17 - Ostermond
Am Dannewerk, Südjütland
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Mit jedem Tag, der verstrich, verschwand die Taubheit in Avelines Seele und die Wärme kehrte allmählich in ihren Körper zurück. Die Sonnenstrahlen, die ihr ins Gesicht schienen, vertrieben den Nebel im Kopf und liessen sie aus dem seelischen Tiefschlaf erwachen. Tagelang hatte sie ins Nichts gestarrt, weil sie die Welt nicht mehr mit vollem Verstand hatte wahrnehmen wollen. Jetzt dämmerte es ihr allerdings, dass es für sie höchste Zeit war, wieder aufzubrechen und Hedeby hinter sich zu lassen.
Lange genug war sie ihrer Freundin Joscelin zur Last gefallen und hatte dabei selbst wertvolle Zeit verloren. Fast hätte sie blind vor Trauer und Verzweiflung ihr ursprüngliches Ziel aus den Augen verloren. Sie musste weiterziehen, denn ihr kleiner Bruder war noch nicht gefunden. Er war ihr allerletzter Lichtblick und er war der Grund, warum sie sich nicht im grauen Sumpf ihrer Trauer verkriechen konnte. Sie wollte sich zusammenreissen und alles dafür tun, um ihn zu finden.
Ihre Kraft war dank der Grosszügigkeit der Nonne in ihren Leib zurückgekehrt. Ihre Wangen schienen rosiger als an dem Tag, an dem sie in Hedeby angekommen war. Aveline fühlte sich gestärkt und wieder bei vollem Verstand, um ihre Reise fortzusetzen.
„Hier, nimm das bitte mit", sagte die Schwester beim Abschied und streckte ihr eine kleine Reisetasche hin.
„Schwester, das kann ich nicht annehmen! Ihr braucht die Nahrung doch selbst!", lehnte Aveline ab, als sie sah, dass sich darin ein paar Möhren und gekochte Kerbelrüben befanden. „Ihr wart schon grosszügig genug."
„Ach, ich bin doch bloss eine alte Frau. Meine Kräfte schwinden auch so schon von Tag zu Tag. Dich wird dieses Gemüse weiter bringen, als mich."
Aveline drückte den Beutel fest an ihre Brust und bedankte sich mit einer Umarmung.
„Ich danke Euch. Wirklich. Für alles, was Ihr getan habt. Ohne Euch hätte ich das nicht geschafft."
„Ich weiss, mein Kind."
„Lebt wohl, Schwester. Gott segne Euch!", sagte Aveline und blinzelte die Abschiedstränen weg.
Schwester Joscelin schluckte leer und legte ihre Hände auf Avelines Schultern. Sie blickte ihr lange in die Augen.
„Lebe auch du Wohl, mein Kind. Und bitte vergiss eines nie. Alles, was mit dir auf dieser Reise passiert, geschieht, weil Gott es so will. Du bist genau dort, wo er dich haben möchte", sagte sie ernst.
Aveline senkte ihren Kopf.
„Ich weiss nicht, ob Gott noch bei mir ist", flüsterte sie.
„Manchmal muss man durch die Hölle, um am Ende zur Herrlichkeit zu gelangen. Auch für dich wird die Sonne wieder scheinen, meine Liebe. Das verspreche ich dir", sagte Joscelin und begann im Kragen ihres Kleides zu kramen.
Ein Rosenkranz mit dunkelbraunen Perlen und Holzkruzifix kam unter ihrem Kleid hervor.
„Hier. Nimm den mit, damit Gott immer bei dir ist. Er wird dich beschützen. Sein Wille ist manchmal unergründlich, aber er hat einen Plan mit uns allen. Und jetzt geh, mein Kind. Gott segne dich!", hauchte die Schwester und drückte Aveline die Kette in die Hände.
Aveline starrte auf den Rosenkranz zwischen ihren Fingern. Die hölzernen Kugeln waren rau und abgewetzt. Die Schwester musste diesen Rosenkranz oft benutzt haben und er musste ihr viel bedeuten. Aveline schluckte leer.
Dann drückte sie die Hände der Nonne dankend und bahnte sich den Weg durch die enge Gasse zurück zur Hauptstrasse und zur Pferdekoppel. Als sie sich umdrehte und sah, dass die Schwester noch am Zaun des Schweinegeheges stand, winkte sie zum Abschied ein letztes Mal. Joscelin erwiderte ihr Winken mit einem herzerwärmenden Lächeln und dann war auch sie im Inneren des Hauses wieder verschwunden.
...
Bei der Koppel angekommen, wurde Aveline vom Pferdemeister mit einem neugierigen Blick begrüsst. Er striegelte gerade eines seiner gescheckten Tiere. Mit entschlossenen Schritten kam er auf sie zu, als er sah, dass sie auf Haski klettern wollte.
„Entschuldigen Sie", sagte er höflich und gab ihr zum Gruss ein freundliches Kopfnicken. „Dieser Hengst steht hier schon seit sieben Tagen. Ist das Ihrer?"
„Ja. Er gehört mir."
„Wohin reisen Sie?"
„Warum wollen Sie das wissen?", fragte sie sogleich zurück.
„Es ist nur..."
Der Mann zögerte, was Aveline stutzen liess.
„Stimmt etwas mit dem Hengst nicht?", fragte sie sofort.
Sie hatte mit ihrer Frage ins Schwarze getroffen. Der Pferdemeister nickte und warf Haski einen besorgten Blick zu. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts Gutes.
„Er hat einen offenen Huf und lahmt deswegen. Ist Ihnen das nicht aufgefallen, als Sie hierher gekommen sind?"
Aveline strich mit der Hand über Haskis Flanke. Seine Haut erschauderte vor Genuss und zuckte unter der Berührung.
„Nein", gab sie zu, „ich hatte auf meiner Reise keine Gelegenheit, ihm die Hufe zu säubern."
Ausserdem war sie alles andere als in einem zurechnungsfähigen Geisteszustand gewesen, als sie hierher gekommen war. Es störte sie, dass sie das Leid ihres tierischen Begleiters nicht erkannt hatte. Sie strich Haski sanft über den Rücken, so als wolle sie ihm damit um Verzeihung bitten. Dem Hengst gefielen die Liebkosungen. Er schnaubte zufrieden.
„Wenn ich Sie wäre, würde ich das Pferd noch eine Weile schonen. Sonst müssen Sie ihm den Gnadentod schenken. Schneller, als Ihnen lieb ist."
Bei dem Gedanken zog sich Avelines Herz zusammen. Sie blickte den Pferdemeister besorgt an. Selbstverständlich wollte sie nicht, dass sie Haski zu Tode ritt. Das würde sie nie wollen. Dieser Bursche bedeutete ihr viel zu viel, als dass sie leichtsinnig sein Leben aufs Spiel setzen würde. Sie strich mit ihren Händen unablässig über sein samtenes, schwarzes Fell. Es glänzte so schön in der Sonne.
„Das will ich auf keinen Fall...", sagte sie.
„Gut, weil er ist wirklich ein schöner Junge", meinte der Pferdemeister und warf Haski einen faszinierten Blick zu.
Der Mann schien von der Pracht dieses Tieres sehr begeistert.
„Können Sie ihm helfen?", fragte Aveline. „Damit er schnell wieder gesund wird?"
Der Mann nickte sogleich und trat näher an Haski heran. Dieser liess ihn gewähren, was für den sonst so misstrauischen Hengst doch sehr ungewöhnlich war.
„Das kann ich, selbstverständlich", antwortete der Pferdemeister.
„Ich habe jedoch keine Münzen, die ich Ihnen dafür geben könnte", meinte Aveline niedergeschlagen.
Alles, was sie bei sich trug, war der Beutel voll Gemüse und einen Rosenkranz. Das waren nicht gerade wertvolle Dinge.
„Das brauchen Sie nicht", sagte der Pferdemeister und schenkte ihr ein freundliches Lächeln. „Ich liebe Pferde und mir liegt sehr viel an ihrem Wohlergehen."
Sie erzwang sich ein höfliches Lächeln. Es war schwierig, die Muskeln in ihrem Gesicht so zu koordinieren, dass ein halbwegs natürliches Lächeln daraus resultierte. Es fühlte sich merkwürdig an, als hätte sie es verlernt, ihre Mundwinkel nach oben zu befördern.
„Ihr seid sehr grosszügig. Vielen Dank! Wie lange denkt ihr, wird es dauern, bis ich mit ihm weiterreisen kann?"
Der Pferdemeister schien eine Weile zu überlegen und strich mit seiner behaarten Hand über Haskis Rumpf. Auch das genoss der Hengst sichtlich. Er schloss seine Augen.
„Schauen Sie mal seine Rippen an, die stehen deutlich ab. Wenn der sich Masse angefressen hat, kann er wieder ausgeritten werden. Ich werde ihn für vierzehn Tage mit Hafer füttern. Das sollte ihm helfen, schnell zu Kräften zu kommen. Den abgelaufenen Huf muss ich ersetzen. Danach dauert es vielleicht höchstens nochmal vierzehn Tage, bis seine Lahmheit am Hinterbein ganz weg ist. Also... alles in allem würde ich einen ganzen Vollmond abwarten, wenn ich Sie wäre."
Aveline riss die Augen weit auf. Einen ganzen Monat! So viel Zeit konnte sie hier nicht verbringen! Wie überhaupt? Sie hatte keine Bleibe und einen solchen langen Aufenthalt konnte sie auch nicht Schwester Joscelin zumuten. Aber insbesondere konnte sie nicht so lange warten, um die Suche nach ihrem Bruder fortzusetzen. Sie war in Eile.
„Ein ganzer Vollmond! Verzeiht mir, aber das ist viel zu lange", sagte sie.
Der Pferdemeister atmete tief ein und stiess die Luft streng aus seinen Lungen.
„Früher würde ich es dem Tier aber wirklich nicht zumuten."
Aveline grübelte und zwirbelte dabei eine Strähne von Haskis Mähne in zwischen ihren Fingern. Sie war auf ihn angewiesen, denn mit ihren Füssen würde eine Reise quer durchs Frankenland zur reinsten Qual werden. Nur schon die Vorstellung des Gefühls der kiesigen und geschotterten Strassen auf ihren geschundenen Fusssohlen jagte ihr spitze Stiche durch die Zehen. Sie erschauderte. Auf Haskis Rücken ritt sie komfortabel und mit ihm war sie in den Nächten nicht so einsam. Sie wollte ihn nicht hier lassen, aber sie befürchtete, dass ihr keine Wahl blieb. Für ihre Freiheit sollte er nicht sein Leben lassen - auf gar keinen Fall.
Ein schwerer Seufzer entkam ihrer Brust, denn sie wusste, was zu tun war. Du musst durch die Hölle, um am Ende Herrlichkeit zu erlangen. Die Worte der Nonne rangen in ihren Ohren. Das Leid hatte mit dem Hunger und dem Abort noch nicht sein Ende genommen. Noch war es nicht Zeit für die Herrlichkeit. Noch musste sie Durchhaltewillen zeigen. Gott prüfte sie und sie wollte diese Prüfung bestehen. Widerwillig ergab sie sich seinem Willen, auch wenn er ihr noch immer so unbegreiflich war.
„Könnt ihr mir einen Gefallen tun?", fragte sie den Pferdemeister.
Er hob überrascht den Kopf.
„Einen Gefallen?"
„Ich kann nicht einen ganzen Vollmond warten. Ich muss leider weiterziehen. Dieser Hengst gehört nicht mir. Er gehört einer gewissen Salka Jarson. Sie lebt in Vestervig, im Territorium von —"
„Ragnar Sigurdson. Ich weiss", sagte der Pferdemeister sofort und deutete auf die kleine Narbe auf Haskis Hintern. „Ich habe das Brandzeichen gesehen. Das war der Grund, weshalb ich ihn nicht gleich notgeschlachtet habe. Einem Tier, das Ragnar Sigurdson gehört, kann ich sowas nicht antun."
Avelines fragenden Gesichtsausdruck liess ihn einmal kurz auflachen.
