31.
• Wolf Larsen - If I Be Wrong •
Meine Augen brennen, mein Hintern schmerzt und am liebsten würde ich mich in irgendein Gebüsch verkriechen und nie wieder herauskommen. Das sind die drei großen Gefühle und Gedanken, die mich heimsuchen, während ich auf einem umgefallenen Baumstamm sitze, das Gesicht hinter den Händen vergraben.
So fühlt es sich also an, wenn einem das Herz herausgerissen wird. Zuerst kommt das wunderschöne, blendende Lächeln, die schönen Worte und die elektrisierenden Berührungen, nur, um im nächsten Moment in einen Pool mit Säure geschubst zu werden.
Ich berühre meine Lippen, taste sie ab. Immer noch ungläubig, immer noch ein wenig benebelt vom Abend. Vom Alkohol, vom warmen Sommerabend, von den ganzen Menschen, den Eindrücken und Geräuschen.
In einem Augenblick sitzen wir am Lagerfeuer, trinken und lachen. Wir reden über alte Zeiten. Dann, plötzlich, sitze ich da am Ufer, die Beine im Wasser baumelnd. Im nächsten Moment ist da Atlas. Nur noch Atlas, der mich ins Wasser zieht. Und er küsst mich. Er küsst mich und küsst mich und hört nicht mehr auf, raubt mir den Atem. Ich bekomme kaum noch Luft, aber was ist schon Luft, wenn man so geküsst wird?
Seine Hände, meine Hände sind überall. Sie erkunden jeden Zentimeter Haut, als hätte ich mein Leben lang auf diesen Moment gewartet. Aber wem mache ich etwas vor? So war es doch auch. Ich habe immer davon geträumt Atlas berühren zu dürfen. Nicht, wie Freunde es tun. Sondern auf eine Art und Weise wie nur Liebende es tun.
Es war komisch. Wie, als würde man etwas zum ersten Mal sehen, berühren, erleben. Es war, als wäre Atlas nicht der Junge von damals, als wäre er nicht derjenige, den ich als Kind jedes Mal berührt habe, wenn wir gespielt haben, als wäre er nicht derjenige, mit dem ich mehr als mein halbes Leben verbracht habe. Es war, als wäre er jemand anderes und doch er selbst.
Ich raufe mir frustriert die Haare. Nora, ermahne ich mich, hör auf! Hör verdammt noch mal auf damit! Deine Gedanken ergeben gar keinen Sinn!
Doch, sagt eine Stimme in mir. Doch. Für dich ergeben sie Sinn.
Es ist egal, denn es ist sowieso vorbei. Wie ein Traum. Einfach zerplatzt.
Als würde man dir alles, was du je wolltest, und so viel mehr, auf einem Silbertablett servieren, aber sobald deine Hand auch nur zuckt, siehst du das Tablett umfallen und deinen Traum auf dem Boden zersplittern. Was übrig bleibt, sind Scherben. Scherben und eine klaffende Wunde. Von Außen betrachtet ist es nur ein kleiner Schnitt, aber in dir - in dir fühlt sich alles verrottet an.
Mein Abend kippte von alle meine Träume gehen in Erfüllung zu meine größte Angst ist eingetreten in weniger als einer Sekunde. Schlimmer kann es nicht mehr werden. Andererseits sollte man so etwas niemals denken, oder? Schlimmer kann es immer kommen.
Ich wische mir gerade mit dem Saum meines Kleides die Tränen aus dem Gesicht, als ich Schritte höre. Im nächsten Moment höre ich jemanden neben mir würgen. Ein Typ steht gerade mal einen Meter von mir entfernt. Er hält sich an einem Baumstamm fest und übergibt sich in einen Busch. Ich muss mich zusammenreißen, ganz fest die Augen zusammenkneifen und mir die Ohren zuhalten, um nicht direkt dasselbe zu tun.
Als der Typ endlich fertig ist, atme ich erleichtert aus. Er wischt sich gerade mit dem Handrücken über den Mund, als er mich bemerkt. Ein Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus, woraufhin ich nur angewidert das Gesicht verziehen kann. Irgendetwas hängt ihm im Mundwinkel. Ich muss mich ehrlich zusammenreißen, um mein Essen im Magen zu behalten.
Er hebt den Daumen in meine Richtung. »Geile Party«, lallt er. Dann - zu meiner eigenen Überraschung - dreht er sich einfach wieder um und torkelt zurück zu den anderen am See. Ich schaue ihm hinterher, bis er im Dickicht des Waldes verschwindet und ich wieder alleine bin. Nur Nora und ihre Gedanken.
Wenn ich könnte, würde ich den Kuss ungeschehen machen. Es war klar, dass das in einer Katastrophe enden würde. Nur, weil Atlas mich so angesehen hat und nur, weil er diese Dinge gesagt hat, weil er auf einmal so anders gewesen ist, bin ich schwach geworden. Was habe ich jetzt davon? Ich habe meinen besten Freund verloren. Schon wieder. Und dieses Mal wahrscheinlich für immer.
Atlas ist betrunken gewesen. Er wusste nicht, was er da tut. Jetzt, wo er langsam wieder nüchtern wird, bereut er vermutlich alles, was er heute Nacht gesagt und getan hat. Er bereut es, mit mir hier hergekommen zu sein und überhaupt mit mir befreundet zu sein.
Oh Gott, Nora! Halt für eine Sekunde still! Du hyperventilierst!
Ich atme tief ein und aus. Richtig. Atlas wird schon nicht unsere Freundschaft wegen so etwas Lächerlichem wie diesen Kuss beenden. Diesen atemberaubend wunderschönen Kuss, der ihm nichts bedeutet hat. Das kann er nicht. Das darf er nicht.
Der Baumstamm, auf dem ich seit einigen Minuten nun schon sitze, wird von Sekunde zu Sekunde immer unbequemer. Ich werfe einen raschen Blick auf meine Uhr und seufze. Wann habe ich meine Mutter angerufen? Vor fünf Minuten? Es fühlt sich wie eine halbe Ewigkeit an.
Ich sitze also hier, den Kopf auf die Beine gelegt und heule mir die Augen aus, bis ich keine Tränen mehr in mir habe, aber selbst dann heule ich weiter, nur tränenlos. Bemitleidenserregend, genau so muss ich aussehen. Aber wenigstens sind inzwischen so gut wie alle am See. Niemand muss mich so sehen.
»Hey, Nora!« Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Als ich hochschrecke, sehe ich in Esthers grüne Augen. Der sorglose Ausdruck in ihren Augen verblasst, bis ich nur noch Sorgen und Mitleid in ihnen sehe. Ihre Stimme klingt nicht necked oder herablassend, sondern weich. »Oh Gott, was ist passiert? Du siehst echt scheiße aus.«
Ich wische mir schniefend über das Gesicht. Ich kann nicht einmal wütend über das sein, was sie eben gesagt hat. Wahrscheinlich hat sie sogar recht. Meine Haare sind immer noch nass, mein Make-Up muss total verschmiert sein und von meinen roten, geschwollenen Augen will ich gar nicht erst anfangen. Ich weiß wie ich aussehe, auch ohne einen verdammten Spiegel.
»N-nichts.« Meine Stimme klingt atemlos vom vielen Weinen. Ich will einfach nur noch weit weit weg von hier. Ich will in mein Bett.
Esther schaut über die Schulter und erst da bemerke ich das andere Mädchen. Sie trägt schulterlange, pinke Haare und einen Pony. Ich glaube, ich kenne sie vom Sehen, aber in diesem Moment bin ich mir nicht sicher.
Auch ihr Blick ist voller Mitleid. Wütend presse ich die Lippen aufeinander. Das ertrage ich nicht. Ich ertrage kaum Esthers Mitleid - und dann das eines fremden Mädchens?
»Hey, könntest du schon einmal vorgehen? Ich kann sie nicht so aufgelöst hier sitzen lassen«, flüstert Esther dem Pony-Mädchen zu und setzt sich dann neben mich auf den Baumstamm, einen Arm um mich gelegt. Das war's. Das ist alles. Mehr tut sie nicht. Sie redet nicht. Sie erwartet nicht von mir, zu reden. Sie ist einfach nur da. Und das ist das Beste, was sie in diesem Moment hätte tun können.
Es vergehen einige Minuten, in denen wir einfach nur da sitzen. Wir starren in das verkohlte Lagerfeuer vor uns, bis ich Schritte höre. Schnelle Schritte. Knackende Äste. Ein leises Schnaufen. Dann: »Nora!«
Ich zucke augenblicklich zusammen. Nein, nein, nein. Ich will ihn nicht sehen. Nicht jetzt. Nicht so. Verheult und jämmerlich.
Atlas bleibt nach Luft schnappend vor uns stehen. Er steht direkt vor mir. Ich spüre seinen Blick, der sich in meinen Schädel bohrt. Aber ich schaue nicht auf. Ich kann es nicht.
»Nora, können wir bitte reden.«
Ich sage nichts, spiele nur mit dem Saum meines Kleides herum. Das ist der reinste Horror. Das hier wird das schlimmste Gespräch, das ich je führen musste. Schlimmer als das Gespräch mit meiner Mutter, als ich ihr gesagt habe, dass ich die Pille möchte. Schlimmer als die Trennung mit Yashar.
Meine Horror-Vorstellung von einem Gespräch: Atlas, der mir einen Korb gibt und mir dann sagt, dass es eine schlechte Idee gewesen ist, es noch einmal als Freunde zu versuchen. Atlas, der sich einfach umdreht, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzuschauen, und mich nie wieder auch nur ansieht.
»Die letzten Jahre ohne dich waren die schrecklichsten meines Lebens. Bitte lass mich nicht wieder durch so eine Hölle gehen.«
Hab' ich's nicht gesagt? Moment Mal... Was?
»Okay, ich glaub das ist mein Stichwort. Ich hau schon ab.« Aus dem Augenwinkel bekomme ich mit, wie Esther langsam aufsteht und sich von uns entfernt. Sie verschwindet in die selbe Richtung, in die vorhin auch Pony-Mädchen gegangen ist. Wenigstens hat eine von uns einen schönen Abend.
Atlas beachtet sie nicht. Stattdessen setzt er sich neben mich, nimmt meine unruhigen Finger in seine Hände und drückt sie. »Sieh mich an. Bitte, sieh mich an.«
So gerne ich ihm diese Bitte auch ausschlagen würde, ich schaffe es nicht. Wenn er mich so anfleht, kann ich ihn nicht einfach stehen lassen. Also hebe ich den Kopf.
Atlas sieht meine vor Tränen verquollenen Augen und ein trauriges Lächeln huscht über sein Gesicht. Er lässt meine Hände los. Sein Daumen fährt über meine Wangen, unter meinem Auge, wischt die Tränen weg.
Ich will nicht, dass er mich so berührt. Ich will nicht, dass er aufhört mich so zu berühren.
»Nora, ich muss mit dir reden. Wegen eben-«
Ich hebe die Hand, damit er aufhört zu reden. Ich will ihn nicht unterbrechen. Ich weiß, ich sollte ihn aussprechen lassen. Er hat das Recht dazu zu sagen, was ihm auf dem Herzen liegt. Ich weiß das alles, aber in der Theorie ist alles immer leichter als in der Praxis, oder?
Statt ihn also reden zu lassen, sage ich: »Bitte nicht.«
Er verstummt. Sieht mich an. Verwirrung spiegelt sich in seinen schönen Augen, die selbst in dieser Dunkelheit nicht aufhören zu strahlen.
»Lass uns nicht über den...« Ich räuspere mich. »Lass uns nicht darüber reden. Können wir nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert? Ich will... ich will, dass wir Freunde bleiben, ohne, dass es komisch zwischen uns werden muss. Wir haben uns doch eben erst wiedergefunden.«
Atlas' Gesichtsausdruck verändert sich. Ich kann ihn nicht deuten, aber ich weiß auch nicht, ob ich das will. Ist er verletzt? Erleichtert? Verzweifelt, weil er es jetzt nicht mehr übers Herz bringt, mich in den Wind zu schießen?
Er öffnet den Mund, mustert mich, als suche er etwas in meinem Gesicht, und schließt ihn wieder. Er zögert kurz. Dann fragt er: »Du willst so tun, als sei nichts passiert?«
Ich zögere nicht. »Ja.«
Später, im Auto, reden wir nicht miteinander. Meine Mutter dagegen, redet für uns beide mit. Ihre Stimme übertönt selbst die Musik, die aus den Lautsprechern schallt. Sie erzählt von meinem Vater, der sich auf der Arbeit mit einem Kunden angelegt und den ganzen Abend schon schlechte Laune hat, sie erzählt, dass sie und Dad jetzt den Urlaub für den Sommer gebucht haben. Griechenland. Mum schwärmt von den Fotos, vom Hotel und den Sehenswürdigkeiten, die wir besuchen werden. Ich sage nichts. Ich freue mich auch nicht.
Vielleicht fällt ihr unsere Verschwiegenheit nicht auf. Vielleicht möchte sie auch einfach nur taktvoll sein und ignoriert sie. Ich bin in jedem Fall dankbar dafür und für ihren endlosen Redeschwall.
Ich sitze vorne, im Beifahrersitz, während Atlas auf der Rückbank Platz genommen hat. Am liebsten würde ich mich umdrehen, ihm in die Augen sehen und ihn auf Knien anflehen, dass alles wieder so sein soll wie vor diesem Kuss. Aber ich darf nicht. Ich will wenigstens einen Blick in den Rückspiegel werfen und mich vergewissern, dass alles okay bei ihm ist - nur ein einziger Blick -, aber auch das erlaube ich mir nicht.
Irgendwann sagt Atlas: »Können Sie mich bitte hier rauslassen?«
Wir stehen irgendwo im nirgendwo an einer roten Ampel.
Meine Mutter sieht mit gerunzelter Stirn in den Rückspiegel. Sie mustert Atlas kurz, bevor sie wieder nach vorne schaut. Gerade, als die Ampel auf grün umspringt. »Aber bis zu dir ist es noch ein Stück«, merkt Mum an, wird dennoch langsamer.
»Ist schon gut. So weit ist es nicht«, meint Atlas. »Ich laufe das bisschen einfach.«
Meiner Mutter ist nicht ganz wohl bei der Sache. Das erkenne ich daran, wie sie immer wieder einen kurzen Blick nach draußen wirft und den Park mustert, durch den Atlas laufen muss, um nach Hause zu kommen. Aber das kann ich ihr nicht einmal verübeln. Um diese Zeit, in dieser schwarzen Nacht, wirkt er wirklich einschüchternd.
Sie hält an der Seite an und wirft erneut einen Blick in den Rückspiegel. Ihr Blick ist prüfend, aber ich erkenne auch Sorge darin. »Bist du dir sicher?«
»Ja. Ich glaube, ein Spaziergang tut mir jetzt ganz gut.« Ich höre das Klicken, als er die Tür hinten öffnet. »Also, danke fürs Fahren Frau Meyer.« Er zögert kurz, dann höre ich ihn sagen: »Bis Montag, Nora.«
Mum steigt ebenfalls aus, den Warnblinker an, um Atlas dabei zu helfen sein Fahrrad aus dem Kofferraum zu holen. Ich bleibe vorne sitzen, die Hände im Schoß vergraben und mit aufeinander gepressten Lippen.
Als Mum wieder ins Auto steigt, werfe ich einen verstohlenen Blick aus dem Fenster. Atlas schiebt sein Fahrrad neben sich her. Den Blick hält er gesenkt. So ist Atlas nun mal. Er hält den Blick immer gesenkt. So läuft er durchs Leben, mit gesenktem Blick.
Ich sehe ihm so lange hinterher, bis nur noch ein Schatten von ihm übrig bleibt und irgendwann wird auch dieser von den Bäumen verschluckt.
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