
Kapitel 16: Nebel
Noch nie hatte ich während einer Autofahrt so oft in den Rückspiegel blicken müssen. Nicht nur, weil Lia auf der Rückbank saß, sondern auch um sicherzugehen, dass wir nicht verfolgt wurden. Die ganze Fahrt über sprach niemand ein Wort. Wir dachten wohl alle über das, was eben passiert war, nach. Wenn Daniel ihr das wirklich schon öfter angetan hatte, warum hatte Lia sich nie an Vanessa und sonst irgendjemanden, den sie vertraute, gewendet? Warum hat sie das einfach über sich ergehen lassen? Ich traute mich nicht, sie zu fragen. Einfach aus dem Grund, weil ich nicht wusste, wie sie darauf reagieren würde. Ich wollte keine offene Wunde aufreißen, also ließ ich es erst einmal darauf beruhen. Was hatte Antonia überhaupt bei Lia's Verlobten zu suchen? Steckten die beiden etwa unter einer Decke? Für was? Was wollten sie bezwecken? Außer dem, dass sie Menschen weh taten, ihnen Albträume bescherten und ihnen das Leben schwer machten?
Ein Hupen riss mich aus den Gedanken. Die Ampel hatte schon längst auf Grün geschaltet. Vielleicht sollte ich mich nun doch stärker auf den Verkehr konzentrieren. Ich gab Gas, wobei mir ein "Willst du nicht endlich fahren?" von meinem Bruder gefehlt hatte. Aber darauf konnte ich nicht mehr warten, sonst hätte das Hupkonzert nie ein Ende gefunden.
Ich fuhr ein paar Meter weiter, setzte den Blinker links und bog auf die Tankstelle ab. Nur leider nicht, weil er Tank leer war. Ich spürte den verwirrten Blick von der Seite, den mir mein Bruder zuwarf. Vermutlich wunderte er sich, warum ich anhielt und dann den Motor abstellte. Tja, das würde er gleich erfahren.
Als Erstes schlug ich mit beiden Händen auf das Lenkrad, dann sachte mit dem Kopf, bis ich ihn darauf liegen ließ. Meine Lippe fand das nicht so toll. Sie begann zwar nicht zu bluten, aber es schmerzte wieder etwas.
Das Zweite war, dass meine Augen begannen zu brennen. Brennen, ha, sie weinten.
Der Nebel in meinem Kopf wurde immer dichter; immer unklarer. Dafür sah ich jedes Detail auf den Bildern, die mir ins Gehirn schossen. Wie ihre Finger auf meinem Bauch nach unten glitten. Ein feuchtes Gefühl auf meinen Lippen.
Blut.
Ich schluchzte.
Einmal.
Zweimal.
Ich schloss meine Augen, ließ mich auf die Sitzlehne fallen. Dann hörte ich ein kurzes lautes Krachen, spürte einen Windzug, der von links kam.
Ich nahm an, ein Dutzend Stimmen zu hören, konnte sie aber nicht zuordnen. Nur diese eine Stimme, die ich selbst im größten Rausch erkennen würde, drang zu mir durch. Dieses eine Wort.
"Bruder".
Ich konnte mein Weinen nicht kontrollieren, so sehr taten diese Erinnerungen weh. "Ssscht...". Andreas' Stimme wirkte beruhigend auf mich. Meine Tränen wurden etwas weniger, doch blieben noch lange nicht aus. Da er auf dem Beifahrersitz saß, drückte er meinen Kopf ganz vorsichtig auf seine Schulter, sodass ich mich an seinen Hals schmiegen konnte. Ich konnte eine weiche Hand auf meinem linken Handgelenk spüren. Es war Lia's. Das hatte ich gewusst, bevor mein Körper wollte, dass ich zuckte. Ich hob meinen Kopf etwas und sah sie an, wie sie neben mir an der offenen Fahrertür stand. "Es wird alles gut...", sagte sie ganz leise, obwohl ihr selbst Tränen die Wangen hinunter flossen. Obwohl sie selbst Grund genug gehabt hätte zu zerbrechen und mir in keinster Weise zu helfen. Aber sie tat es. Sie hatte ihr Herz auf dem rechten Fleck, da war ich mir sicher.
So sicher, wie Andreas mein Bruder war.
"Es wird alles gut...", wiederholte sie mit der ruhigsten Stimme, die ich je gehört hatte. "Bei dir auch...", flüsterte ich und hatte Mühe meine Tränen vollends zurück zu halten. "Es tut mir leid, dass ich gesagt habe, dass du dich aus meinem Leben raushalten sollst. Das..., das wollte ich nicht... Alles, was ich zu dir gesagt habe, was dir angetan wurde, was dir passiert ist, das hast du nicht verdient...", setzte ich fort. "Du erst recht nicht... und vergiss nicht, du warst betrunken...", sagte Lia und platzierte ihre Hand nun weiter nach unten, auf meinen Handrücken. Meine Augen folgte ihrer Bewegung. Ich blinzelte mehrmals und hoffte gleichzeitig, dass das keine Einbildung war.
War es nicht.
Ich sah wieder wie gefesselt in ihre blaugrauen Augen. Sie drückten so etwas aus, wie "Wir schaffen das gemeinsam". Vielleicht war es auch einfach nur Wunschdenken. "Geht es bei dir wieder?", wurde ich einfühlsam von meinem Bruder gefragt. Ich nickte nur. "Soll ich lieber fahren?", hakte er gleich danach nach. Wieder nickte ich nur. Dann gurtete ich mich ab und wir wechselten die Plätze, während Lia sich wieder auf die Rückbank setzte. Erneut wurde der Motor gestartet und Andreas fuhr uns zu mir nach Hause. Wobei ich nicht viel davon mitbekommen hatte, denn geschafft von den Erlebnissen, hatte ich mich zurückgelehnt und meine Augen geschlossen. Dass Brummen des Autos wurde immer leiser und irgendwann fiel ich in den Schlaf, sodass ich es überhaupt nicht mehr hören konnte.
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