12 - Lenzmond
Vestervig, Nordjütland
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Am Hafen von Vestervig lagen unzählige Schiffe vor Anker. Die grosse Kriegsflotte Ragnar Sigurdsons war bereit für den Aufbruch ins Frankenreich. Die Sonne schien prächtig auf die im Wind schaukelnden Langschiffe. An den Stegen tummelten sich die Bewohner, um ihre Geliebten, Väter, Brüder und Söhne in die grosse Schlacht und ins Ungewisse zu verabschieden.
Es war eng auf den schmalen Stegen und die Diener, welche den Kriegern dabei behilflich sein mussten, Esswaren, Waffen, Schilde und Kisten auf die Boote zu laden, konnten sich nur mit allergrösste Mühe durch das Gewühl zwängen. Luca gehörte zu den Sklaven Ragnar Sigurdsons, die an diesem Vormittag beim Beladen der Flotte behilflich waren. Er trug fünf hölzerne Rundschilde vor sich und kämpfte mit deren Gewicht.
Auf halbem Weg legte er die Schilde für eine kurze Rast auf den Boden und wischte sich die hellbraunen Strähnen von der Stirn. Seine Haare waren beträchtlich gewachsen, reichten ihm schon bis zum Nacken und störten ihn bei der täglichen Arbeit. Den Bart kürzte er sich mit Hilfe des einzigen kleinen Messers, das die Sklaven Ragnars bei sich in der Sklavenkammer aufbewahren durften - ein stumpfes Ding, mit welchem man die dicken Barthaare nur mit allergrösste Mühe stutzen konnte. Für einen halbwegs guten Haarschnitt reichte das Messer aber nicht aus.
Ragnar hatte eine seiner Huren zu den Sklaven geschickt, um ihnen die ungekämmten Haare aus den Gesichtern zu flechten. Er wollte ja nicht, dass seine Diener wie schäbige Ratten aussahen. Luca hatte noch nicht die Ehre gehabt, von der schwarzhaarigen, dicklichen Hure die Haare schön gemacht zu bekommen und glich deshalb noch einem verschlissenen Besen.
Er rieb sich an der schmerzenden Schulter und blickte über das Getümmel. Ein wildes Durcheinander von farbigen Gewändern, Tuniken und Kaftanen wimmelte vor ihm. Es war laut am Hafen. Ein chaotisches Menschentreiben und die Luft gefüllt von schallenden Gelächter, freundlichen Gesprächen und traurigen Abschiedsworten. Luca schüttelte den Kopf, als er die freudige Gesichter sah und die aufbauenden Worte der Männer hörte, wie sie ihren Frauen versprachen, ruhmvoll und siegreich zurückzukehren und wie sie im Namen Odins möglichst viele Franken in den Tod reissen würden.
‚Barbarenvolk!', dachte sich Luca und packte die schweren Schilde wieder mit beiden Händen.
So sehr er diese Menschen auch verabscheute, er beneidete sie in dem Moment fast mehr. Sie brachen zu einer Reise auf, auf die er sich eigentlich auch begeben wollte: Eine Reise in seine Heimat, das Frankenreich.
Seit dem plötzlichen Verschwinden seiner einzig Verbündeten in diesem gottverlassenen Ort, ging es ihm miserabel. Die Furcht plagte ihn, dass Aveline etwas Schreckliches passiert sein könnte. Das letzte Mal hatte er sie am Julabend gesehen und da hatte er ihr ins schlechte Gewissen geredet. Das war nicht wirklich freundlich gewesen, das wusste er.
Was für ein Tölpel er doch gewesen war! Ihre traurigen Augen stiegen in seinen Erinnerungen wieder hoch, wie sie ihn entgeistert angeblickt hatte, auf seine Worte hin, dass sie doch froh darüber sein solle, für das, was man ihr hier gegeben habe. Dabei hatte sie, genau wie er, wegen diesen Normannen ihr altes Leben, ihre Familie verloren. Und er hatte ihr gesagt, sie solle doch dankbar dafür sein. Was für ein Trottel!
„So vergrault man sich seine Freunde", grummelte Luca in sich hinein.
Er sorgte sich sehr um seine Freundin. Obwohl er die Umstände ihres Verschwindens nicht genau kannte, plagte ihn ein ungutes Gefühl, dass etwas schief gegangen sein musste. Dieser Rurik, bei dem sie gelebt hatte, war brutal niedergestochen worden. Seither fehlte von ihr jede Spur. Da war irgendwas faul an der Sache und Luca befürchtete, dass Aveline Schlimmes zugestossen war.
Er biss sich auf die Zähne und wandte all seine Kraft auf, um die fünf schweren Schilde über die Reling des Schiffes zu befördern, auf welches er sie hatte bringen müssen. Er stieg gerade in den Schiffsrumpf, als Ragnar Sigurdson hinter ihm stehen blieb. Sein Schatten legte sich über Lucas schmalen Körper.
„Sklave!", donnerte der Jarl.
Luca zuckte bei der Bestimmtheit dieser Stimme auf und liess die Schilde geräuschvoll auf den Schiffsboden krachen. Sie fielen unordentlich übereinander.
„Mein Jarl... entschuldigt! Ich habe Euch nicht gesehen", stotterte er auf Nordisch und wollte sogleich die Schilde säuberlich aneinanderreihen.
„Komm mal her", meinte Ragnar gleichgültig über das Chaos und winkte ihn ungeduldig zu sich auf den engen Steg.
Luca folgte ihm aufs Wort und kletterte über die Reling zurück auf die Anlegestelle.
„Du kommst doch von dort, nicht wahr?", fragte ihn der Jarl.
Die blaugrünen Augen fixierten den Sklaven argwöhnisch. Luca hatte grosse Ehrfurcht vor diesem Menschen und blinzelte verwirrt.
„Von... wo? Was meint Ihr, mein Jarl? Ich verstehe nicht."
„Na, das Frankenreich, du Pflaume! Da haben wir dich doch hergeholt!"
Luca nickte, als er verstand.
„Ach so. Ja, mein Jarl. Ich komme aus dem Frankenreich."
„Dann wird es Zeit für dich, dass du in deine Heimat zurückkehrst. Du kommst mit", sagte Ragnar und drehte sich um.
Während der Jarl über den Steg zurück zur Versammlungshalle stapfte, brummte er dem verdutzt reinblickenden Sklaven hinterher:
„Wir brauchen nämlich jemanden, der diese scheussliche Sprache sprechen kann."
Luca japste nach Luft.
Hatte er da gerade richtig gehört? Er solle mit diesen Kriegern mitgehen? In seine Heimat zurück?! Sein Herz stand für eine Sekunde still, sein ganzer Körper war erstarrt. Und als hätte es plötzlich in seinem Kopf geklickt, strauchelte er dem Jarl hinterher.
„Jarl Ragnar! Wartet! Wie meint Ihr das?", rief er und rannte über den vollen Steg, dabei rempelte er fast den verletzten Rurik und seinen blonden Freund an.
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Loki tänzelte um Rurik herum, als wäre er eine lästige Schmeissfliege und summte sein Lieblingslied vor sich her. Seine goldenen Locken flogen regelrecht in alle Richtungen. Sein verwunderter Freund ging vor ihm auf dem Steg bis zu dem hintersten Schiff. Das grösste aller Schiffe - Ragnars Prunkschiff.
Das Langschiff wiegte sich in den sanften Wogen vor und zurück, das Holz knarzte leise. Die Rundschilde waren bereits an der Reling nach aussen hin befestigt worden und leuchteten Blutrot im Sonnenlicht. Das riesige Rahsegel war noch nicht gehisst worden. Am spitzen Ende des Vordersteven prangte ein enormer Drachenkopf, der - so sah es aus - Feuer spuckte und die Zähne fletschte.
Loki blickte stolz auf den schönen Rundschild, welcher Rurik an seinem Rücken trug. Das war der Schild, den er seinem Freund selbst geschmückt hatte und Loki war heilfroh, dass Rurik von den Göttern nochmals die Gelegenheit gegeben worden war, mit diesem Schild in ruhmreiche Schlachten zu ziehen.
