30.
• Sam Smith - Fire On Fire •
Ich sitze am Rand des Sees und lasse die Beine im Wasser baumeln, während mein Blick immer wieder zu dem Haarschopf herüberspringt, der ab und zu aus dem dunklen Wasser hervortaucht, nur um dann wieder zu verschwinden.
Das leise Plätschern des Wassers hat eine seltsam beruhigende Wirkung auf mich. Für einen kurzen Augenblick schließe ich die Augen und erlaube mir, einfach an nichts zu denken, alles zu vergessen und nur diesen Moment zu genießen. Die frische Luft, der Mond, das Zirpen der Grillen, die leise Musik, die vom Lagerfeuer zu uns reicht, dieses kühle Wasser um meine Füße und Atlas. Atlas, Atlas, Atlas.
Ich betrachte heimlich seine breiten Schultern, wenn er mal wieder ein paar Züge schwimmt. Ich betrachte das nasse Haar, das er jedes mal beim Auftauchen ausschüttelt und das ihm dann vom Kopf absteht. Ich könnte ihn stundenlang ansehen und nicht genug von ihm bekommen.
»Hast du Spaß?«, frage ich ihn, nachdem er nach längerer Zeit wieder aufgetaucht ist und sich gerade die Haare ausschüttelt.
Bis auf die Spitzen sind seine Haare wieder in ihrer gewöhnlichen, dunkelbraunen Farbe. Ich mochte das graue Haar an ihm, es stand ihm, aber noch mehr liebe ich seine natürliche Haarfarbe. Es verleiht seinen hellen, leuchtenden Augen mehr Tiefe.
Er sieht zu mir auf und grinst, dann treibt er auf dem Rücken im Wasser herum. »Sicher, dass du nicht mit rein möchtest?«
»Ich passe.«
In seinen Augen blitzt es kurz auf, dann taucht er wieder unter.
Ich stemme die Hände nach hinten und lehne mich zurück, während ich in den Himmel schaue, der inzwischen mitternachtsblau ist. Ich denke zurück an die Szene zwischen Atlas und mir vor meinem Haus und dann an sein seltsames Verhalten im Wald. Irgendetwas hält er vor mir geheim. Ich wünschte nur, er würde sich mir anvertrauen. Erwarte ich zu viel? Seufzend schließe ich die Augen. Ja, wahrscheinlich erwarte ich wirklich zu viel.
Das laute Platschen von Wasser reißt mich aus meinen Gedanken und in der nächsten Sekunde taucht Atlas so plötzlich vor mir auf, dass ich erschrocken zusammenzucke.
»Scheiße! Was sollte das?«, zische ich und lege mir die Hand auf die Brust. Grinsend schaut er zu mir auf. Er streicht sich das nasse Haar aus dem Gesicht. Wassertropfen laufen ihm über das Gesicht, über seinen Hals, über seine Brust.
Ich schaue auf ihn herab, wie er vor mir im Wasser treibt. Es ist seltsam, den Blick in seiner Gegenwart senken zu müssen, weil er sonst derjenige ist, der mich überragt.
»Bist du dir immer noch sicher, dass du nicht reinkommen willst, solange die anderen noch nicht da sind?«, fragt er und kommt mir so nahe, dass er jetzt zwischen meinen Beinen steht. Seine Hand liegt auf meinem Oberschenkel. Er hält sich an mir fest und mustert mich, als etwas in seinen Augen aufblitzt. Es ist, als würde er versuchen mich zu provozieren, aber als er spricht, klingt seine Stimme samtig weich. »Komm schon, Nora. Lass dich fallen. Nur dieses eine Mal.«
Es fällt mir schwer zu denken, wenn Atlas mir bei jedem Wort näher kommt. Es fällt mir schwer, überhaupt irgendeinen sinnvollen Gedanken in meinem Kopf zu formen, wenn sein Daumen über die nackte Haut streicht, an der mein Kleid inzwischen hochgerutscht ist. Mein Körper vibriert. Mein Gehirn setzt aus. Und mein Herz springt mir jeden Augenblick aus der Brust.
Ich bilde mir wieder ein, seinen Blick auf meinen Lippen zu spüren, bilde mir ein, dass er sich zu mir vorbeugt. Mein Atem stockt. Es ist wie vorhin. Nein, es ist anders. Dieses Mal bilde ich mir das alles nicht nur ein.
Atlas ist mir inzwischen so nah, dass meine nackten Beine seine nackte Haut berühren. Und Haut an Haut? Keine gute Kombination, wenn ihr mich fragt. Jedenfalls nicht jetzt. Nicht so. Ich konnte davor schon keinen klaren Gedanken fassen, aber jetzt? Ich kann nicht denken, kann nicht atmen. Alles was ich sehe, sind diese atemberaubenden Augen, dieser einladende Mund, dieser umwerfende Junge.
»Atlas, ich...« Meine Stimme ist so leise, dass ich nicht weiß, ob ich die Worte nicht doch nur gedacht habe, aber das ist auch egal, denn ich habe schon wieder vergessen, was ich sagen wollte.
Ich habe mich vollkommen unbewusst so weit nach vorne gebeugt, dass unsere Gesichter sich so verdammt verdammt nah sind. So nah, dass ich den schwarzen Rand um seine sonst so strahlend blaue Iris sehe. So nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüre. So nah, dass ich alles um mich herum vergesse.
»Das ist eine schreckliche Idee«, flüstere ich an seinen Lippen.
Sein Blick flackert für eine Sekunde von meinem Mund zu meinen Augen. »Vielleicht«, flüstert er. Noch bevor das Wort in meinem Kopf ankommt, liegt seine Hand in meinem Nacken. Er zieht mein Gesicht zu sich und als ich realisiere, was er da tut, liegt sein Mund schon auf meinem.
Das leise Stöhnen entweicht mir, bevor ich es aufhalten kann. Als hätte es nur auf diesen Moment hingefiebert und verdammt, ja. Alles in mir schreit endlich endlich endlich.
Als hätte Atlas nur darauf gewartet, auf irgendein Zeichen gewartet, öffnet er den Mund und ich sehe nur noch Sterne. Die Welt scheint sich zu drehen. Oder drehe ich mich vielleicht?
Er küsst mich, schreie ich in Gedanken. Atlas küsst mich. Mich! Es ist aufregender und schöner als ich es mir je hätte vorstellen können. Das Schönste, was mir je passiert ist und passieren wird.
Mein Herz hämmert in meiner Brust, es zersprengt beinahe meinen Brustkorb und ich denke: das muss doch die ganze Welt hören.
Irgendwann scheint mein Kopf sich endlich wieder eingestöpselt und realisiert zu haben was gerade vor sich geht. Ich hebe die Arme und vergrabe meine Finger in seinen Haaren. Wie oft habe ich mir das hier gewünscht? Wie oft habe ich mich gefragt wie sich ein Kuss mit Atlas anfühlen würde? Wie sich seine Haare zwischen meinen Finger anfühlen würden? Wie würde er mich festhalten? Was würde er mit seinen Händen machen?
Ohne den Kuss zu unterbrechen, zupft er plötzlich an meinem Kleid. Als ich mich erschrocken von ihm löse, hält er mich fest, seine Finger in meinen Haaren. Er sieht mir in die Augen, dann fällt sein Blick auf meinen Mund und er sagt: »Komm ins Wasser.« Als wollte er seine Worte unterstreichen, zupft er wieder an meinem Kleid. Es ist inzwischen so weit nach oben gerutscht, dass ich es auch gleich ausziehen könnte.
Atlas senkt den Kopf und küsst meinen Oberschenkel. Dann noch einmal und noch einmal. Mir wird kalt. Dann wird mir warm. Ich zittere. Nicht vor Kälte, sondern Erregung. Alles in mir brennt. Es ist, als hätte Atlas mit seinem Kuss ein Feuer in mir entfacht, das schon lange am Verglühen war.
»Nora, bitte.« Er sieht mich wieder an. Das hier, vor mir, muss ein anderer Jungen sein. Ein anderer Atlas. Ich habe noch nie dieses Verlangen in seinen Augen gesehen, habe seine Augen noch nie mit solch einer Leidenschaft brennen sehen. Ich kann nicht glauben, dass ich es bin, die er so ansieht.
Scharf ziehe ich die Luft ein und als er dieses Mal an meinem Kleid zupft, hebe ich die Arme.
Bevor ich überhaupt dazu komme, meinen Körper mit den Händen abzuschirmen, weil mir mit einem Mal klar wird, dass ich nicht mehr als meine Unterwäsche trage, nimmt Atlas meine Arme und legt sie sich um den Nacken. Im nächsten Moment spüre ich seine Hände an meinen Hüften. Er hebt mich hoch und fast automatisch schlinge ich die Beine um seine Hüften.
Als mich das Wasser umgibt, brauche ich einen Moment, um mich an die Kälte zu gewöhnen. Ich schnappe nach Luft, aber dann ist da Atlas' Körper, der sich an meinen presst. So warm und so vertraut. Ich will nicht, dass diese Nacht je endet. Ich will für immer hier bleiben, mit ihm alleine. Nur wir beide. Arm in Arm.
Mein Körper glüht, wo Atlas mich berührt hat. Es ist wie ein Fluch. Seine Hand liegt an meiner Hüfte, die andere streicht in sanften, ruhigen Bewegungen über meinen Rücken, als versuche er mich zu wärmen, als wüsste er nicht, dass ich seinetwegen in Flammen stehe.
Sein Mund liegt auf meinem Schlüsselbein. Er küsst mich, immer und immer wieder. Ich wusste, dass Küssen etwas Schönes ist, aber ich wusste nicht, dass es so sein kann. So atemberaubend schön.
Mein Atem kommt so schnell und abgehackt, dass man meinen könnte ich hätte einen Anfall.
Atlas' kalte Lippen fahren weiter hoch, küssen meinen Hals, meinen Kiefer, die Stelle unter meinem Ohr. So vorsichtig, als hätte er Angst ich könnte in seinen Armen zerbrechen.
»Küss mich«, haucht er mir ins Ohr. Seine Lippen berühren mein Ohrläppchen. »Küss mich, Nora. Küss mich.«
Ich denke nicht mehr rational, verdammt ich denke gar nicht, als ich sein Gesicht zwischen meine Hände nehme und meinen Mund auf seinen lege. Dieses Mal hält sich niemand von uns zurück. Da ist kein Platz mehr für Unsicherheiten, da ist nur noch dieses Feuer, dieses brennende Verlangen. Ich lege meine Hände in seinen Nacken, spiele mit seinen Haaren, so wie ich es mir immer vorgestellt habe. Ich genieße den Geschmack nach ihm auf meinen Lippen, in meinem Mund.
Mit einer Hand hält er immer noch meine Hüfte fest, die andere fährt quälend langsam mein Bein hinauf, über meinen Bauch und zwischen meine Brüste, bis zu meinem Hals. Er legt seine Hand an ihn, streicht mit seinem Daumen sanft über meine Haut bis ich leise an seinem Mund aufstöhne.
Als wir uns kurz voneinander lösen um nach Luft zu schnappen, sehen wir uns an. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ob ich überhaupt etwas sagen soll, das hier - alles - fühlt sich so surreal an, aber dann lächelt er mich an und ich habe das Gefühl ich kann endlich wieder atmen.
Atlas hebt seine Hand. Er streicht mir ein paar nasse Strähnen aus dem Gesicht, hinter mein Ohr und im nächsten Augenblick zieht er sanft aber bestimmt an meinen Haaren, so dass ich den Kopf in den Nacken lege. Sein heißer Atem streift meine Haut.
Ich starre in den Himmel über uns und wundere mich wie es sein kann, dass die Sterne noch leuchten und der Mond noch scheint, wie es sein kann, dass die Grillen noch zirpen und die Welt sich nach allem noch dreht.
Als Atlas mit den Zähnen über meinen Hals streicht, schließe ich die Augen und stöhne leise auf. »Mehr«, flüstere ich und wenn ich nicht so berauscht von diesem Moment wäre, würde ich mich dafür schämen wie jämmerlich und kläglich meine Stimme sich anhört, aber spätestens als er mir sanft in den Hals beißt, vergesse ich wieder alles um mich herum.
Ich will schreien: mehr, mehr mehr! Ich will ihn näher an mich ziehen und ihn wieder küssen, ich will noch so viel tun, bis diese magische Nacht endet, aber im nächsten Moment nehme ich ein lautes Platschen neben uns wahr. Wasser spritzt mir ins Gesicht und ich schreie auf.
Mein Herz klopft mir so heftig gegen die Brust, dass ich glaube die Erde bebt. Ich spüre wie Atlas' Griff lockerer wird und auch ich lasse ihn instiktiv los. Als hätte uns jemand bei etwas erwischt, das wir nicht hätten tun dürfen. Und jetzt, wo der Nebel der Berauschung sich langsam in meinem Kopf löst, realisiere ich, dass wir genau das getan haben.
»Was war-«, fange ich an, als jemand plötzlich neben uns aus dem Wasser auftaucht. Ich zucke noch einmal zusammen. Mit einem fetten Grinsen im Gesicht wischt sich der Typ einmal über das Gesicht, dann schaut er an uns vorbei zum Ufer und brüllt: »Scheiße, war das geil!«
Nach einigen Sekunden erkenne ich den Typen wieder. Es ist der, der mich vorhin so unverschämt angesehen hat.
Ich drehe mich um und sehe, dass wir längst nicht mehr alleine sind. Am Ufer stehen mindestens ein dutzend betrunkene Leute. Einige von ihnen erkenne ich vom Lagerfeuer wieder.
Manche reißen sich noch die Klamotten vom Leib, während andere schon am Ufer stehen und gerade in den See springen wollen. Neben uns spritzt es im nächsten Moment von allen Seiten, als einer nach dem anderen ins Wasser springt.
Ich versuche das Gesicht abzuwenden und kneife die Augen zusammen, während die Panik in mir steigt. »Atlas? Atlas, wo-«
Zwei Hände berühren mich von hinten an der Taille und ziehen mich an einen Körper. Ich will schon schreien, denke, dass sich einer der schmierigen Typen an mir vergehen will, aber dann höre ich eine vertraue Stimme sagen: »Hier. Ich bin hier. Keine Angst.«
Oh Gott sei Dank.
Ich weiß nicht, was auf einmal los ist mit mir. Der Druck in meiner Brust steigt, fühlt sich an wie ein tonnenschweres Gewicht, das mich herunterziehen will. Ich will weinen, will mich einfach nur zu einer Kugel zusammenrollen und weinen. Die Tränen steigen mir in die Augen. Sie brennen. Ich versuche sie wegzublinzeln.
»Lass uns gehen. Ich will raus. Es sind zu viele...« Meine Stimme klingt hysterisch. Ich strampele wie wild mit den Beinen, als könnte ich jeden Augenblick ertrinken, was lächerlich ist, weil Atlas mich doch festhält, weil er doch gesagt hat, ich bräuchte keine Angst zu haben. Wenn Atlas sagt, dass ich keine Angst zu haben brauche, dann habe ich auch keine Angst. So einfach ist das.
»Ich weiß«, flüstert er an meinem Ohr. Er nimmt meine Hand in seine und drückt sie fest, dann schwimmt er zum Ufer und zieht mich hinter sich her.
Nachdem er mich aus dem See gezogen hat, rennen wir zu unseren Klamotten und ziehen sie uns über die nassen Körper. Keiner sagt etwas. Niemand sagt etwas über das, was eben passiert ist. Wir sehen uns nicht an. Wir berühren uns nicht mehr.
Ich will, dass er etwas sagt. Ich will etwas sagen. Aber gleichzeitig habe ich Angst davor. Ich habe schreckliche Angst davor.
Als ich mir mein Kleid wieder übergezogen habe, das mir nun wie eine zweite Haut am Körper klebt, und mir meine Tasche geschnappt habe, sehe ich Atlas an. Bevor ich es tue, weiß ich schon, dass das ein riesengroßer Fehler ist, aber so ist das. Mein Leben besteht aus Fehlern. Eine Aneinanderreihung von Fehlern.
Atlas steht angezogen vor mir und mustert mich bereits. In diesem Moment wünschte ich, ich hätte es gelassen. Ich wünschte, ich wäre einfach mit gesenktem Blick an ihm vorbeigestürmt. Ich hätte damit leben können, nie ein Wort über diese Nacht zu verlieren. Irgendwie hätte ich es bestimmt geschafft. Womit ich aber nicht leben kann, ist die Reue und das Bedauern in seinen Augen zu sehen. Nicht nachdem was eben passiert ist, nicht nachdem was ich eben gefühlt habe, was er mich fühlen lassen hat.
Ich hole mein Handy aus der Tasche und umklammere das Ding so fest, als könnte ich den Schmerz, den ich gerade spüre, damit lindern.
»Nora...« Atlas' Stimme, die Stimme, die ich sonst so liebe, ist alles, was ich in diesem Moment nicht hören möchte. Ich ertrage es nicht, sie zu hören. Nicht jetzt, nicht so. Ich will nicht, dass er mir sagt, dass er das, was eben passiert ist, bereut oder dass es nur ein Ausrutscher gewesen ist. Genauso gut könnte er mich jetzt schlagen oder mir das Herz aus der Brust reißen. Es würde nicht einmal halb so schmerzlich sein wie diese Worte.
Ich hebe die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen sage ich: »Nein. Sag nichts.« Ich drehe mich um und gehe.
»Nora!« ruft er mir hinterher, als ich an ihm vorbeigehe. Er greif nach meinem Arm, aber ich reiße mich auf der Stelle aus seinem Griff, bevor ich den zweiten großen Fehler für diese Nacht begehe.
Ich will nicht, dass er meine Tränen sieht. Also antworte ich, ohne mich noch einmal umzudrehen: »Ich rufe meine Mutter an. Sie wird wahrscheinlich in fünfzehn Minuten da sein, um uns abzuholen.«
Und dann renne ich los.
A/N:
Sooo, das war der letzte Teil der Lesenacht. Ich hoffe, es hat euch Spaß gemacht und die Kapitel haben euch gefallen. Wie gesagt, über Feedback freue ich mich immer sehr :)
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