15 - Ostermond
Rouen, Westfränkisches Reich
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„Lass die Gans los!"
„Nein!"
„Loki, lass die Gans runter."
„Ne-ein!"
Weisse Federn flogen in alle Richtungen, während Loki vergeblich versuchte, das Tier ruhig zu stellen.
„Gib sie dem Mädchen wieder zurück. Schau, sie weint schon."
„Soll sie doch greinen! Ich habe Lust auf Gänseleber heute Abend."
Das Mädchen kniete mit tränenerfüllten Augen vor dem Wikinger, ihre Hände zitternd vor sich gefaltet. Sie flehte ihn auf Fränkisch an, das Leben ihrer Gans zu verschonen.
„S'il vous plaît, ne faites pas de mal à mon oie!", schluchzte sie.
Sie war hübsch, musste er sich eingestehen. Ihre braunen Haare umrandeten ihr rundes Gesicht und ihre faszinierenden, dunkelbraunen Augen glänzten unschuldig hinter den Tränen. Loki fielen nebst ihrem entzückenden Gesicht auch die grosszügigen, weiblichen Rundungen auf. Ein richtiges Bauernmädchen eben, mit Fleisch an den Knochen, wo man noch was zu greifen hatte. Das waren Formen, die er mit seinen Händen nur allzu gerne hätte ertasten wollen, wäre es ihm nicht verboten worden. Er knurrte laut, um seinem Frust Luft zu verschaffen. Da donnerte derselbe Befehl auf ihn herab:
„Loki, ich sag es nur noch einmal! Lass die Gans und gib sie der Kleinen zurück."
„Mensch, Rurik! Du verdirbst mir auch jeden Spass!", jammerte Loki und liess das Federvieh auf den Boden fallen.
Mit flatternden Flügeln und empörtem Schnattern rannte die weisse Gans in die Arme des Bauernmädchens, das erleichtert das Tier umarmte.
„Merci, Monsieur! Je vous remercie beaucoup!", bedankte sie sich, glücklich darüber, dass die Lieblingsgans ihr nicht weggenommen worden war.
Sie lächelte Loki vorsichtig an.
„Wir sind hier nicht zum Spass. Wir müssen arbeiten", brummte Rurik.
Das hübsche Mädchen lief mit dem Tier in ihren Armen ins Haus und liess die Eingangstür laut hinter sich zuknallen. Loki blickte dem leckeren Vogel enttäuscht hinterher. Er verschränkte die Arme vor sich und seufzte.
So gerne hätte er die Gans am Abend verspeist. Sie waren endlich im Frankenreich gelandet und das war ihr erster Plünderungstag auf fränkischem Boden. Da wollte er doch zur Feier des Tages eine Gans braten und die Leber verköstigen. Tagelang hatten sie immer denselben Frass auf dem Schiff bekommen: Fische. Jetzt gelüstete es ihn wirklich nach Geflügel. Nach der knusprigen Haut, die entstand, wenn man das Fleisch über der Flamme kross anbriet und nach der fettigen Leber, die nur so auf der Zunge schmolz. Rurik hatte aber andere Sorgen, als sich um das Abendmahl zu kümmern.
Ganz generell war Rurik seit Anbruch des Tages in seltsamer Stimmung. Er hatte Loki, Rollo und eine Handvoll anderer Männer unter seinem Kommando den Hügel hinaufgejagt. Weg von der Stadt, hoch zu den Bauernhöfen. Er hatte sie angebrüllt, dass sie kein Haus in Trümmern legen sollten, keine Frau vergewaltigen durften und dass keiner getötet werden sollte, der sie nicht mit einer Waffe attackierte. Selbstverteidigung war in Ordnung, Morden aber nicht. Loki verstand die Welt nicht mehr.
Nach Ruriks langweiliger Motivationsrede vor dem Aufbruch hatte Loki eigentlich nicht mehr mit diesem Trupp mitkommen wollen, denn eigentlich wollte er doch Spass haben und sich austoben. Aber unter Ruriks Kommando durfte er nicht mal die Dächer der Häuser in Brand setzen! Es war das Mindeste, was er erwartet hatte. Er hätte das so gerne mit seinem neuen Schild ausprobieren wollen.
‚Wir holen uns die Beute ohne Gewalt' , waren Ruriks Worte gewesen.
Was für ein Schwachsinn! Sie waren doch Wikinger! Das Schlachten floss ihnen quasi durch die Adern. Es gehörte zu ihrer Aufgabe und ihrem Ruf, Angst und Schrecken auf der Welt zu verbreiten. Genau das machte sie ja so erfolgreich.
Aber nein. Rurik der Vernünftige hatte andere Ideen.