Loki selbst hielt seinen Schild mit den Armschlingen am Unterarm, in der anderen Hand seine Axt, die er am Morgen noch lange vom Schmied hatte schleifen lassen. Die Klinge sollte scharfkantig sein, damit das Töten leichter von der Hand ging. Wie immer trug Loki seine dunkle Hose und seine feuerrote Tunika. Darüber hatte er sich eine braune Rüstung mit Kupferösen gelegt. Die Flamme des Todes, wie er sich selbst gerne nannte, flackerte schon aufgeregt.
Rurik trug im Gegensatz zu seinem farbenfrohen Kameraden dunkle Kleidung. Seine schwarze Hose waren in braune Lederstiefel gestopft und mit Bändern enger an seine Beine geschnürt worden. So konnte Rurik der Schnelle flinker durchs Schlachtfeld oder die engen Gassen sprinten. Eine flatternde Hose würde ihn nur verlangsamen.
An seinem Oberkörper trug er eine dunkelbraune Tunika, darüber eine zähe Lederrüstung mit kleinen eingenähten Eisenringen. Von seinen Handgelenken bis zu den Ellbogen reichten zwei schwarze Armriemen. Salka hatte darauf bestanden, dass er die Lederrüstung trage, denn sie half ihm, aufrecht zu stehen und drückte ihm seine Wunde zu. Ausserdem wollte sie sicherstellen, dass ihr Bruder heil nach Hause finden würde. Sie hoffte, dass nebst dem Schutz der Götter, die Rüstung das Leben ihres Bruders bewahren würde.
Loki sprang jauchzend auf das prunkvolle Schiff und suchte einen freien Platz, an welchem er seinen Schild und den von Rurik an der Reling befestigen konnte. Er war in heller Aufregung, denn endlich - nach der ganzen Warterei und dem riesigen Drama kurz vor Abreise - waren sie nun wieder bereit, um sich in die Wogen der Schlacht zu stürzen.
Loki grinste in Ruriks Richtung.
„Reich mir mal deinen prächtigen Schild, mein Hauptmann!", rief er.
Rurik hob sich ächzend den Rundschild über den Kopf und reichte ihn seinem Freund. Mit gekonnten Griffen hatte Loki die zwei besonders geschmückten Schilde an der Reling befestigt. Die Kupferplatten und Walrosszähne blickten ins offene Meer hinaus.
„Das ist ein gutes Plätzchen für die zwei schönsten Schilde, die die lausigen Franken jemals zu Gesicht bekommen werden", kicherte Loki vergnügt.
Rurik schien mässig begeistert und wollte sich gerade ins Bordinnere hieven, da hielt ihn seine Schwester auf. Während die zwei sprachen, hüpfte Loki auf den Rand der Reling und balancierte mit den Armen weit ausgestreckt über den schmalen Balken. Ein Fehltritt und er würde im Wasser landen.
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„Rurik, bitte warte!", rief Salka.
Rurik mochte keine Abschiede. Er wäre lieber einfach gegangen, ohne jemandem ein nettes Wort zu sagen. Die Sentimentalität seiner Schwester machte ihm sehr zu schaffen, denn er wusste, dass sie sich unglaublich grosse Sorgen machte. Das hatte sie im letzten Jahr schon, als er das erste Mal ins Frankenreich aufgebrochen war. Damals hatte Salka schon zu schluchzen begonnen, weil sie befürchtete, ihren Bruder nie wieder in die Arme schliessen zu können.
Jetzt aber war sie noch besorgter als je zuvor. Das lag allein an seiner pulsierenden Wunde am Oberkörper, die in den wenigen Tagen, die ihm Ragnar die Ruhe gegönnt hatte, selbstverständlich nicht verheilt war. Rurik war zwar wieder zu Kräften gekommen und das Fieber hatte sich deutlich gesenkt, aber die Verletzung nässte ihm noch immer die Kleidung voll.
„Bitte nimm das hier mit", meinte Salka und reichte ihm einen kleinen Jutesack.
„Was ist das?", fragte Rurik und nahm den Sack mit beiden Händen entgegen.
„Ein paar Säckchen mit Avelines Heilkräutern. Die Wundpaste ist da auch drin. Bitte nimm es mit."
„Nein, Salka. Mein Leben liegt in den Händen der Götter, nicht in ihren", sagte Rurik platt und streckte seiner Schwester den Beutel wieder hin.
Er wollte das nicht. Er wollte sein Leben nicht unnötig verlängern. Es war schon peinigend genug, sich mit dieser Wunde durch den Tag zu kämpfen. Ihm war mehr als bewusst, dass er mit dieser Verletzung auf dem Schlachtfeld leichte Beute war. Nebst seinen geminderten Überlebenschancen hatte Rurik auch keinen grossen Lebenswillen mehr. Er wusste, dass diese Reise seine Letzte sein würde, aber natürlich wollte er das seiner Schwester nicht sagen. Zu gross wäre ihr Leiden, wenn er ihr das gestand.
„Bitte! Tu es für mich", flehte Salka und stiess seine Hand mit dem Beutel zurück.
„Salka..."
„Tu, was deine Schwester dir sagt, du Trottel", brummte Hjalmar hinter ihr.
Rurik gab seufzend auf. Er wollte kurz vor Aufbruch keinen Streit mit seiner Familie anzetteln, denn sie sollten ihn nicht streitsüchtig in Erinnerung behalten.
„Wie du wünschst", murmelte er und warf den Beutel unsanft in den Schiffsrumpf.
Hjalmar drückte sich an seiner Frau vorbei und klopfte Rurik freundschaftlich auf die Schulter.
„Ich hasse lange Verabschiedungen, darum halte ich mich kurz. Rurik, mein Schwager, mein Bruder! Mut muss ich dir keinen wünschen, davon hast du schon reichlich genug. Aber ich wünsche dir eine sichere Reise. Und dass du heil wieder zurückkehrst."
Bei den Worten blickte der stämmige Jütländer seinem Schwager tief in die Augen. Wortlos tauschten sie sich vielsagende Blicke aus. Hjalmar war sich mehr als bewusst, dass dies der letzte Augenblick für ihn sein würde, in welchem er seinen Schwager in den Armen hielt, aber er wollte dies nicht vor Salka zeigen. Rurik spielte das Schauspiel mit.
„Danke, Hjalmar. Pass du gut auf meine Schwester in der Zwischenzeit auf, ja? Aber bitte... stosse ihr nicht noch ein zweites Kind in den Bauch. Jetzt, wo ihr das Haus für euch habt. Sveín ist schon anstrengend genug", sagte Rurik mit einem künstlichen Schmunzeln auf den Lippen.
„Uh, das kann ich dir leider nicht versprechen", zwinkerte Hjalmar zurück und ging - er war auch kein Freund von ewigen Abschiedsritualen, besonders nicht, wenn es Abschiede waren, die für immer waren.
Salka schüttelte lächelnd den Kopf und blickte ihrem Mann hinterher, der sich über den Kai zurück ans Land drückte. Als sie ihren Blick auf ihren Bruder richtete, wurde sie jedoch wieder ernst.
„Ich liebe dich, mein Bruder. Ich hoffe, das weisst du."
„Das tue ich, Schwester. Ich liebe dich auch", sagte er und drückte sie.
„Bitte achte auf dich. Ich kann dich nicht nochmal verlieren. Mein Herz würde das nicht ertragen", murmelte sie in seine Schulter.
Rurik nickte und tätschelte ihr fürsorglich mit der Hand auf den Rücken.
„Mach dir keine Sorgen, Schwester. Mir wird schon nichts passieren."
Sie drückte sich sanft von ihm und schaute ihm eindringlich in die Augen.
„Verspreche mir, dass du zurückkommen wirst."
Rurik schluckte leer. Er wollte nichts versprechen. Es wäre falsch, ihr ein Versprechen zu geben, das er niemals halten könnte.
„Salka..."
„Na gut, wenn du es mir nicht versprechen willst, dann musst du mindestens etwas noch für mich tun. Meine letzte Bitte an dich."
„Was denn noch?", fragte er seufzend.
„Nimm das —", sagte sie und drückte ihm Avelines Sigurdson-Ring in die Hand.
Rurik blickte sie entrüstet an.
„Salka. Das kann ich nicht! Den habe ich nicht verdient!"
„Bruder. Hör mir zu. Was auch immer zwischen dir und Aveline vorgefallen ist, das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich weiss, dass sie nie wollen würde, dass dir etwas zustösst. Auch wenn sie es war, die dir das... angetan hat. Sie hatte ihre Gründe. Aber ich weiss tief in meinem Herzen, dass die Aveline, die ich kannte, dich geliebt hat, Rurik", sagte Salka und griff ihn an die Schulter.
Er blickte zu Boden. Das glaubte er nicht - nicht mehr. Alles, was Aveline für ihn spürte, war Hass und Abscheu.
„Das weiss ich ganz genau, Rurik. Ich kenne euch beide nur zu gut. Und ich weiss, dass du sie genauso geliebt hast. Du solltest deine Schwester nicht unterschätzen, mein kleiner Bruder. Ich hab gespürt, dass sie dieses Mädchen war, dessen Herz du so gerne erobern wolltest und ich bin mir sicher, dass du das auch geschafft hast. Bitte nimm diesen Ring zu deinem eigenen Schutz. Avelines Heilkraft hat dich wieder hierher geholt, bitte lass zu, dass sie dich jetzt auch auf deiner Reise begleitet und ihr Geist dir Geborgenheit und Schutz schenkt."
Eine kleine Träne lief ihr über die Wangen und blieb an ihrer Oberlippe hängen. Rurik knirschte mit den Zähnen und schloss seine Finger um den silbernen Ring in seiner Handfläche.
„Wenn das dein Wunsch ist", murrte er.
„Ja, das ist es. Du solltest öfters auf deine grosse Schwester hören", sagte sie traurig.
„Vielleicht", murmelte Rurik und dann drückte er seine Schwester ein letztes Mal. „Habe Dank, Salka. Für alles, was du für mich getan hast. Ohne dich wäre ich nicht zu dem Mann geworden, der ich jetzt bin."
Sie erwiderte seine Umarmung mit einem vorsichtigen Drücken, denn sie wollte ihm nicht auf seine Wunde pressen.
„Das ist doch gern geschehen, kleiner Bruder", sagte sie und liess von der Umarmung ab.
„Wir sehen uns", sagte Rurik und stieg ins Schiffsinnere.
„Wir sehen uns", sagte Salka und drehte sich um.
Mit schnellen Schritten war sie in der Menge verschwunden, während sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischte.
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Inga kniff die Augen zusammen. Sie hatte soeben Salka an ihr vorbeigehen sehen und vermutete, dass Rurik irgendwo in der Nähe stecken musste. Sie wollte doch ihrem zukünftigen Ehemann und dem Vater ihres Kindes liebe Abschiedsworte ins Ohr säuseln.
Sie hob ihre Handfläche an die Stirn, damit sie von der Sonne geblendet besser über die Menschenmenge blicken konnte. Da erspähte sie ihn im Langschiff von Ragnar und sputete los. Mit energischen Schritten schubste sie empört dreinblickende Leute aus dem Weg.
„Rurik, mein Spatz", trällerte sie, als sie am Steg ankam, an welchem das grosse Schiff lag.
Rurik drehte sich langsam zu ihr um. Ihr Atem stockte, denn er sah in seiner Kriegerkleidung umwerfend aus. Seine Haare waren leicht nach hinten gebunden, aber ein Teil der Strähnen hingen ihm in den Nacken. Die braune Rüstung stand ihm gut und betonte seine starken Oberarme und seinen muskulösen Körper. Er hatte zwar durch die vielen Tage auf dem Krankenbett etwas an Gewicht verloren, aber das nagte nicht an seiner Attraktivität.
Sie seufzte vor Entzücken, dass dies bald ihr Gatte sein werde, nämlich dann, wenn er von seinem ruhmreichen Abenteuer zurückkehren würde.
„Was willst du?", brummte er.
„Mich von meinem Zukünftigen verabschieden und dir mein Glücksband um den Arm binden."
„Inga."
„Was denn? Komm doch näher, so kann ich dir das nicht geben. Oder muss ich mit meinem Bäuchlein ins gefährliche Schiffsinnere klettern?", sagte sie empört und hielt eine Hand an den Bauch, der allmählich erkennbar war.
Rurik schüttelte den Kopf und kam ihr entgegen.
„Nein, natürlich nicht", grummelte er.
Als er vor ihr stand, betrachtete sie sein schönes Gesicht. Seine hellblauen Augen waren von einem düsteren Schatten überzogen. Sein stoppeliger Bart liess ihn verrucht und wild wirken. Ihr jagte eine Gänsehaut über den Rücken, nur beim Gedanken, dass sie dieses Bild von einem Mann bald heiraten durfte.
„Ach, du sollst nicht traurig sein, mein Liebster. Bald sind wir wieder vereint und können uns unserer Familie widmen", sagte sie und nahm seine Hand und führte sie an ihren Bauch.
„Nicht mehr lange und ich werde die süssen Tritte spüren."
Ruriks Arm verkrampfte sich und er zog ihn zu sich zurück. Er blieb stumm, aber davon liess sich Inga nicht beirren. Sie wusste, dass Rurik manchmal ein störrischer Mann war, der zu seinem Glück gezwungen werden musste.
Sie holte ihr gelbes Glücksband hervor und band es an seinen Oberarm. Er liess sie wortlos gewähren. Zufrieden betrachtete sie, wie ihr Band an seinem Arm hing und stand dann auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu drücken.
Rurik zog seinen Kopf zurück, aber Inga packte ihn am Nacken, so dass er ihr nicht entkommen konnte und presste ihre Lippen auf seine. Wie sehr sie seine Nähe doch vermisst hatte. Er war eigentlich ein leidenschaftlicher Mann und wäre - wenn er jetzt nicht gerade auf Raubzug loszog - normalerweise kaum noch zu bremsen. Ein wahrer Liebeskünstler, aber heute schien er andere Dinge im Kopf zu haben. Inga genoss den Kuss trotzdem und steckte ihre Zunge in seinen Mund. Da stiess er sie aber von sich.
„Das reicht für einen Abschied, Inga."
„Na gut. Ich werde dich sehr vermissen, Rurik und freue mich schon, wenn wir bald das Bett teilen können! Die Götter werde ich darum bitten, dein Leben zu verschonen. Ich liebe dich!"
Rurik drehte sich um und sprach mit seinem blonden Freund, der auf der Reling hin und her balancierte.
Etwas genervt von seiner Reaktion und dem ausbleibenden ‚Ich liebe dich auch, Inga' ging sie zurück. Wenn er jetzt ihr gegenüber noch keine Zuneigung zeigen konnte, dann würde er das spätestens dann tun, wenn er mit ihr leben musste und sie vermählt waren. Siegessicher stolzierte sie zurück nach Hause.
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Ragnar stieg in sein Schiff und begrüsste seine Mannschaft. Er war ebenfalls in voller Kampfmontur gekleidet. Seine Rumpfrüstung bestand aus einer Vielzahl u-förmiger Bronzeplatten, die in der Sonne schimmerten. Er trug Lederhosen und schwarze Stiefel. Sein rotblonder Bart war mit grünen Steinen und Perlen geflochten worden und die Haare, wie immer, nach hinten gekämmt. Ein breites Grinsen schmückte sein Gesicht, seine wulstige Narbe trat deutlich hervor.
Ein Horn blies zum Aufbruch und urplötzlich stiessen die Männer ihre Ruder ins Wasser. Während sich die riesige Flotte in Bewegung setzte und in die Nissum Bucht glitt, wurden nacheinander die feuerroten Segel gehisst. Immer zahlreicher prangte das Wappen mit den drei schwarzen Kreisen in der Sonne, bis die ganze Bucht mit roten Rahsegeln gefüllt war. In einer sagenhaften Geschwindigkeit glitten sie über die Wellen und bahnten sich ihren Weg durch den Thyborøn Kanal in die offene Nordsee.
Der Wind und die Gischt peitschten den Männern entgegen, aber das vermochte nicht ihre Stimmung zu senken. Im Gegenteil, die Krieger erwachten erst jetzt so richtig aus ihrem Dämmerzustand. Die Abschiedstrauer verwandelte sich in Windeseile in eine brodelnde Vorfreude auf die grossen Schlachten und das aufregende Abenteuer, das vor ihnen lag.
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