrenhaft war - für einen Wikinger. Diebe, die seinen Jarl bestehlen wollten, laufen zu lassen - Dafür hätte er sie enthaupten müssen, aber das wollte er nicht. Er biss die Zähne zusammen und blickte die Buben erwartungsvoll an.
Sie mussten das doch jetzt verstehen!
Sie regten sich noch immer nicht.
„Na los! Haut ab!", rief er und machte eine Wischbewegung.
Endlich kam Bewegung in die erstarrten Körper. Der grösste Junge packte den Jutesack, der vor seinen Füssen lag und warf ihn sich über die Schulter. Mit dem Kleinsten an der Hand ging er rasch an Rurik vorbei.
„Merci", flüsterte der Grosse, als er am Zeltausgang stand.
Rurik wusste nicht, was das bedeutete, aber es klang irgendwie freundlich. Er nickte als Antwort und wartete, bis der mittelgrosse Bub auch noch an ihm vorbeigegangen war. Zögerlich näherte sich der Junge dem Ausgang und als er direkt neben Rurik stand, fiel das Licht der Feuerschale ganz auf sein Gesicht.
Ruriks Blut gefror in seinen Adern. Das Gesicht des Jungen war so voller Wut und Abscheu. Der Hass war deutlich spürbar, aber das war es nicht, was Rurik den Atem raubte. Es war das Gesicht, was ihn gerade aus der Bahn warf, denn es war ein Gesicht, das Rurik nur allzu bekannt war.
Und da dämmerte es ihm. Er kannte den Jungen!
Das war Avelines kleiner Bruder, der ihn da gerade anstierte. Die Ähnlichkeit war unverkennbar! Mit dem Wiedererkennen des Gesichts blitzte auch die Erinnerung in seinem Kopf auf. Wie Rurik damals den Buben hinter das Steinhaus geschleppt hatte und wie er sich dazu entschieden hatte, den Jungen leben zu lassen. Mit dem Griff seiner Axt hatte er dem Buben eins über den Hinterkopf gezogen, damit dieser ausser Gefecht gesetzt wurde und erst erwachen würde, wenn Rurik und seine Männer längst wieder verschwunden waren.
„Crétin!", knurrte Avelines Bruder und spuckte auf den Boden.
Rurik blieb regungslos stehen und liess ihn durch. Er widerstand dem Impuls, nach dem Arm des Jungen greifen zu wollen. Das war nicht der Moment dafür. Stattdessen senkte er seinen Blick und wartete, bis sie gegangen waren. Das Boot schwankte leicht, als sie von Bord auf das nächste Schiff sprangen.
...
„Heee! Das sind Diebe! DIEBE!", hörte Rurik plötzlich Kjetills Stimme über die Schiffe röhren.
Verdammt!
Er sprang zum Ausgang des Zeltes und sah noch, wie der grosse Bursche mit flinken Sprüngen über die Balken rannte und mit seinen zwei Freunden zurück zum Ufer huschte. Die Diebe hatten es wieder an Land geschafft. Rurik atmete erleichtert auf.
Da kam Kjetill herangedonnert, so dass die Brückenbretter beinahe unter seinem Gewicht nachgaben. Er blieb hinter Rurik stehen und blickte ebenfalls in die Richtung, in welche die Buben soeben verschwunden waren.
„Was haben die mitgenommen?!", rief der Hüne entsetzt.
„Keine Ahnung. Habe es nicht gesehen", gab Rurik als Antwort zurück.
„Aber die waren doch auf dem Schiff?", meinte Kjetill und hob fragend eine Augenbraue in die Höhe.
Rurik zuckte bloss mit den Schultern, so als könne er damit die Ernsthaftigkeit dieser Situation herunterspielen. Er wollte es sich nicht anmerken lassen, dass er den Burschen selbst begegnet war und vor allem, dass ihr Entwischen sein eigenes Verschulden war.
„Hier waren sie nicht. Musst du falsch gesehen haben", meinte er nur.
„Die haben aber was geklaut! Das müssen wir unbedingt Ragnar rapportieren."
„Ach, was! Das ist doch nicht so wichtig", winkte Rurik ab.
Er wollte nicht, dass daraus eine grosse Sache gemacht werden würde, denn er konnte sich gut vorstellen, was Ragnar tun würde, wenn er davon Wind bekam.
„Nicht so wichtig?! Die haben uns bestohlen!", rief Kjetill empört.
Der blonde Hüne verstand die Gelassenheit seines Hauptmannes offensichtlich nicht. Rurik zuckte nur mit den Schultern und ging an den Rand der Reling, seinen Blick unentwegt an den Uferrand geheftet, an welchem er bis vor Kurzem noch die drei Schatten weglaufen gesehen hatte.