Loki bemerkte die Wesensveränderung seines Freundes erstmals auf dem Schiff, als sie am Horizont erste Landstriche des Frankenreiches erspäht hatten. Rurik hatte den Anschein gemacht, als ob er nicht dort ankommen wolle.
Seit er von den Toten aufgewacht war, war Rurik ein anderer Mensch. Schon immer war er kein Freund von Brutalität und gewaltsamen Raubzügen gewesen, das wusste Loki ganz genau, denn der geborene Jäger und Abenteurer fand es eigentlich spannender durch die Gassen fremder Städte zu springen und sich die Häuser und Menschen anzuschauen - auch eine Tatsache, die Loki nicht wirklich nachvollziehen konnte. Aber immerhin hatte Rurik vor einem Jahr noch Franken und Angelsachsen getötet.
Nun war ihm scheinbar aber die Lust daran völlig vergangen und das gefiel Loki überhaupt nicht. So würden sie beide garantiert nicht zusammen nach Walhalla reiten können. Loki blieb seinem Freund jedoch treu und wich ihm nicht von der Seite - auch wenn ihm das gehörig gegen den Strich ging, was Rurik da gerade abzog.
Nachdem sie den Hügel hinaufgehetzt waren, hatte Rurik seine Männer gebeten, an die Türen der Bauernhöfe zu klopfen - zu klopfen! Die zitternden Franken hatten ihnen sogar noch höflicherweise die Tür geöffnet und ihnen wie von Zauberhand die Beute in die Hände gelegt.
Kein Blut klebte an ihnen und Loki fühlte sich etwas unwohl dabei. So als sei das unnatürlich. Seine Kleidung war für einen Plünderungstag viel zu sauber und er stank nicht nach Tod. Was würde er bloss seinen Kriegerkumpels am Abend erzählen?!
Soeben hatte er eine Gans auf dem Hof gefunden und wollte sie mitgehen lassen, da hatte ihn Rurik jedoch aufgehalten. Die Gans hatte man ihm nicht gegeben, also solle er sie auch nicht nehmen. Was in aller Welt war bloss in seinen Freund gefahren?!
Als Dank für Lokis Gnade gegenüber dem Federvieh schenkte ihm das Mädchen ein verheultes Lächeln. Kein Schlachten, keine Todesschreie, keine Blutspritzer im Gesicht. Ein verdammtes Lächeln hatte er heute bekommen. Dafür hätte er nicht einmal quer über die Nordsee segeln müssen, nein, dafür hätte er getrost in der Versammlungshalle in Vestervig mit ein paar Äpfeln jonglieren können.
Dieser Tag konnte für Loki nicht mehr schlimmer werden.
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Rurik marschierte mit ernstem Blick über den Platz des Bauernhofes. Es schien, dass dies der letzte Hof dieser Stadt war, denn hinter der alten Scheune erstreckten sich nur noch weite Felder. Da gab es nichts mehr mitzunehmen.
Sein Plan war soweit gut aufgegangen: Weg aus dem Gemetzel mitten im Stadtzentrum, in die Richtung der wohlhabenden Bauernhöfe. Hier gab es einiges, was sie mitnehmen konnten. Beute, welche Ragnar Freude bereiten würde, denn bei einer solch grossen Armee, mit welcher der Jarl ins Frankenreich gezogen war, war es unumgänglich, dass die Krieger mit ausreichend Nahrungsmitteln versorgt werden mussten. Rurik hatte die Aufgabe gefasst, den Fokus nicht auf das Rauben von Wertsachen wie Gold, Silber und Perlen zu legen, sondern die Lebensmittelrationen für die 1200 Normannen aufzustocken.
Seine Idee, dass man einfach bei den Bauern auf den Höfen erscheinen solle und der reine Anblick der Wikingertruppe ihnen schon genug Angst einjagen würde, so dass sie, ohne sich zu wehren, ihre Habseligkeiten geben würden, war zu seinem eigenen Erstaunen ohne Zwischenfälle soweit gut aufgegangen. Nie hätte er gedacht, dass sie so viel Beute machen würden, ohne ein Leben lassen zu müssen. Keinen einzigen Franken hatten sie bisher getötet.
Während der Überfahrt in die Heimat von Aveline hatte sich Rurik unzählige Gedanken darüber gemacht, was er dort noch tun sollte, denn er wollte das alles nicht mehr. Er wollte nicht auf Plünderung gehen und war eigentlich bloss mitgekommen, weil ihn Ragnar dazu gezwungen hatte. Ihm war schmerzlich bewusst geworden, dass er sein Dasein nicht mehr als brandschatzender Wikinger fristen wollte.
