01.
• Mighty Oaks - The Great Unknown •
Das Leben ist nicht fair.
Das war Yashars erster Gedanke, nachdem er die fette, rot leuchtende Zahl auf seinem Chemietest sah. Sie schien ihn regelrecht auszulachen.
Die Haare raufend, starrte er das Blatt an, als könnte sich die Sechs jeden Moment in eine Zwei verwandeln. Das wäre die Note gewesen, die er verdient hätte, nachdem er so viel für diesen verdammten Test gelernt hatte. Jede Nacht hatte er sich diese blöden Reaktionsgleichungen angesehen und versucht, sie zu verstehen. Er hatte sogar beinahe die kompletten acht Hauptgruppen im Periodensystem auswendig gelernt. Was wollte man denn noch von ihm? Er wollte doch kein Chemiker werden, sondern einfach nur diesen blöden Kurs mit einer blöden Vier bestehen.
»Und, wie lief's bei dir? Auch verkackt?« Elias klopfte ihm auf die Schulter, nachdem Yashar niedergeschlagen den Kopf auf den Tisch gelegt hatte. Als Antwort murmelte er nur irgendetwas Undeutliches vor sich hin, dann schob er seine Blätter zu Elias, ohne aufzusehen. Dieser schien einen Blick auf Yashars Note geworfen zu haben, denn er stieß einen leisen Fluch aus. »Du hast ja richtig reingeschissen, Alter.«
Yashar nuschelte wieder etwas Undeutliches, das »Wem sagst du das?« heißen sollte, aber er war sich nicht sicher, ob man ihn verstehen konnte. Es war ihm aber sowieso egal. Eigentlich wollte er einfach nur in Ruhe gelassen werden.
Er hatte sich so viel Mühe gegeben, hatte so viel gelernt. Er konnte nicht aufhören darüber nachzudenken, wie verdammt unfair das alles war. Wie verdammt scheiße er sich in diesem Augenblick fühlte. Am liebsten hätte er den Test vor den Augen seines Lehrers zerrissen und in den Müll geworfen.
Wenn es so weiterging, konnte er sein Traumstudium vergessen. Es war zwar immer noch möglich, einen Abschluss zu bekommen, auch, wenn man in Chemie grottenschlecht war, nur leider zog die Note seinen Schnitt herunter. Und abwählen konnte er das Fach nicht mehr, nachdem er bereits Physik und Latein von seiner Liste gestrichen hatte.
Den Rest der Stunde hörte er dem Lehrer nicht zu. Herr Schirrmacher stand vorne am Pult und plante die Durchführung eines Experiments. Und obwohl Yashar sich für Gewöhnlich schnell für so etwas begeistern ließ, starrte er dieses Mal gedankenverloren aus dem Fenster. Er beobachtete die Leute, die über den Schulhof gingen, die Vögel, die oben am Himmel flogen und die Eichhörnchen, die sich in den Bäumen versteckten und ab und zu über die Äste huschten. Er tat einfach alles, um diesen verfluchten Chemietest zu verdrängen.
Als es endlich zur Pause gongte, packte er eilig seine Sachen und lief neben Elias und den Anderen die Gänge entlang zur Cafeteria. Er wollte nicht mit Herrn Schirrmacher reden, der ihn wahrscheinlich auf seine schlechte Note ansprechen und ihn fragen würde, ob alles okay bei ihm wäre. Irgendwann würde Yashar dieses Gespräch mit ihm führen müssen. Spätestens dann, wenn es auf die Zeugnisse zuging. Schließlich musste er diese miese Note mit irgendeinem Referat kitten. Aber bis es soweit war, wog der Chemietest in seiner Tasche Tonnen.
Yashars Laune war bereits im Keller, als er die Cafeteria betrat. Es war nicht nur die Sechs - auch wenn sie das Fass zum Überlaufen gebracht hatte -, sondern vielmehr alles, was ihn an diesen Punkt in seinem Leben geführt hatte. Der Umzug, die neuen Leute und die fremde Umgebung - all das stresste ihn manchmal heute noch. Niemals würde er das zugeben. Vor allem nicht Asena gegenüber. Seit sie ihn adoptiert hatte, hatte er ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen. Sie war ein sehr sensibler und mitfühlender Mensch. Er wollte ihr neben ihren eigenen Sorgen nicht auch noch seine aufbürden.
Nachdem Yashar fertig gegessen und sein Tablett zurückgegeben hatte - er war vorgegangen, um noch einmal vor der nächsten Stunde frische Luft zu schnappen -, stellte sich ihm jemand in den Weg. Die anderen Jungs saßen noch am Tisch und aßen, aber Yashar war sich sicher, dass sie selbst von dort drüben mitbekamen, was nun als Nächstes geschehen würde.
Er stand da, mitten in der Cafeteria, mit seinem tonnenschweren Chemietest in der Tasche, und Melina vor ihm. Ihr Haar war schön. Es erinnerte ihn an das von Nora. Ebenholzfarben. Nur ihre Augen waren anders. Nicht braun sondern grün. Aus irgendeinem Grund störte ihn das.
Melinas Mund bewegte sich. Das sah Yashar. Und auch, dass sie am Ende lächelte. Aber es dauerte, bis er den Inhalt des Gesagten verstand. Sein Kopf arbeitete heute langsamer als sonst, aber irgendwann begriff er, dass sie ihn fragte, ob er Lust hatte, sie auf Koljas Party zu begleiten, die am Wochenende war. Samstagabend.
Yashar hörte die Worte, manche von ihnen verstand er sogar, aber sie prallten an ihm ab. Wie Wassertropfen an einer Fettschicht. Irgendwann - endlich - verstand er ihre Absicht und als er das tat, hätte er sich am liebsten die verdammte Zunge abgebissen.
Er wollte Nein sagen. Wollte er wirklich. Das Wort lag ihm bereits auf der Zunge, wollte abspringen und dem Ganzen auf der Stelle ein Ende setzen.
Er hätte ihr gerne gesagt, dass sie hübsch sei und bestimmt auch einen tollen Charakter hatte - Letzteres konnte er nicht wirklich beurteilen, dafür kannte er sie noch nicht gut genug -, ihr aber eine entschiedene Sache fehlte, auf die er bei seiner Partnerwahl großen Wert legte: sie war nicht männlich.
Inzwischen hatte er gelernt, damit zu leben. Er zuckte nicht mehr jedes Mal zusammen, wenn er dachte »Ich bin schwul«, schaffte es sogar, diese drei Worte leise vor sich hin zu flüstern und dabei seinem Spiegelbild in die Augen zu sehen. Er hatte endlich kapiert, dass er nicht in Flammen aufgehen würde, nur, weil er auf Jungs stand. Auch, wenn sein Vater das vermutlich dachte.
Und obwohl er mit sich nun im Reinen war, sprach er die Worte nie laut aus. Er sagte sie zu niemandem. Er schämte sich nicht, daran lag es nicht - jedenfalls glaubte er, dass es nicht daran liegen würde. Es war mehr die Tatsache, dass es ihm nichts brachte, sich öffentlich zu outen. Es gab an der Schule niemanden, der ihn interessierte, er hatte auch außerhalb der Schule keine Beziehung, niemanden zu dem er stehen musste. Es war schlichtweg unnötig. Er wusste nicht wie Elias und die anderen auf sein Outing reagieren würden, also ließ er es bleiben und lebte weiter in seiner Scheinwelt.
Und er sagte Melina zu. Sie freute sich und gab ihm ihre Nummer, damit er ihr schreiben konnte, wann er sie abholen kam.
Yashar war achtzehn. Er hätte seinen Führerschein haben können. Wahrscheinlich ging sie davon aus, dass er sie mit seinem teuren Schlitten abholte. Dass sie sich wahrscheinlich mit dem Gepäckträger seines Fahrrads anfreunden musste, sagte er nicht. Dafür war sie auch viel zu schnell wieder weg. Sie ließ ihm keine Zeit zum Nachdenken oder Atmen. Viel zu schnell war er wieder alleine.
Asena - seine Tante - hatte ihm oft gesagt, er sollte endlich mit dem Führerschein anfangen. Sie bot an, ihn ihm zu zahlen. Als er sagte, dass er das nicht wollte, sagte sie, dass er ihr das Geld ja später, wenn er arbeiten ging, zurückzahlen konnte. Aber Yashar hatte die letzten Monate so viel anderes Zeug im Kopf gehabt, dass er gar nicht die Zeit gehabt hatte, sich darüber Sorgen zu machen. Manchmal bereute er es.
»Man man man«, hörte er Elias hinter sich sagen. Dieser legte ihm einen Arm um die Schulter, woraufhin Yashar zusammenzuckte. »Melina, also? Du hast echt Glück, Kumpel. Hab's schon länger bei ihr versucht. Du kommst einfach hier rein und zack! Wenn du nicht mein Freund wärst, würde ich dir jetzt in die Eier treten.«
Yashar musterte Elias, um abzuschätzen, ob er das Ernst meinte oder nicht. Bei ihm konnte man sich nie sicher sein.
Trotz seiner Worte strahlte er, aber das war nichts Besonderes mehr. Er grinste beinahe ununterbrochen. Manchmal machte Yashar das wütend. Es machte ihn wütend, wie leicht es Elias fiel, ein Lächeln hervorzuzaubern, während Yashar es, selbst wenn er versuchte vor dem Spiegel zu üben, einfach nicht hinbekam.
»Tut dir der Mund nicht weh?«, murmelte Yashar und trat nach vorne, sodass Elias Arm von seiner Schulter rutschte.
Ohne noch einmal zurückzuschauen, verließ er die Cafeteria und trat an die frische Luft.
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