„Niemand legt sich hier mit Ragnar Sigurdson an! Das müssen Sie doch wissen.", lachte er und fügte dann an: „Sie können beruhigt sein. Ich werde mich um den Burschen kümmern und sobald er wieder auf den Beinen ist, werde ich persönlich dafür sorgen, dass er nach Hause gebracht wird."
Aveline war sprachlos. Selbst so weit weg von Vestervig flösste der Name Ragnar Sigurdson den Menschen grossen Respekt ein. Es schien absurd, dass sich hier niemand trauen würde, einem Tier, das Ragnar gehörte, jemals etwas antun zu wollen. Aber sie verstand es irgendwie, denn diesen schrecklichen Mann hatte sie selbst einst kennengelernt und sie war froh, dass sie ihm nie wieder in ihrem Leben begegnen würde.
„Ich weiss nicht, wie ich Ihnen dafür danken kann", sagte Aveline und wandte sich dem Pferdemeister zu.
Dieser winkte grinsend ab.
„Ach, was. Keine Ursache! Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal die Gelegenheit bekomme, einen nordjütländischen Hengst reiten zu dürfen. Sie sind für ihre Sturheit und ihr wildes, ruppiges Naturell bekannt."
„Er wird Sie nicht enttäuschen", sagte Aveline und klopfte Haski auf die Flanke. „Er ist in dieser Hinsicht ein Prachtexemplar."
Aveline strich mit ihrer Hand über seinen Hals. Haski schloss abermals die Augen mit den langen Wimpern und senkte seinen mächtigen Kopf zu ihr herab. Sie streichelte ihm über die starke Kiefermuskeln und flüsterte ihm liebkosende Worte auf Nordisch zu. Es war für sie nicht einfach, sich von dem guten Tier zu verabschieden. Er hatte auf sie aufgepasst und ohne ihn wäre sie nie in ihrem Leben so weit gekommen.
„Mein schwarzer Wirbelwind. Es tut mir leid, aber ich kann dich nicht mitnehmen. Hier trennen sich unsere Wege. Ich muss ins Frankenreich. Das ist mein Zuhause, aber deines ist es nicht."
Der Hengst schüttelte zufrieden seine Ohren und stupste sie mit seiner Schnute an.
„Lebe Wohl und hab Dank. Du warst mein treuster Beschützer. Ich werde dir das nie vergessen."
Sie drückte einen letzten Kuss auf seine Blesse und verschwand dann in der Menschenmenge, die sich aus der Stadt bewegte.
...
Aveline liess Hedeby hinter sich und schloss sich dem Strom an Reisenden an, die gen Süden marschierten. Der Weg zog in eine südöstliche Richtung und die Zahl der Menschen, die sich auf dem Ochsenweg tummelten, stieg an. Sie musste nicht mehr Weit von der Grenze zum Fränkischen Reich sein, denn sie vernahm immer öfter ihre eigene Muttersprache, welche die Menschen neben oder hinter ihr auf dem Weg sprachen.
Fest umklammerte sie den Umhängebeutel, der an ihrer Schulter hing. Die wenigen Tage der Rast bei ihrer Freundin hatten ihr trotz allem sehr geholfen und sie fühlte sich zuversichtlich, dass sie es in diesem Zustand schaffen würde, ihre Reise ohne grössere Zwischenfälle fortzusetzen.
Der Himmel war blau und die Sonne strahlte prachtvoll auf die karge Landschaft. Das schöne Wetter und die frische Luft hoben Avelines Gemüt. Die Freude stieg in ihr auf, dass sie in absehbarer Zeit endlich heimatlichen Boden unter den Füssen berühren würde. Selbst das Gehen tat ihr gut. Die Bewegung weckte ihre Lebensgeister und liess das Blut im Körper zirkulieren. Sie fühlte sich lebendiger.
In der Ferne sah sie, wie am Horizont ein Wall aus dem Boden stieg, immer höher, je mehr sie sich näherte. Die Mauer zog von Ost nach West durch das Land und Aveline konnte weder den Beginn noch das Ende erkennen.
War das tatsächlich die Grenze?
