Kapitel 26
Bei Fremden
Kapitel 26
»Bengü!«, kreischte ich und rannte auf sie zu. Wie konnte sie es wagen sich hier noch blicken zu lassen?!
Ich schlug ihr eine direkt in ihr Gesicht. Sie hatte das nicht erwartet und taumelte nach hinten. Ihre Hände legte sie sofort auf ihre Nase. Was glaubte sie denn, warum ich wütend auf sie zukam? Um mit ihr zu sprechen? Kannte sie mich so wenig? Oder hatte sie mich nie kennen wollen?
»Was suchst du hier?!«
»Damla, hör mir, wie ein normaler Mensch zu!«, bat Bengü. Dabei tastete sie vorsichtig auf ihrer Nase herum. Ich schüttelte hastig meinen Kopf. »Verpiss dich von hier.«
»Warum? Wenn du mir nicht zuhörst, schreie ich hier auf deiner Straße herum, dass ich mit deinem Freund geschlafen habe«, drohte mir Bengü. In dem Augenblick sah ich zur Tür. Mir war gerade noch verdammt egal gewesen, wer an der Tür war. Es waren sogar alle drei zusammen. Meine Mutter, Erdem und Osman.
»Bist du etwa stolz darauf!?«, kreische ich und wollte mich wieder. Auf sie stürzen, doch Erdem packte mich von hinten und zog mich zurück. »Sie ist es nicht wert«, flüsterte er mir zu.
»Damla, es tut mir leid!«, rief Bengü und heulte sogar schon. »Ich will wieder deine Freundin werden! Ohne dich ist mein Leben ein Trümmer! Auch Nils geht es nicht gut! Verzeih uns! Wie haben einen Fehler gemacht!«
Ich schüttelte den Kopf. »Für eure Fehler werde ich nicht büßen! Was habt ihr euch gedacht, hä!? Dass ich euch einfach verzeihe? Seid ihr dumm oder so? Lasst mich zufrieden!«
»Bengü, verschwinde von hier«, sagte meine Mutter plötzlich scharf. »Du hast eine Schande begannen und wie es aussieht, bemerkst du es nicht einmal. Geh weg. Du hast uns genug gequält.«
Ich wünschte diese Worte wären echt. Ich wünschte, sie wären nicht nur so gesagt, weil vielleicht Erdem oder Osman zusahen. Ich wünschte, meine Mutter liebe mich. Aber nichts davon war real. Nichts. Ihre Worte waren leer. So leer, dass es selbst ein Außenstehender merken könnte.
»Ich kann nicht gehen«, sagte Bengü noch so dreist wie sie war. Sie widerte mich nur noch an. »Ich bleibe, bis alles mit Damla geklärt wird! Es war ein verdammter Fehler!«
Ich konnte es nicht fassen, dass sie sich noch rechtfertigte.
Sie stritten alle laut durcheinander und alles wurde mir einfach zu viel. Es war alles raus. Alles. Dabei hatte ich Nils mehr als mir selbst vertraut. Ich hatte ihn so oft vor Osman beschützt und Osman hatte Recht gehabt. Es war zwar nur ein einfaches Vorurteil von ihm gewesen, aber er hatte Recht. Das hatten sie mir noch einmal ins Gesicht geklatscht.
Mein Herz schlug langsamer. Eine Träne fiel meine Wange hinunter, leise und unauffällig. Die ganze Gruppe war so beschäftigt mit streiten, dass sie gar nicht bemerkten, dass ich langsam Schritte zurück machte. Ich biss mir auf die Lippe, um keinen Laut von mir zu geben, meine Stirn lag in Falten und meine Augen waren glasig. Ich drehte mich um und begann zu rennen. Niemand merkte mich. Ich rannte und rannte. Dabei wollte ich nur im Erdboden versinken.
In meinem Hals hatte sich ein Kloß gebildet, den ich nicht runterschlucken konnte. Ich wusste schon sie ganze Zeit, dass mein Leben gerade nicht ganz rund lief, aber dass es Andere herausfanden, da war mir zu viel. Es stach in mein Herz, wie Glassplitter, die so klein waren, dass sie nicht mehr herausgeholt werden konnten. Sie ließen mein Herz bluten und machten es unmöglich, die Wunden zu wiederschließen. Sie wurden immer wieder mit neuen Splittern begrüßt, die den alten Schmerz aufflammen.
Ich atmete schwer und rannte in irgendeine Richtung. Neben mir lag der Wald. Der Wald, den ich nie betreten hatte. Es würde wohl der letzte Ort sein, an dem man mich suchen würde, oder?
Ohne weiter darüber nachzudenken, lief ich in den Wald hinein. Die Natur und die hier befundene frische Luft taten so gut. Ich weinte lauter und schluchzte dabei. Die Tränen fielen unaufhaltsam. Mein Kopf fühlte sich freier an, gerade noch hätte er platzen können. Ich atmete ungleichmäßig und stützte mich mit meiner Hand an einen Baum. Wo ich in diesem Wald angelangt war wusste ich nicht, nein, es war auch nicht wichtig.
Ich schloss die Augen und sah meinen Vater vor mir. Sofort tastete ich mit meiner Hand an meine Hosentasche und holte meinen Pass heraus. Es war derselbe Pass wie immer. Darauf war mein Bild, mein Name "Damla Demir". Es war alles gleich.
Ich presste den Pass gegen meine Brust und der Gedanke an meinem Vater löste dabei etwas Seltsames in mir aus. Auf der einen Seite war ich glücklich. Ich hätte in die Lüfte springen können. Auf der anderen Seite war ich so traurig, dass es dieses Glück überschattete. Ich fiel auf die Knie und fing an zu schreien. Ich schrie so laut, dass meine Lunge brannte. Es tat nicht gut, aber es fühlte sich verdammt richtig an.
Dann ließ ich mich ganz zu Boden fallen und sah hoch. Der Himmel war so schön blau. Es war so klar. In dem Himmel sah ich ein Gesicht und das konnte ich kaum fassen. Warum gerade Hakan? Ich blinzelte einige Male und das Bild verschwand. Kopfschüttelnd stand ich auf. Dabei wischte ich mir die letzten Tränen weg. Ich atmete tief ein und steckte meinen Pass wieder in die Hosentasche. Danach ging ich tiefer in den Wald.
Ich fühlte mich wie Gretel, die im Wald verschollen war. Nur fehlte mir mein schützender Bruder, Hensel.
Ich seufzte und erreichte einen Ort, wo viele Blumen waren. Es waren größere Steine in einem Haufen, wo ich mich hinsetzte. Der Anblick war eigentlich mehr als nur wow, aber meine Stimmung passte einfach nicht dazu. Wieder kullerte mir eine Träne herunter. Was Bengü wohl alles erzählte? Ich könnte sie umbringen. Warum muss sie einfach so auftauchen und das, nachdem sie alles kaputt macht?
Ich biss mir auf die Lippe, weil ich nicht wieder weinen wollte. Mein ganzes Leben hatte ich Personen vertraut, die hinter meinem Rücken...
Ich konnte es nicht fassen. Ich- ich- ... Ich weinte und versteckte mein Gesicht dabei hinter meinen Händen. Es tat furchtbar weh. Mein Herz tat weh. Diese Schmerzen waren unglaublich groß. Es nervte und brachte mich um, dass sie so etwas hinter meinem Rücken tun konnten und heute unverschämt wie sie waren, meinen konnten, es sei bloß ein Fehler gewesen.
Plötzlich spürte ich eine warme Hand an meiner Schulter und ich sah abrupt auf. Mit einem besorgten Gesichtsausdruck sah mich Erdem an. Seine Hand nahm er vorsichtig wieder von meiner Schulter. Dafür hockte er sich aber hin und unsere Gesichter waren auf gleicher Höhe.
»E-E-E-Er-«, stotterte ich und bekam dabei kaum Luft. Er drückte seinen Finger gegen seine Lippen, um zu zeigen, dass ich nicht reden brauchte.
»Mach die keine Sorgen«, murmelte er und wisch mir die Tränen vom Gesicht. Es kam mir komisch vor, das von Erdem zu sehen.
Ich versuchte normal zu atmen und beruhigte mich einigermaßen. »Wieso tust du das?«
Er lachte. Dabei sah er kurz zu Boden und dann wieder zu mir. »Du verstehst das nicht, oder? Auch wenn du nur die nervige Damla von nebenan wärst und nicht meine Stiefschwester, ich würde dich hier nicht alleine lassen. Nie. Dafür bist du zu wichtig.«
Ich runzelte die Stirn und Erdem half mir hoch. »Ich hab dieses Mädchen weggeschickt«, sagte er Bescheid und ich nickte.
»Pass auf«, sagte er dann und wir machten Schritte vorwärts. Die Frage, die die ganze Zeit auf meiner Zunge brannte war, woher er wusste, wo ich war. »Erdem, wie hast-«
»-später, Damla. Beruhig dich und überanstrenge dich nicht. Ich kann dir auch später etwas sagen, oder nicht?«
Ich nickte wieder nur und wir durchquerten so den Wald. Ich fühlte mich dabei wohl und als ob ich in Sicherheit wäre. Deswegen musste ich sogar grinsen.
Die kleine Gretel hatte ihren Hensel gefunden.
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