Kapitel 66
Bei Fremden
Ge. 03- Kapitel 66
»Verstehe ich das richtig?«, fragte ich.
Meine Mutter nickte einfach. »Lass uns gehen, einen Neuanfang starten, glücklich sein.«
Ich senkte meinen Blick. War es wirklich das, was ich wollte? War es das, was ich mir gewünscht hatte?
»Maus, versprochen, alles wird gut. Du musst nur deinen Koffer holen und mitkommen. Es ist diese einmalige Chance«, erklärte sie. »Sei in fünf Minuten fertig.«
Ich wusste nicht wie oder wieso, aber ich rannte wieder die Treppen hoch in mein Zimmer. Ohne einen Gedanken darüber zu verschwenden, knallte ich meine Schrank auf und schnappte mir meinen Notfallkoffer. Alle Erinnerungen mit dem Koffer erschienen wieder vor meinen Augen. All die alten Zeiten, alles war so anders. Ich war freier. Gab es Regeln? Kummer? Ich war das beliebte Mädchen, hatte einen Freund und eine beste Freundin. Ich schloss die Augen und ließ das Glück der alten Zeiten durch mich wandern. Danach schnappte ich mir schon einige von meinen Klamotten und schmiss es wahllos in den Koffer.
Mir kam wieder der Tag in Erinnerung, an dem ich klitschnass hierher gekommen war, an die Zeit, wo ich Nils und Bengü vergeblich versucht hatte zu erreichen. Es würde alles Geschichte sein. Ich hätte alles hinter mir, ein Neuanfang. Ein perfekter Neuanfang...
Ich schloss meinen Koffer und zog mich schnell noch kurz um. Mit Pyjama könnte ich nicht weg. Als ich aus den Zimmer ging und dabei die Tür hinter mir schloss, merkte ich wie weh es mir tat. War das denn nicht schon mein Neuanfang? Würde ich diese Leute nie vermissen? Ich liebte sie doch alle. Wer wog mehr in meinem Herzen? Meine einzige Verwandte, meine Mutter oder der ganze Rest? Ich ließ mich auf den Boden fallen und knallte meinen Kopf gegen die Wand. Was tat ich denn hier?
Ich schleppte meinen Koffer wieder zurück in mein Zimmer, öffnete es und schmiss meine Sachen, die darin waren auf den Boden.
"Glücklich sein", hörte ich die Stimme meiner Mutter wiederholen. Ohne den Koffer mitzunehmen, rannte ich runter in den Flur. Bevor ich ihn erreichte, hörte ich die Eingangstür laut zuknallen. Dieser Knall. Er wiederholte sich tausendmal in meinem Kopf, als ich dann zur Tür rannte, sie aufriss und dann hinausrannte.
Ich sah schon ein Taxi, in welches meine Mutter einstieg. Sie ließ mich tatsächlich alleine. Ganz alleine.
»Anne! (Mama!)«, rief ich ihr nach. Sie sah nicht zurück, stieg ein und schon fuhr das Taxi los.
»Anne!«, rief ich wieder und meine Stimme versagte. Wie ein Penner rannte ich dem Taxi nach, solange ich konnte. Nun stand ich auf dem Bürgersteig, keine Spur mehr von dem Taxi, ganz allein. Es war kalt und ich ließ mich einfach auf den Boden fallen. Meine Knie gaben einfach nach und ich hatte sowieso keine Kraft zum laufen. Sie war meine Mutter. Meine Mutter. Ich war ihr Fleisch und Blut. Ich war ihre Tochter, ihre Maus.
Die Tränen flossen warm über meine Wange. Ich lag wie ein Krüppel auf dem Bürgersteig, mein Haar zerzaust, mein Körper schwach, mein Gesicht voller Tränen. Alles tat mir weh. Alles. Innerlich, äußerlich.
Ich schloss die Augen und dachte nicht nach. Alles was ich wollte war, aus dieser Situation rauszukommen.
Als ich die Augen aufschlug, lag ich auf meinem Bett. War es ein Traum gewesen? Ein einfacher Traum? Ein Alptraum, den ich mir nie hätte vorstellen können? Plötzlich war es mir egal, wie mich meine Mutter behandelte. Sie sollte nur bei mir bleiben, mich Maus nennen, behaupten, sie würde mich mögen. Es wäre besser, als wenn sie mich verlassen würde. Ich wollte mich bewegen, doch mein Körper tat verdammt weh. Ich sah mich in meinem Zimmer um. Mein Koffer war nicht mehr da, aber hier und da lagen noch einige Klamotten, die ich gestern hin und hergeschmissen hatte. Das bedeute eins. Es war kein Traum gewesen.
Die Bilder vom vorherigen Tag spielten wieder in meinem Kopf ab. Ich begann wieder heftig zu schluchzen. Ein Loch bildete sich in meiner Brust und der Schmerz wuchs mit jeder Träne. Es war alles eine Lüge gewesen. War es so leicht mich hier alleine zu lassen? Wirklich so leicht? Sie wollte mich doch mitnehmen? Sie wollte doch, dass ich bei ihr bin? Oder wollte sie bloß kein schlechtes Gewissen? Wollte sie nur sich selbst sagen können, dass sie mich gerufen hat? Vielleicht hatte sie aber auch nur gemerkt, dass ich meine Meinung geändert und nicht mitkommen wolte.
Ich wusch meine Tränen mit meinem Handrücken weg und versuchte aufzuhören mit dem Weinen, doch es klappte nicht. Am liebsten würde ich einfach alles vergessen, in eine Trance fallen, auch wenn es nur für einen Augenblick wäre.
Plötzlich wurde meine Zimmertür aufgerissen und Osman kam herein. Er sah mich besorgt an und setzte sich zu mir auf das Bett.
»Sie hat einen Brief hinterlassen«, erklärte er mit ruhiger aber schon vertrauerter Stimme. Er hatte sie gemocht, selbst wenn sie eine Frau mit viel zu starken Stimmungsschwankungen war.
»Sie ist weg«, murmelte ich eher zu mir selber. Mein Blick wanderte zu meiner Bettdecke, die ich näher zu mir zog.
Ich bekam wieder eine Heulattacke und versteckte mein Gesicht unter der Decke.
»Ich-«, begann Osman, stoppte dann aber. »Sie war sehr eigen.«
Ich hörte, wie er aufstand. »Ich weiß, dass du lieber alleine bist. So verarbeitest du es besser. Aber- aber wenn du etwas brauchst, solltest du wissen, dass du bei einem einzigen Hilferuf einen Vater an deiner Seite hast, auch- auch wenn du das- nie- nie bemerkt hast.«
Die Tür fiel zu. Meine Gedanken kreisten umher, mein Herz tat weh. Es tat so weh- so weh- so weh. Die Stiche in meinem Herzen vergrößerten sich. Alles tat weh. Die Stiche hinterließen Kratzer, die sich vermehrten und vergrößerten. Bald noch war mein Herz wie ein schwarzes Loch, welches alles in mir reinzog. Es war, als ob ich sterben würde, langsam, qualvoll.
Ich weiß nicht wie, aber ich schlief irgendwie ein. Am nächsten Tag erkannte ich, dass es Dienstag war. Das hieß, dass ich einen Tag Schule versäumt hatte. Die Trauer vom vorherigen Tag hatte sich in Wut gewandelt. Wie konnte sie das tun? Ich war einfach nur wütend. Wegen ihr würde ich jetzt nicht meine Schulausbildung gefährden. Dumme Frau.
Ich zog mich an, machte mich fertig und merkte, wie scheiße ich aussah. Mit Schminke versuchte ich alles zu überdecken, was mir einfach nicht gelang. Stöhnend aß ich dann etwas. Ich ging aus dem Haus, bevor Erdem runter kam. Mein Gefühl sagte mir nur, dass er etwas dagegen haben würde.
In der Schule hatte ich die ersten beiden Englisch. Ich setzte mich an meinen Platz. Erdem sah mich, als er in den Raum ging. Er sah mich streng an und setzte sich hin. Oh man. Jetzt wird man auch noch ausgeschimpft, weil man zur Schule geht.
Der Unterricht begann.
»Du hast wieder geweint«, erkannte Hakan mal wieder viel zu schnell.
»Gut erkannt«, wollte ich sagen, zischte es aber eher. Meine Wut war so groß und so stark, ich wusste nicht wohin damit. Ich atmete deshalb tief ein und aus. Dabei versuchte ich mich zu beruhigen.
»Du machst dir zu viel Stress«, empfand er.
»Wenn es dir passieren würde, würdest du auch rumheulen.«
Er sagte nichts darauf.
»Es kam so plötzlich, aber irgendwie wusste ich es auch. Vielleicht.«
Meine Verzweiflung wuchs. Was dachte ich denn? Was wusste ich denn? Vor allem war ich voller Zorn. Sie hatte mich hier gelassen- ihre eigene Tochter.
Da spürte ich auch schön Tränen über mein Gesicht gleiten. Wie dieser Schmerz augenblicklich über meinen Körper zog, wusste ich nicht, aber es war so schnell, so plötzlich.
Hakan drückte sofort meine Hand und sah mich voller Sorge an. In diesem Moment hätte ich ihn einfach nur viel zu gerne umarmt.
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