Sie wusste nichts von einer solch mächtigen Mauer. Etwas verunsichert blickte sie die Mitreisenden um sich an und erkannte einen älteren Mann in fränkischer Kleidung. Vielleicht wusste der, was das war.
„Verzeihen Sie, mein Herr", sagte sie auf Fränkisch in seine Richtung.
Der Mann drehte seinen Kopf verwundert zu ihr, ohne aber in seinem Schritt innezuhalten. Sie gingen nebeneinander.
„Gnädige Frau?", fragte er.
„Wissen Sie, was dieser Wall dort vorne ist? Ist das die Grenze zum Frankenreich?"
„Das Frankenreich?! Sind Sie in der Vergangenheit hängen geblieben?", spottete der Mann und ging schnell weiter.
Er schien nicht mit ihr sprechen zu wollen. Aveline blickte ihm perplex hinterher. Was meinte er damit? Das war doch die Grenze in ihre Heimat. Das musste es sein! Was sonst konnte das sein?
„Das ist das Dannewerk, mein Kind", sagte eine ältere Dame vor ihr, die auf einem Karren voller Stoffe sass.
Der Karren, auf welchem die Alte sass und von welchem sie ihre Beine baumeln liess, wurde von einem Esel gezogen. Ein grauhaariger Herr sass am vorderen Ende und gab dem Tier immer wieder Peitschenhiebe, damit es nicht stur am Wegesrand stehenblieb.
„Das Dannewerk?", fragte Aveline.
„Du bist wohl nicht von hier?", meinte die Frau.
Aveline schüttelte den Kopf.
„Das ist die Mauer, die von den Normannen gebaut wurde, damit sie sich vor uns Christen schützen können. Kannst du dir das vorstellen?! Die Wikinger haben Angst vor uns und lassen eine riesige Mauer errichten, damit sie auf der sicheren Seite ihre heidnischen Göttern anbeten können? Ist das nicht zum Lachen?!"
Die alte Frau kicherte vergnügt, während Aveline eine Augenbraue hochzog. Die Normannen versuchten sich zu schützen? Die Wikinger, die sie kennengelernt hatte, machten ihr nicht den Anschein, dass sie Schutz brauchten oder suchten. Die Vorstellung, Ragnar Sigurdson hätte Angst vor den Christen schien irgendwie absurd.
„Die Wikinger fürchten sich vor den Franken?", fragte sie.
„Vor uns und unserem Gott", nickte die Frau mit einem Lächeln auf den Lippen. „Diese Mauer besteht aus abertausenden von Steinen, die sie von Hand hierher gebracht haben müssen. Tausende Bäume haben sie gefällt. Stell dir das einmal vor! Dieses ach so mutige Volk versteckt sich lieber hinter einer Mauer, wie eine Schnecke in ihrem Schneckenhäuschen."
Die alte kicherte und hielt sich die Faust an die Lippen.
„Aber warum?", fragte Aveline.
„Ich vermute, weil sie sich vor einem Einfall fürchten", antwortete die Alte.
Der Karren nahm an Geschwindigkeit auf und verschwand in der Menschenmenge vor ihr. Aveline verstand nicht, was diese Frau gemeint hatte. Wovor in aller Welt sollten sich die Wikinger denn fürchten? Sie fürchteten sich ja nicht einmal vor dem Tod.
Der Weg wand sich um eine Kurve und dann erhob sich die mächtige Mauer direkt vor ihr. Sie stoppte vor Erstaunen und legte ihren Kopf in den Nacken. Vor ihr ragte ein vier Meter hoher und mindestens genauso dicker Wall aus Feldsteinen und Erde aus dem Boden. Dicke Baumstämme und Äste waren zur Verstärkung eingegraben worden. Auf dem Wall thronte eine robuste Holzpalisade, welche wie ein Rückgrat mitten auf dem Erdwall erbaut worden war und einen kühlenden Schatten auf den Weg warf, der sich nun entlang der Mauer schlängelte.
Das Dannewerk also.
Aveline war beim Anblick dieser massiven Mauer der Kiefer aufgeklappt. Die Wikinger mussten sich tatsächlich vor den Franken fürchten. Den Anschein erweckte dieser unglaublich grosse und robuste Wall. Unzählige Steine, Geröll und Bäume mussten in Südjütland dafür gesammelt worden sein, damit diese monumentale Mauer errichtet werden konnte. Ihr Blick wanderte von der einen Seite zur anderen. Beide Enden verschwanden am Horizont.
Sie fragte sich, ob der Wall das ganze Land von Ost nach West durchzog. So, wie sie die Wikinger einschätzte, waren diese Menschen zweifellos imstande, quer durchs ganze Land eine solche gewaltige Wand hochzuziehen.
Ihr Blick folgte dem kleinen Weg, der sich an die Nordseite der Mauer schmiegte. Wo wohl der Durchgang war?
„Entschuldigen Sie...?", bat Aveline einen weiteren Reisenden, der an ihr vorbeiging.
Der Mann mit einem grossen Jutesack auf dem Rücken blickte sie fragend an, sagte aber nichts.
„Gibt es hier einen Durchgang?", fragte sie zögerlich.
„Das Wiglesdor. Das Tor zum Süden", antwortete der Mann kurz angebunden.
„Wo ist das?"
„Einfach weiter dem Weg nach. Es ist das einzige Tor, das in den Süden führt."
Aveline blinzelte. Nur ein Tor? Diese gigantische Mauer hatte nur eine Tür, durch welche sich alle Reisenden hindurchzwängen mussten? Das war eigenartig und vor allem war es unpraktisch.
„Warum?", rief sie dem Mann schon fast hinterher, da er weitergegangen war.
„Die kontrollieren hier alle, die rein und raus wollen", antwortete dieser, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Aveline versteifte sich. Kontrollen?!
Sie hatte gehofft, dass sie ohne Weiteres die Grenze überschreiten konnte. Nun musste sie noch an Kontrollen vorbei? Mit einem mulmigen Gefühl setzte sie einen Schritt vor den anderen und nahm an Geschwindigkeit auf. Sie wollte diese Mauer schnellstmöglich überwinden und das Land der Normannen endlich hinter sich lassen.
Hinter dieser grossen Mauer lag ihre Heimat: Das Frankenreich. Es war zum Greifen nahe und sie wollte hier keine Wurzeln mehr schlagen.
...
„Wo ist dein Gatte?", dröhnte der Wächter mit blondem Bart.
„Ich reise ohne Mann", antwortete Aveline bestimmt, in der Hoffnung, dass die grimmige Wache vor ihr das Zittern in ihrer Stimme nicht hörte.
Instinktiv wanderten ihre Hände zu ihrem hohlen Unterleib, als wolle sie die Leere darin beschützen. Schnell liess sie ihre Arme jedoch wieder neben sich baumeln, als sie ihre eigene Bewegung bemerkte.
Man hatte sie bei einem Kontrollposten kurz vor dem Wiglesdor zur Seite gebeten, aus einem ihr noch unerklärlichen Grund, denn sie war nicht die einzige Frau, die alleine auf diesem Weg marschierte. Warum man also genau sie ausgewählt hatte, war ihr schleierhaft.
„So, so. Ohne Mann also", grummelte der Bärtige.
„Ja. Ohne Mann. Ich bin unverheiratet und könnte glücklicher nicht sein."
„Tatsache?", stiess er zweite, dicke Wächter interessiert aus.
Die zwei südjütländischen Wachen standen vor ihr und musterten sie argwöhnisch. Der eine hatte seine dicken Arme vor sich verschränkt, sein Schwert ruhte in seinem Gurt. Der andere kratzte sich am blonden Bart und taxierte Aveline skeptisch. Sie stand etwas ratlos vor den beiden. Keinesfalls wollte sie sich anmerken lassen, dass sie nervös war.
„Gibt es denn ein Problem?", fragte sie und liess zu, dass die Männer sie von oben bis unten musterten.
Sie spürte die Blicke auf ihrem Körper. Wie sie ihren Leib analysierten, mit den Augen über jede Stelle strichen und über ihre Rundungen schweiften. Rundungen, die kaum noch rund waren, so mager wie sie geworden war, aber rund genug, um diesen Männern den Speichel im Mund zusammenlaufen zu lassen. Die lüsternen Blicke waren ihr unangenehm, aber sie liess es über sich ergehen. Wenn ihr das den Weg aus dem Reich der Wikinger ermöglichte, dann konnte sie es aushalten. Sie biss die Zähne zusammen.