Er hoffte, dass er in seiner Rolle als Hauptmann immerhin die Möglichkeit haben würde, die Dinge anders zu machen, zum Besseren zu wenden. Er wollte alles dafür tun, damit das irgendwie möglich war.
Deswegen hatte er kurz vor Landung seine Männer zusammengetrommelt und ihnen eingeredet, dass er eine neue Taktik ausprobieren wollte. Eine Taktik, die ihnen allen zuerst ungewöhnlich erscheinen würde, aber sich möglicherweise als effizienter und kraftsparender erweisen könnte.
Nachdem man ihm erstaunt aber interessiert zugehört hatte, waren sie beim ersten Hornstoss losgezogen. Bisher hatten sich alle Männer seiner Truppe daran gehalten - zu seiner eigenen Überraschung. Sie waren gehorsam und respektierten seinen Willen.
Die einzigen zwei Krieger, die bockten, waren Loki und Rollo. Loki aus dem einfachen Grund, dass er die Plünderungen als einziges Mittel sah, seine Energie und den Lebensfrust rauszulassen. Die Wochen auf See zusammengepfercht mit all den anderen Männern hatten ihn auf eine ganz unerträgliche Art hibbelig gemacht und die Raubzüge gaben ihm Anlass, sich auszutoben. Wegen Rurik musste er sich nun unglaublich zügeln.
Rollo hingegen wollte seine Manneskraft mit seinem Schwert unter Beweis stellen. Der schmächtige Bursche befürchtete, dass er sich nie wie ein richtiger Kerl fühlen würde, ohne mindestens einmal eine fränkische Seele ins Jenseits befördert zu haben. Es war für Rollo quasi Pflichtprogramm, um sich als richtigen Mann, als richtigen Skagener, bezeichnen zu können. Er wollte eine tolle Geschichte für seinen Vater und seine frisch vermählte Frau zu erzählen haben. Mit Ruriks Plan war die Erreichung dieses Ziel höchst unrealistisch.
Die restlichen Männer der Truppe machten keine Anstalten und so hatten sie relativ erfolgreich von den Bauernhöfen am Rande der Stadt einen gerechten Anteil erhalten.
Rurik blickte zufrieden auf den Haufen, der sich auf dem Hof zu türmen begann. Seine Männer brachten noch immer Säcke und Kisten herbei, die ihnen von den ängstlichen Bauern gereicht worden waren. Eine beeindruckende Menge Lebensmittel lag vor ihm. Er nickte stumm in sich hinein.
Ragnar Sigurdson würde zufrieden sein, selbst wenn sie nicht mit blindem Töten an diese Beute gekommen waren. Schlussendlich zählte für Ragnar nicht, wie sie Beute machten, sondern dass sie Beute gemacht hatten.
Rurik hielt sich die pulsierende Flanke. Seine Verletzung heilte gut, aber langsam. Die Wunde klaffte nicht mehr so gross und offen, wie zu Beginn der Reise. Die salzige Gischt auf dem Meer, der Bewegungsmangel auf dem Segelboot und die Wundpaste von Aveline hatten tatsächlich geholfen. Dennoch spürte er seine Verletzung bei jeder Bewegung seines Körpers. Eine ständige Erinnerung an das, was er war, was er getan hatte und was er verloren hatte.
Er biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf, denn er musste bei klarem Verstand bleiben. Ablenkende Gedanken konnten auf fremdem Boden fatal sein und noch wollte er dem Tod nicht in die Augen blicken. Nicht hier auf diesem Bauernhof. Den Tod wollte er sich für eine grosse Schlacht offen lassen, damit man ihm die Tore zu Walhalla öffnen würde.
Gedankenversunken beobachtete er, wie sich seine Männer allmählich wieder auf dem Platz versammelten. Er spürte die Blicke der ängstlichen Bauern, die sich in ihren Häusern verschanzt hatten.
„Nehmt den Karren, den uns der Bauer gegeben hat und beladet ihn mit allem, was ihr bekommen habt! Aber lasst einen Teil liegen. So viel brauchen wir nicht", befahl Rurik.
Die Krieger machten sich sofort daran, die Waren - Hühner, Ferkel, Jutesäcke voll Hafer, Gemüse, Weizenkorn und Eier - aufzuladen. Rurik löste die Zügel des Pferdes, welches an den Karren angemacht worden war. Das Pferd würden sie nicht brauchen und sowieso war es für den Bauern viel zu wertvoll. Das mussten sie ihm nicht nehmen.
Loki stand schmollend neben Rurik, die Arme vor sich verschränkt, seinen kupfernen Schild mitsamt Axt auf den Rücken gebunden. Ungebraucht und blitzblank. Argwöhnisch beobachtete er, wie die Beute von seinen Kumpanen auf den Karren gehievt wurde.
„Das war jetzt aber der langweiligste Beginn einer Plünderung, Rurik. Ganz ehrlich. Was ist los mit dir?", sagte er.
Rurik schnaufte laut durch die Nase. Er wusste, dass sein Freund ihn darauf ansprechen und ihm sein fehlendes Verständnis mitteilen würde.
„Ich wollte eine neue Taktik ausprobieren", antwortete er ihm.
„Neue Taktik. Von wegen! Du fragst die Franken um Erlaubnis und lässt einen Teil der Beute liegen. Das hat nichts mit Taktik zu tun, das ist einfach nur lahmarschig!"
„Ich habe keine Lust mehr aufs Schlachten. So einfach ist das. Warum sollen wir unschuldige Menschen töten, wenn sie uns ihre Sachen auch einfach so geben?", gab er ihm als Antwort zurück.
„Weil es Spass macht, ihre Angst in den Augen zu sehen", zuckte Loki mit den Schultern.
„Die Angst haben sie auch so. Du hast ja gesehen, wie sie uns freiwillig ihr Hab und Gut gegeben haben. Wir müssen sie dafür nicht töten."
„Ich bin da anderer Meinung."
„Das hast du mehr als deutlich gemacht. Wenn es dich so stört, dann geh doch mit Thorsten mit. Kjetill ist auch mit dabei, wie ich gehört habe. Dem war Ragnars Friedensplan fürs angelsächsische Reich doch zu gewaltlos. Mit ihm wirst du sicher mehr "Freude" haben und ein paar Franken schlachten können. Der wird dir heute Nacht wieder erzählen können, wie viele junge Mädchen er geschändet hat", murrte Rurik.
„Nein. Kjetill ist selbst mir zu brutal", meinte Loki und liess einen langen Seufzer von der Brust. „Aber du bist mir zu verweichlicht."
„Gewöhn dich besser daran. Unter meinem Kommando werden wir die Dinge so machen, wie ich es will. Soweit hat es gut funktioniert und ich habe nicht vor, meine Taktik zu ändern."
„Spielverderber!"
„Zwerg!"
Loki grinste künstlich, aber sein Blick blieb finster. Rurik war der Meinung, dass sein Freund alt genug war, um seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Er würde ihn nicht dazu zwingen, in seiner Truppe zu bleiben. Wenn er gehen wollte, dann konnte er das. Aber im Grunde genommen hatte sich Loki schon für die bessere Seite entschieden, wahrscheinlich ganz unbewusst. Irgendwo in seinem verrückten Freund steckte also doch ein kleines Stückchen Vernunft - selbst wenn es noch so klein war.
Nachdem sie den Karren mit genügend Beute gefüllt hatten, machten sich die Männer des Jarson Trupps wieder auf den Rückweg durch die Gassen der Stadt. Sie hatten in dem Ansturm eine beträchtliche Distanz hinter sich gebracht, die es jetzt wieder zurückzulegen galt. Sie mussten schleunigst zu ihren Schiffen zurück, bevor die Franken ein Heer zur Verteidigung aufbieten konnten.
Die Bauern blickten ihnen ungläubig hinterher, als die Wikinger verschwanden, ohne etwas kaputt geschlagen zu haben. Sie konnten es kaum glauben, dass sie den Normannen so nahe gekommen waren und immer noch Luft durch ihre Lungen floss.
...
Rouen, die fränkische Stadt an der Seine, wurde von den Truppen Ragnar Sigurdsons buchstäblich in Grund und Boden gestampft. Die Krieger Ragnars hatten sich in kleinere Truppen aufgeteilt, um jede Ecke und jede Strasse abdecken zu können. Die meisten dieser wildgewordenen Kerle gingen nicht so zimperlich mit den Franken um, wie Ruriks Einheit es getan hatte. Sie wüteten mit Schwert, Feuer und Raub und brachten Tod oder Gefangenschaft über die Stadt und deren Volk.
Züngelnde Flammen frassen sich durch Holz und Stein und Rauchschwaden stiegen dem Himmel empor. Tote lagen auf den Strassen während die Überlebenden um ihre Familien trauerten.
So schnell, wie die Ungeheuer gelandet waren, stiessen sie die Boote wieder vom Ufer ab und fuhren in atemberaubender Geschwindigkeit immer weiter flussaufwärts, immer tiefer ins Land hinein. Ohne es zu ahnen, kamen sie mit jedem Tag der Hauptstadt des westfränkischen Reiches immer näher: Paris.
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