Kapitel 9
Lange dachte Lucy über die neu gewonnenen Informationen nach, während sie das Bild zwischen ihren Händen hin und her drehte. Ihr starrer Blick auf den Jungen mit der weißen Theatermaske gerichtet, drehte sie das Bild einmal um seine eigene Achse, dabei wurde sie immer schneller und schneller bis ihr das Bild ruckartig aus der Hand fiel. Leichte Irritation spiegelte in ihren braunen Augen wider, während ihr Herz mehrere verkrampfte Sprünge aus Schreck schlug. Ihre Augen weiteten sich leicht, bevor sie nach ein paar Mal blinzeln auf ihren rechten Zeigefinger blickte. Ein kleiner Riss bildete sich auf der Fingerkuppel ab, aus dem sich ein kleiner Tropfen Blut ausquetschen wollte.
Ohne weiter nachzudenken, nahm sie das runter gefallene Bild und platzierte es vor sich auf den unordentlichen Schreibtisch. Mit der unverletzten Hand kramte sie aus den Haufen voller Papiere eine Schachtel von Taschentüchern hervor und tupfte gedankenversunken das Blut von der Fingerkuppel. Dabei irrte ihr Blick unruhig von einem Blatt Papier zum nächsten. Auf ein paar Blättern standen To-Do Listen drauf oder irgendwelche Termine, die in der Vergangenheit liegen. Manchmal schmuggelte sich auf ein Post-it oder auf einem zerrissenen Blatt Papier eine Notiz, die als Gedankenstütze für den Tag galt oder irgendwelche Stichpunkte für die Artikel, an die Lucys Kollegin und sie gerade gearbeitet hatten. Zwischen den ganzen Papierhaufen thronte ein grauer Laptop, voll geklebt mit den vielen gelben, roten oder grünen Post-it's und ein kleiner Kalender mit lustigen Sprüchen darauf, welcher mit irgendwelchen Terminen vollgeschrieben war oder die vergangenen Tage durchgestrichen wurden. Irgendwann sollte Lucy ihren Arbeitsplatz mal aufräumen, jedoch kam sie wegen irgendwelchen Kleinigkeiten nie dazu oder sie war einfach zu faul dafür.
Ein leiser Seufzer kam über ihre Lippen, nachdem sie das Bild an die graue Trennwand, zwischen den vielen Bildern mit ihrem Vater und Alexis, hängte, die Lucy von ihren Kollegen trennte.
»Ja, das Leben ist anstrengend, was?«, drang eine von rauchen geprägte Stimme an Lucys Ohr, die mit dem Rücken zum Ausgang ihres kleinen abgetrennten Büros in den großen hellen Raum auf den abgesessenen blauen Drehstuhl saß. Mit Schwung drehte sich das braunhaarige Mädchen zu der Stimme um, welche zu einer etwas kleineren Punkerin gehörte. Ihre schwarzen Haare waren an einer Seite zu einem Side-Cut geschoren worden, während sie auf der anderen Seite, mit bunt gefärbten Spitzen leicht abstanden. Kleine Piercings verzierten ihr rechtes Ohr, welches durch den Side-Cut hervorgehoben wurde, und ihre kleine Nase, sowie ihre Lippen, die mit einem dunklen Lippenstift unterstrichen waren. Um ihre grün-grauen Augen war ein sanfter Eyeliner-Strich gezogen worden und etwas Wimperntusche ruhte auf ihren langen Wimpern. Passend zum geschminkten Gesicht trug sie ein schwarzes Top und ein rot kariertes Hemd, welches lässig um ihre Hüfte gebunden war und leicht ihre schlichte schwarze Hose verdeckte. Man sah ihr auf Anhieb nicht an, dass sie eine Frau war, da ihr Körper nicht viele Rundungen hatte, jedoch unterstrich dies, wie eine Kirche zur Krönung auf der Sahnetorte, ihren humorvollen und verständnisvollen Charakter.
»Was du nicht sagst.«, murmelte Lucy mehr zu sich als zu ihrem Gegenüber, jedoch bekam die Punkerin dies mit und ließ sich lässig auf die Kante vom Schreibtisch fallen, nachdem sie etwas unaufmerksam den Stapel von Papier auf die Seite geschoben hatte, dabei viel das Bild mit den merkwürdig maskierten Jungs auf den Boden und fing die Aufmerksamkeit der Schwarzhaarigen auf.
»Was ist das?«, mit einer leicht neugierig angehauchten Stimme hob sie das heruntergefallene Bild auf und untersuchte es mit einem strengen Blick.
»Nichts Besonderes, Kate.«, meinte Lucy beiläufig und versuchte das Bild wieder an sich zu nehmen. Trotz das Kate einen Kopf kleiner als Lucy war, hielt sie das Bild so von Lucy weg, dass die Brünette trotz vielen Bemühungen nicht an das Bild kam.
»Also für nichts, sieht das mir schon zu sehr für etwas aus.« Ein kurzer Seitenblick von der schwarzhaarigen Arbeitskollegin und Lucy nahm geschlagen ihren Arm runter. »Hast du das gemacht?« Dieses Mal richtete Kate ihre ganze Aufmerksamkeit auf Lucy und stütze die Hand, welche das Bild festhielt, auf ihrem linken Bein ab. Mit einem knappen Kopfnicken bejahrte Lucy die Frage und ließ sich zurück in ihrem Schreibtischstuhl fallen. Die alte Lehne gab leicht nach, sodass das Mädchen in einer halb liegenden und halb sitzenden Position vor dem Schreibtisch saß. Ihre Arme auf ihre ausgestreckten Beine liegend, drehte sie sich ab und zu kurz hin und her, während sie der rauen Stimme folgte, die scheinbar kein Ende nehmen wollte. Immer mehr Bewunderung hörte Lucy aus der Stimme heraus, welche das Bild lobte. Dabei ruhten Lucys Blick auf den grün-grauen Augen von ihrer Arbeitskollegin, die unruhig über das Bild huschten.
»Aber sag mal, wie hast du es geschafft sie so gut zu treffen?«, riss die Raucherstimme Lucy aus ihrer Trance und ließ sie leicht aufschrecken. Nach einem kurzen Atemzug, in dem sie ihre Gedanken geordnet hatte, bemerkte sie, den nachdenklichen Blick ihres Gegenübers, der wartend auf einer Antwort auf ihr ruhte. »Sag mal, hast du mir nicht zugehört?«
»Doch. Doch.«, antwortete Lucy schnell und versuchte sich an den Monolog ihrer Arbeitskollegin zu erinnern. Nur brüchig vielen ihr ein paar Sätze ein, welche nicht zueinander passten. Geschlagen seufzte sie leicht, bevor sie sich aufrichtete und das Bild aus Kates Händen nahm und mit ihrem leicht müden Blick studierte.
»Ich verstehe nicht.«, meinte sie nach einem kurzen Augenblick. »Wen soll ich gut getroffen haben? Kennst du die Leute auf dem Bild etwa?« Leicht schräg von sich weghalten, richtete Lucy das Bild zu Kate und ließ einen irritierten Blick durch den Raum schweifen. Ein paar Reporter liefen redend oder alleine und schweigend an den Beiden vorbei, die von den vorbeilaufenden ausgeblendet wurden. Lucy versuchte durch den kurzen umherschweifenden Blick viele bekannte Gesichter zu erhaschen, die nicht unbedingt das Gespräch mitbekommen sollten. Jedoch erkannte sie nur Gesichter, zu denen sie keinen Namen hatte, aber die Gesichter trotzdem schon mal gesehen hatte.
»Na ja, kennen würde ich es jetzt nicht sagen. Also persönlich kenne ich sie nicht, aber das was ich so alles im Internet über die gelesen habe...«, kurz unterbrach Kate sich und machte eine abwägende Handbewegung. »Nun ja, wie soll ich es sagen? Diese Leute auf dem Bild stellen in etwa drei bekannte Creepypastas da - kennst du überhaupt Creepypastas?« Mit einem leicht vorgebeugten Oberkörper warf Kate einer vorbeilaufenden Kollegin einen genervten Blick zu, bevor sie sich wieder Lucy zuwendete. Leichte Verwirrtheit spiegelte sich in dem Blick der Braunhaarigen wider, die nachdenklich ihren Blick zur Seite abwendete. Creepypastas also... Was um Himmelswillen sind Creepypastas?, fragte sie sich. Kann man die essen? Na ja, eigentlich ja nicht, außer man ist Kannibale... Creepypastas... Wieso hört das sich so sehr nach einem Gericht an?
»Ich bin mir nicht sicher, aber... Ich glaub, ich habe davon noch nie gehört.«, verneinte Lucy die Frage und schüttelte etwas ihren Kopf. »Aber wenn du mich frägst, finde ich, dass es sich sehr nach einem Gericht anhört.« Lachend fiel Kate leicht nach hinten und balancierte ihr Gewicht durch ein erhobenes Bein, das nach ein paar Sekunden wieder baumelnd überm Schreibtischrand hing und ihr Oberkörper in der leicht vorgebeugten Position wieder war. Lucy wollte gerade ansetzen für eine Gegenwehr, als Kate ihr das Wort aus dem Mund schnappte.
»Du denkst auch nur ans Essen, oder? Creepypasta ist kein Gericht, auch wenn es sich anhört wie so ein italienisches Nudelgericht, ist das was komplett anderes. Ich meine, kannst du die drei Jungs essen?«, warf Kate die Frage in den Raum, bevor sie sie selber beantwortete und mit ihrer Erklärung weiterfuhr. »Abgesehen du bist ein Kannibale, dann ja, Menschen kann man auch essen - aber das ist ein komplett anderes Thema. Genauso wie ich mich gerade wie eine Lehrerin fühle - und ich hab mir geschworen, nie wieder was mit Schule zu machen, darunter zählt auch Lehrer spielen...«
»Du schweifst ab.«, unterbrach Lucy ihre vor kurzem neugewonnene Freundin und lehnte sich wieder leicht in den Schreibtischstuhl zurück. »Was sind jetzt Creepypastas?«
»Immer mit der Ruhe.«, versuchte Kate Lucy zu beschwichtigen. »Creepypastas sind sowas ähnliches - was heißt hier sowas ähnliches. Es sind Gruselgeschichten. Also, so Geschichten... Die erfunden sind, aber auch wahr sein können und in den bekanntesten Creepypastas geht es meistens um einen Mörder oder eine ähnliche Kreatur, die aufs Töten aus ist - oder auch nicht. Du kennst sicherlich Slenderman? Der große schlanke Mann, mit keinem Gesicht und Tentakeln am Rücken und er trägt immer einen Anzug.«
»Ja, das ist dieser Typ aus so einem Spiel.«, beteiligte sich eine dritte Stimme an dem Gespräch. »Ach übrigens, Miss Clark will euch nachher sprechen. Es geht um die nächsten Artikel.« Die beiden Mädchen, welche ihre Umwelt während dem Gespräch ausgeblendet hatten, blickten leicht erschrocken in die Richtung, aus der die Stimme kam. Eine etwa um die sechzig Jahre alte Frau stand vor den beiden. Ihre grauen Haare hatte sie zu einer Bananenfrisur hochgesteckt, sodass ihr, mit leichten Falten überzogenes, Gesicht zur Geltung brachte. Hinter einer modernen dunklen Brille versteckte sie ihre dunklen Augen und ihr leicht pummeligen Körper, war durch einen grauen Rock, einer Bluse und einem passenden Blazer gut zur Geltung gebracht worden. Während Lucy die Sekretärin von der Leiterin der Abteilung irritiert musterte, schwirrte ihr ein Gedanke im Kopf umher. Woher kennt sie Slenderman? Als hätte die ältere Dame den Gedanken gelesen, lächelte sie stolz vor sich hin.
»Mein Enkel spielt dieses Spiel und ich hab mal nachgefragt, um was es sich da für ein Spiel handelt. In seiner Erklärung viel ebenfalls dieses Wort >Slenderman<, aber ich weiß bis jetzt noch nicht so wirklich, um was es in diesem Spiel geht und wieso man so etwas spielt.«, meinte sie beiläufig ratlos und wandte sich ab zum Gehen. Jedoch wurde sie von Kates dummer Frage aufgehalten und warf den beiden einen leicht wütenden Blick zu, bevor sie verschwand. Schultern zuckend wandte sich das schwarzhaarige Mädchen der Brünetten zu, welche der Sekretärin hinterherschaute, bevor diese um eine Ecke bog und aus Lucys Blickfeld verschwand.
»Was war denn so falsch an der Frage? Ich habe doch nur nachgehakt, ob sie wirklich ein Enkel hat.«, versuchte Kate das Handeln zu interpretieren.
»An deiner Frage war nichts falsch, nur der Unterton... Der war nicht so wirklich... Ach egal, eher ist die Frage, wie lange stand sie schon da?« Mit einer leichten Handbewegung schmiss sie das Bild zurück auf den Papierhaufen und öffnete die mittlere Schublade von ihrem Schreibtisch und holte ein Klemmbrett mit leerem Schmierpapier hervor. An dem blauen Klemmbrett war ein grüner Kugelschreiber an einer Schnur befestigt. Kate konnte ihr ebenfalls nicht die Frage beantworten, weswegen Lucy sich von ihrem Stuhl erhob und erwartungsvoll zu der Punkerin blickte.
»Na dann, auf in die Schlacht.«
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