„Nein, nein. Nur Routinekontrolle", bekam sie als Antwort.
Der bärtige Wächter wandte seinen Blick von ihrem Gesicht ab und marschierte um sie herum. Der Dicke liess Aveline nicht aus den Augen, seine Hand ruhte weiterhin auf dem Schwertknauf.
„Was ist in deiner Tasche?", fragte die Wache hinter ihr und zeigte auf den ledernen Beutel, der an ihrer Flanke hing.
„Lebensmittel."
„Und woher kommst du?", schoss gleich die nächste Frage heraus.
„Aus Hedeby", antwortete Aveline bestimmt.
„Was hast du dort getan?"
„Ich war auf Besuch und will jetzt wieder nach Hause", behauptete sie und senkte den Blick, damit sie ihr die Lüge nicht von den Augen ablesen konnten.
„Du bist keine Nordjütländerin?", bohrte der blonde Wächter weiter und warf einen Blick auf ihre Kleidung, die offensichtlich Nordisch war.
Es schien sich deutlich um eine Befragung zu handeln. Aveline versuchte, standhaft zu wirken und sich nicht von den beiden stämmigen Männern einschüchtern zu lassen. Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bin Fränkin."
„Du trägst aber nordische Kleidung", meinte er.
Aveline spürte, wie sich ihr Körper verspannte und ihr Herz schneller zu schlagen begann. Daran hatte sie natürlich nicht gedacht. Die Wachen mussten sich wundern, warum sie so gekleidet im Frankenreich durch die Gegend wandern wollte.
„Ich mag den Stoff normannischer Kleidung", log sie.
Sie hoffte, dies würde als Antwort genügen. Der dicke Wächter stützte seine Fäuste in die fleischige Hüfte und legte seinen Kopf schief. Seine Augen formten sich zu Schlitzen. Er glaubte ihr nicht. Aveline witterte die Gefahr und fügte instinktiv an:
„Ich war vor Hedeby in Nordjütland, bei Ragnar Sigurdson persönlich."
Sie hoffte, dass nur schon bei der Erwähnung dieses Namens die Wächter von ihr ablassen würden. Wenn es beim Pferdemeister geklappt hatte, könnte es ja vielleicht auch bei diesen zwei fiesen Gestalten helfen. Der Dicke schüttelte seinen Kopf. Was der Bärtige hinter ihr tat, sah Aveline nicht.
„Warum sollten wir dir das glauben?", fragte der dickliche Wächter.
„Er hat meine Dienste gebraucht", antwortete sie.
Er lachte schallend.
„Dienste, die wir auch in Anspruch nehmen wollen?"
Aveline blinzelte nicht, während sie ihm in die Augen starrte. Diesem Pack würde sie es schon noch zeigen.
„Könnt ihr denn meine Dienste als Heilerin gebrauchen?", fragte sie und zog ihre Augenbraue in die Höhe.
Eine provokative Geste, die den breiteren dazu veranlasste, sein Grinsen in eine ernste Maske zu verwandeln. Er sah, dass sie nicht spasste. Er trat einen Schritt zurück, so als hätten ihre Worte ihn eingeschüchtert.
„Tut mir leid, aber wir können dich nicht durchlassen", sagte er dann trotzig.
Aveline starrte ihm entrüstet in die Augen.
„Und warum?! Ihr habt keinen Grund!"
Er zuckte mit den Schultern und wandte seinen Blick von ihr ab.
„Wir wollen es einfach nicht. Du bist mir zu frech", brummte er.
„Das könnt ihr doch nicht tun!", rief sie aus.
„Oh, doch. Wir können das", knurrte er und blickte ihr wieder ins Gesicht.
Die Sonne hinter ihm warf einen dunklen Schatten über sein fleischiges Gesicht, sodass Aveline kaum seine Augen erkennen konnte.
„Und was gibt euch das Recht dazu?", zischte sie.
„Wir haben diese Mauer gebaut und wir sind diejenigen, die entscheiden, wer hier durch kann und wer nicht", antwortete er platt.
„Ich muss hier durch!"
„Nein."
Er zuckte mit den Schultern, was Aveline sprachlos machte. Es konnte doch nicht wahr sein, dass dieser Mann einfach darüber bestimmen konnte, ob ihre Reise hier endete oder nicht! Sie sah nicht ein, warum sie sich das gefallen lassen musste. Sie verschränkte die Arme vor sich und überlegte fieberhaft.
Da kam der stämmig gebaute Wächter plötzlich auf sie zu und blieb vor ihr stehen. Er war mindestens zwei Köpfe grösser als sie und ihr Kopf reichte ihm gerade mal bis zu seiner Brust. Er streckte seine fleischige Hand aus und zupfte an einer ihrer kupferbraunen Locken. Seine Augen klebten an ihrem Gesicht, während er hämisch grinste. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen, aber funkelte ihn wütend an.
„Wenn es dir so wichtig ist, über diese Mauer zu kommen. Es gibt da tatsächlich etwas, das du für mich tun könntest —", begann er, aber da wurde er von seinem blonden Kollegen hinter Aveline unterbrochen.
Der hatte die ganze Zeit geschwiegen und meldete sich nun zu Wort.
„Orm. Nicht mit ihr", knurrte der Bärtige.
„Warum nicht?", entgegnete der Dicke.
„Nicht, wenn sie wirklich die Person ist, die sie behauptet zu sein."
„Aber warum denn?"
„Kennst du Ragnar nicht? Das ist ein Wahnsinniger! Wenn der erfährt, dass wir seine Heilerin... du willst nicht wissen, was er mit deinem Schwanz machen würde."
Der Dicke trat ein paar Schritte zurück, was Aveline wieder mehr Luft zum Atmen gab. Ihre Hände zitterten, aber sie versuchte es den beiden nicht zu zeigen. Der unangenehme Annäherungsversuch des Wächters hatte ihre Knie weich gemacht. Diese Normannen waren ihr wirklich nicht mehr geheuer. Sie wollte alles tun, um aus dieser Situation zu kommen und endlich über diese Mauer zu gelangen.
„Lass sie durch", brummte der Blonde.
„Was?! Warum?", rief der Dicke entrüstet.
„Wir wollen uns nicht mit Ragnar anlegen. Glaub mir. Das willst du nicht."
Der Runde wollte sogleich wieder protestieren, aber sein Kollege schüttelte nur den Kopf. Aveline starrte die beiden ungläubig an. Hatte ihr Ragnar Sigurdson in dem Moment wirklich gerade geholfen?
„Kann ich wirklich...?", fragte sie die bärtige Wache.
Dieser nickte und trat zur Seite.
„Du kannst gehen", sagte er.
Das liess sich Aveline nicht noch einmal sagen. Entschlossenen Schrittes marschierte sie auf das Tor zu und liess die zwei Wächter hinter sich. Unglaublich, welches Glück sie gerade gehabt hatte!
Nur noch wenige Schritte trennten sie von ihrer alten Heimat. Erleichtert atmete sie aus, als sie die Distanz zwischen sich und den Wachen grösser machte.
Eine sechs Meter breite Passage führte durch das gigantische Dannewerk am Wiglesdor. Die Türflügel der massiven Holzpforte standen weit geöffnet und offenbarten Aveline den Blick in ihre Heimat. Eine Vielzahl an Menschen zwängte sich in beide Richtungen durch den Durchgang.
Sie hinkte mit der Masse mit, die sich gen Süden bewegte und als sie auf der anderen Seite in den Himmel blickte und die Sonne ihr Gesicht wärmte, meinte sie, hoch oben in den Lüften einen Vogel zu erkennen, der seine Kreise über die riesige Menschenmasse unter sich zog. Sie blinzelte, um den Vogel besser zu erkennen, aber die Sonne blendete sie zu sehr.
Als sie wieder nach vorne blickte, realisierte sie plötzlich, dass sie es geschafft hatte. Ihre vernarbten Füsse berührten endlich heimatliche Erde!
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