„Das Bisschen Silber... Wir haben mehr als genug davon geplündert, wahrscheinlich werden wir nicht einmal einen Unterschied merken. Ragnar muss das nicht wissen", sagte er und drehte sich wieder zu seinem Kollegen um.
Vor ihm stand allerdings nicht mehr Kjetill, sondern Ragnar höchst persönlich. Er musste gerade eben auf das Schiff gekommen sein und hatte sich hinter Rurik gestellt.
„Was muss ich nicht wissen?", fragte der Jarl mit einem misstrauischen Ton in der Stimme.
Er starrte seinen Hauptmann mit scheelem Blick an. Ruriks Gedanken rasten, aber in dem Moment fiel ihm keine Ausrede ein. Der Jarl hatte ihn gerade dabei ertappt, wie er etwas vor ihm hatte verheimlichen wollen. Bevor Rurik allerdings irgendwas zu seiner Verteidigung sagen konnte, platzte Kjetill mit der Neuigkeit heraus und rettete Rurik ungewollt aus dem Schlamassel.
„Diebe waren hier auf dem Schiff! Sie haben drei Säcke voll gestohlen! Ich habe sie gesehen, Ragnar. "
Ragnars Blick wurde augenblicklich düster, seine Zähne blitzten hervor. Ein leises Knurren entkam seiner Brust.
„WAS? Bestohlen? Wer war das?", donnerte er.
Seine laute Stimme hallte über den Schiffsrumpf und liess einige der zurückkehrenden Männern die Köpfe recken. Rurik überlegte immer noch fieberhaft, wie er die Situation in eine andere Richtung lenken konnte, aber ihm fiel nichts ein.
„Das waren Kinder, Ragnar", fuhr Kjetill wie ein braves Hündchen fort.
Rurik verdrehte die Augen. Es war deutlich, dass sich der Hüne gerade bei Ragnar positionieren wollte.
„Kinder? Diebe?! Wie in Odins Namen sind die auf unsere Schiffe gekommen?", rief der Jarl noch immer wütend.
Rurik räusperte sich. Er wusste, dass er das Spiel mitspielen musste, damit Ragnar keinen Verdacht schöpfte und er nicht aufflog.
„Wahrscheinlich sind die während der Hinrichtung auf die Boote geschlichen", meinte Rurik.
Ragnar starrte seinen Hauptmann wütend an. Sein Gesicht war tiefrot angelaufen und die Ader an seinem Hals trat deutlich hervor. Das tat sie immer, wenn irgendeine Angelegenheit ihn zur Weissglut trieb. Der Häuptling schien alles andere als erfreut.
„Wer glauben die eigentlich, wer die sind?!", schrie er.
Rurik legte die Hand auf die Schultern seines Jarls, im hoffnungslosen Versuch, den erzürnten Mann zu besänftigen.
„Wir werden den Verlust doch gar nicht merken", sagte er, da schlug ihm Ragnar allerdings die Hand von der Schulter.
Es war zu spät für Besänftigungen. Das Monster war geweckt worden und es würde nicht ruhen wollen, bis es bekam, was es wollte.
„Glaubst du wirklich, dass ich mir das gefallen lasse, Rurik?! Ragnar Sigurdson lässt sich doch nicht von solchen Kötern bestehlen!", brüllte er, so dass die Spucke in alle Richtungen flog.
Mittlerweile war fast die ganze Besatzung zurückgekehrt. So manch ein Krieger wunderte sich über den aufgebrachten Jarl, wo sie doch gerade erst Zeuge von einer solch tollen Menschenopferung geworden waren. Sie verstanden nicht, was ihn dermassen aus der Fassung bringen konnte.
Ragnar drehte sich energisch zu Kjetill um und stach seinen Zeigefinger in dessen Brust, so dass dieser vor Schmerz aufjaulte.
„Geh ihnen nach!", donnerte er den Befehl dem Hünen ins Gesicht.
Kjetill blinzelte etwas verunsichert, denn er war noch nie von seinem Jarl dermassen angefaucht worden.
„Jetzt sofort ...?", fragte er mit unsicherer Stimme.
Ragnar lachte spöttisch auf.
„Ja natürlich! Du hast sie ja weglaufen lassen, also bringst du sie mir auch zurück! Nimm deinen Freund mit und komm erst wieder, wenn du sie gefunden hast!"
Kjetill schluckte leer, nickte dann aber, denn er wusste, dass er seinem Jarl nicht zu widersprechen hatte. Rurik schwieg zähneknirschend, während der Hüne seinen rothaarigen Freund Emmik in der Menge suchte. Die zwei warfen sich Schild und Axt über die Schultern und sprangen so schnell sie konnten über die Schiffe.
„Und bringt mir ihre verdammten Köpfe!!!", rief Ragnar den beiden Wikingern hinterher als sie das Flussufer erreichten.
○●○
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro