
Kapitel 9: Schutz
Dachte ich zumindest.
Denn kuschelige Arme fingen mich rechtzeitig auf, bevor ich auf die Scherben stürzen konnte.
Ich wollte meinen Kopf an ihren weichen Pullover drücken, doch ich hatte keine Kraft dazu. Das Nebelfeld vor meinen Augen wurde noch dichter. Ich dachte an gar nichts. Glaubte sogar kurz nicht zu atmen. Falls ich wirklich nicht geatmet hätte, wäre es zumindest ein schöner Platz zum Sterben gewesen - in ihren Armen. Und gleichzeitig war ich dankbar. Dankbar, dass sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Wie ein Schutzengel.
Mein Schutzengel.
» «
Mein Sinn für die Zeit veschwand.
Ich wurde vorsichtig auf einen Stoff gelegt. Es fühlte sich an wie die Rückbank eines Autos. Ich konnte es mir aber nicht mehr bestätigen, denn schwach wie ich war, fielen mir meine Augen zu; flog in unendliche Dunkelheit und fühlte mich gut. Zeit verging. Es ruckelte ein paar Mal. Es fühlte sich so an, als würde ich wieder fallen. Stürzen, auf die Scherben aus Glas. Ich bekam Panik; öffnete ruckartig die Augen. Meine Lippe schmerzte höllisch. Benommen fasste ich mir an die schmerzende Stelle, nur um dann festzustellen, dass es ein Fehler war. Meine Finger waren etwas blutig.
Ich starrte auf die hellgraue Decke; schaute mich ohne ruckartige Bewegungen um. Nun konnte ich erkennen, dass ich tatsächlich auf der Rückbank eines Autos lag. Angegurtet, wie es die Richtlinien verlangten. Ich warf einen Blick in den Rückspiegel, um den Fahrer zu erkennen. Wobei es sich hier um eine Fahrerin handelte. Lia.
Sofort fühlte ich, wie Hitze in mir aufstieg. Da ich sie darauf aufmerksam machen wollte, dass ich wach war, schenkte ich ihr ein kurzes „Danke". Als ich meinem Kopf etwas anhob, konnte ich erkennen, wie sie in den Rückspiegel lächelte. Lange aber hielt ich nicht durch und legte meinen schweren Kopf wieder auf den Stoff.
"Ich bringe dich nach Hause", sagte sie. "Halte durch. Wir sind gleich da". Ich wollte nicken, aber es ging nicht. Minuten vergingen, die Autofahrt fühlte sich wie eine Ewigkeit an.
Plötzlich spürte ich, wie mir heiße Tränen über die Wangen liefen; sie kamen aus dem Nichts.
Und noch plötzlicher kam das Auto zum Stehen.
"Warum weinst du?", hatte sie mich ganz einfühlsam gefragt. Ich versuchte meine Tränen zu unterdrücke, aber sie waren unkontrollierbar. Wollte anworten, dass es nichts ist, doch mir kamen andere Worte aus dem Mund: "Warum hast du mir schon wieder geholfen, wenn du doch vergeben bist?" Als ich den letzten Teil des Satzes ausgesprochen hatte, wurde ich sauer. Die Tatsache, dass sie bereits mit irgendeinem Typen vergeben war, brachte mich zur Weißglut - obwohl es ganz unbegründet war. Ich kannte ihn nicht. Vielleicht waren die beiden das Traumpärchen?
Vielleicht liebte sie ihn, genauso wie... ich sie.
Liebe.
Konnte man das denn überhaupt "Liebe" nennen?
Ich wusste so gut wie gar nichts über sie.
Nur ihren Namen.
Und was sie über mich wusste, war mir auch nicht klar.
Liebe.
Jetzt hatte ich ein Wort für dieses Gefühl gefunden, dass ich verspürte, seitdem ich sie zum ersten Mal gesehen hatte.
» «
Lia zog die Handbremse an und meinte ganz knapp: "Wir sind da." Egal, wie schwer es mir fiel, ich setzte mich auf und löste den Gurt. Ich wollte die Autotür schon öffnen, doch Lia kam mir zuvor. "Ich kann dich doch in diesem Zustand nicht alleine nach Hause lassen. Außerdem weißt du echt gar nichts über mich, meinen Verlobten oder unsere Beziehung, bitte halte dich da raus", antwortete sie auf meine zuvor gestellte Frage. Meine nächsten Worte waren wohl meinem Rausch geschuldet, denn das hätte ich mich im nüchternen Zustand nie getraut zu sagen: "Ich soll mich raushalten? Dann halte du dich bitte auch aus meinem Leben raus!" Leider hatte ich zu spät wahrgenommen, wie scharf ich es gesagt hatte. Am Liebsten hätte ich es gar nicht erst gesagt. Mit einer gewaltigen Wut drückte ich die Autotür zu, sodass sie ganz laut ins Schloss fiel.
Während sich immer noch alles in meiner Sicht drehte, stürmte ich auf die Eingangstür der Mehrwohnungshauses zu, schaffte es irgendwie den Schlüssel ins Loch zu stecken, ihn umzudrehen und die Tür wieder ganz fest zuzudrücken. Dann stampfte ich die Treppe hinauf und verschanzte mich in meinem Bett. Die Tränen waren bis dahin nicht weniger geworden. Ganz im Gegenteil.
Noch fühlte ich mich okay, mit dem, was ich soeben zu ihr gesagt hatte.
Doch schon bald sollte ich alles mehr als nur bereuen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro