28.
• Ruben - Lay By Me •
Kurz vor sieben steht Atlas vor meinem Haus. Ganz normal in Shorts und T-Shirt. Seine Haare stehen in alle Richtungen ab und seine Wangen sind vom Fahrradfahren gerötet.
Er lächelt mich an, als ich die Tür öffne. »Hey.«
»Selber hey«, antworte ich und fühle mich nervöser, als ich sollte.
Unruhig streiche ich den Stoff meines Kleides glatt. Fast automatisch folgen Atlas' Augen meiner Bewegung. Ich sehe, wie er mein gelbes, (für meine Verhältnisse) tief ausgeschnittenes Kleid betrachtet. Sein Blick scheint sich durch den Stoff zu bohren, denn mit einem Mal fühle ich mich splitterfasernackt.
Abwechselnd zupfe ich nervös am Ausschnitt und am Saum des Kleides, als könnte ich seinem Blick damit ausweichen, aber natürlich ist das lächerlich.
Als Atlas endlich wieder den Blick hebt und den Mund öffnet, schüttele ich hastig den Kopf, gehe auf ihn zu und lege ihm die Hand auf den Mund, bevor er auch nur einen Ton von sich geben kann. »Sag nichts. Bitte. Das ist mir schon peinlich genug.«
Er hebt die Brauen und als ich seinen Mund von meinem Griff befreie, sagt er: »Nein, ich wollte sagen, dass du-«
»Pschht.« Ich halte ihm wieder den Mund zu. »Ich weiß, ich weiß. Das Kleid steht mir nicht, ja? Ich hab stockartige Beine und«, ich deute mit den Händen mein Dekolté an, »hier ist auch nicht viel los. Das Kleid steht mir nicht. Ab morgen trage ich wieder Jeans und T-Shirt. Versprochen. Aber meine Mutter hätte mich sonst nicht aus dem Haus ge-«
Jetzt hält Atlas mir den Mund zu. Verwirrt blinzle ich, während auch meine Hand immer noch auf seinem Mund liegt. Gott, wie muss das denn bitte für Außenstehende aussehen?
Bitte lass niemanden zusehen. Vor allem nicht meine Eltern, bete ich still in mich hinein.
Ich sehe Atlas fragend an. Er nickt mit dem Kopf und wie auf Kommando lasse ich die Hand fallen. Er tut es mir gleich, dann umfasst er mein Kinn mit seinen Fingern, sanft und gleichzeitig bestimmt. Er hebt mein Gesicht an, so dass ich gezwungen bin, ihn direkt anzusehen. Seine Augen leuchten, schauen mich an, schauen so so tief in mich hinein, dass ich schreien will.
»Du bist schön. Hey, hör mir zu«, sagt er, als ich die Augen verdrehe und versuche, seinem Blick auszuweichen. Er zwingt mich, ihn anzusehen, dabei will ich alles, nur nicht in diese Augen sehen, die mich jedes Mal schwach werden lassen. »Gott, du bist so verdammt schön, Nora. Das schönste Mädchen, das ich kenne. Egal, ob du ein Kleid trägst, eine Jeans oder nur einen Kartoffelsack.« Er befeuchtet seine Lippen und sieht mir dabei fest in die Augen. Obwohl ich dagegen ankämpfe, rutscht mein Blick kurz zu seinem Mund, nur um ihn dann schnell wieder von ihm loszureißen.
Mit dem Daumen fährt er sanft über meine Wange, schiebt mir ein paar lose Strähnen hinter das Ohr. Er flüstert: »Ich wünschte, du könntest dich durch meine Augen sehen.«
Mir stockt der Atem.
Seine Worte. Dieser Blick in seinen Augen. Und dann ist er mir auch noch so nahe!, schreit eine hysterische Stimme in mir. Ich müsste mich nur auf die Zehenspitzen stellen...
Ich glaube, mir einzubilden so etwas wie Verlangen in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Ich glaube, mir einzubilden, dass er sich zu mir vorbeugt und die Lippen öffnet und dann-
»Nora!«
Die Tür wird hinter mir aufgerissen und ich höre meine Mutter wild nach Luft schnappen. Immer noch ein wenig benebelt drehe ich mich herum.
»Gut«, keucht sie, als wäre sie eben einen Marathon gelaufen. »Du bist noch da!«
Ich spüre, wie Atlas den Griff von mir löst und einen Schritt von mir zurücktritt. Es versetzt mir einen Herzstich, aber ich zwinge mich, ihn nicht anzusehen.
Sie hebt eine Hand an der meine Tasche baumelt. Eine Minute lang stehe ich einfach nur da. Mein Kopf immer noch benebelt von dem, was eben passiert ist - oder was ich mir eingebildet habe -, aber dann nehme ich sie ihr weg.
Mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht mustert sie Atlas und mich. »Habt viel Spaß ihr beiden!«
Gerade, als sie die Tür schließen will, scheint ihr noch etwas einzufallen. »Wenn es Alkohol geben wird«, sagt sie in einem Ton, der ganz deutlich verrät, dass sie weiß, dass es Alkohol geben wird, »dann ruft mich einfach an, ja? Ich will nicht, dass ihr mitten in der Nacht betrunken mit dem Fahrrad auf der Straße fahrt. Ich hole euch ab.«
Als wir die Treppen zu unserem Vorgarten hinabsteigen, sagt Atlas: »Ich vergesse immer wieder wie cool deine Mutter ist. Was hat sie eigentlich zu deinem Piercing gesagt?«
Ich beiße mir auf die Unterlippe. »Nichts.«
Er sieht mich an.
»Nein, wirklich. Im ersten Moment musste sie zwei Mal hinsehen, als sie mich gesehen hat, dann hat sie nur auf meine Nase gedeutet und gemeint: ›Schickes Ding‹. Später wollte mein Vater mir dann eine Standpauke halten, sein Gesicht war schon total rot, aber meine Mutter hat ihn zurückgehalten und den Kopf geschüttelt. Dann hab ich sie in der Küche leise tuscheln hören.«
Atlas zieht die Brauen verwirrt zusammen. »Und?«
Ich zucke nur mit den Schultern. »Keine Ahnung, was sie gesagt haben. Ich konnte sie nicht verstehen, aber wenn du mich fragst: meine Mutter vertritt irgendeine umgedrehte Psychologie, und junge junge, es funktioniert.«
»Wirklich?«, fragt er lachend. Er hebt sein Fahrrad auf, hält es fest, damit ich auf den Gepäckträger steigen kann aber das ist alles ziemlich kompliziert, wenn man ein Kleid trägt. Am Ende setze ich mich so hin, dass meine Beine auf einer Seite herunterbaumeln.
»Ja«, sage ich, während ich noch mit dem Kleid kämpfe. »Ich fühle mich schrecklich wegen der gefälschten Unterschrift. Mir wäre es besser gegangen, wenn sie mich einfach angeschrien hätten.«
Atlas schmunzelt, bevor er selbst aufs Fahrrad steigt und dann fahren wir los.
Ich halte mich an ihm fest, aber während der Fahrt reden wir kein einziges Wort miteinander und ich fühle mich elend. Immer zu muss ich über das nachdenken, was vor meinem Haus eben passiert ist und kriege dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf. Atlas, der sich zu mir vorbeugt und... Ja, und was? Wollte er mich küssen? Oder habe ich mir das alles nur eingebildet?
Sobald wir am Treffpunkt ankommen, springe ich vom Rad, als wäre mir plötzlich aufgefallen, dass ich auf heißen Kohlen sitze. Ich versuche, mir mein seltsames Verhalten nicht anmerken zu lassen und streiche mein Kleid glatt, während ich unauffällig zu Atlas herüberspähe, um zu sehen, ob er bemerkt hat, dass ich mich komisch benehme, aber er schiebt sein Fahrrad gerade zu einem nahegelegenen Gebüsch und lässt es dann fallen.
Betont lässig strecke ich die Arme in den dunkler werdenden Himmel. Das Wetter wird wieder besser, die Tage länger und die Nächte kürzer. »Tolles Wetter, oder?«, frage ich mit einem aufgesetzten Lächeln.
»Mmh«, macht er nur.
Falls ihm auffällt, dass ich gerade total neben der Spur bin, lässt er es sich jedenfalls nicht anmerken. Und das rechne ich ihm hoch an.
Atlas kommt zu mir. Er nimmt meine Hand in seine, als wäre alles ganz normal, als wäre alles wie immer, und geht dann weiter in Richtung des Feuers und der Musik. Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange. Warum kann er so tun, als wäre nichts passiert? Warum kann ich das nicht? Muss ich mich immer so blöd anstellen?
Ich lasse es zu, dass meine Finger die Wärme von Atlas' Hand aufsaugen, dass sie den festen, aber angenehmen Druck seiner Finger willkommen heißen.
Hör auf, so etwas zu denken, Nora!
Er zieht mich zu den anderen, die bereits in mehreren kleinen Gruppen um ein Lagerfeuer verstreut sind. Ich schaue mich um. Inzwischen ist es etwas dunkel geworden, aber einige Gesichter kann ich noch ausmachen und die meisten davon habe ich noch nie gesehen.
Wir kommen an ein paar Leuten vorbei, die Atlas begrüßen, ihm auf die Schulter klopfen und ein Bier in die Hand drücken. Einer von ihnen mustert mich neugierig, bevor er Atlas mit einem vielsagenden Grinsen ansieht. »Deine Freundin?«
Atlas schüttelt lachend den Kopf. »Nora ist nur eine Freundin.«
Ich lasse mir nicht anmerken, wie sehr mich das nur und eine Freundin verletzt.
Der Typ mustert mich wieder. Dieses Mal länger und offensichtlicher. Er hat lange Haare, die zu einem Dutt zusammengebunden sind und mehr Piercings im Gesicht als ich Finger an den Händen. »Also ist die Kleine noch zu haben?«
»Die Kleine steht direkt vor dir«, fauche ich, aber dann trete ich schnell hinter Atlas, als könnte ich mich damit unsichtbar machen. Plötzlich kommt mir die Idee mit dem Kleid noch viel dümmer vor. Mit meiner freien Hand ziehe ich an dem tiefen Ausschnitt.
Atlas drückt sanft meine Hand. »Lass die Finger von ihr, Phil«, höre ich ihn fauchen, woraufhin der Typ - Phil - lacht und beschwichtigend die Hände hebt. »Alles klar. Schon kapiert. Sie gehört dir, Kumpel.«
Ich kann Atlas' Gesicht nicht sehen, aber das brauche ich auch nicht. Mein Herz klopft auch so schon wie wild herum. Ich will etwas sagen. Etwas wie Danke oder Man, der ist wohl echt betrunken, was?, aber ich kriege kein Wort heraus.
Als Esther uns sieht, springt sie auf, ein Bier in der Hand. Sie trägt ein schwarzes, bauchfreies Top und knappe Jeans-Shorts. Ihre dunklen Haare hat sie sich zu einem Dutt zusammengebunden. »Da sind ja meine zuckersüßen Turteltäubchen«, lacht sie und als ich ihr einen vernichtenden Blick zuwerfe, lacht sie noch lauter. »War nur'n Späßchen. Also, kommt. Setzt euch.«
Als wir ihr durch die Menge folgen, sehe ich, wie Atlas sein Handy herausholt. Seine Augen hängen für einige Sekunden am Display, bevor er, einfach so, meine Hand loslässt. Ich sehe, wie er mit zusammengezogenen Augenbrauen auf seiner Unterlippe herumkaut.
Plötzlich interessiert mich brennend was in dieser Nachricht steht, die er scheinbar eben bekommen hat. Obwohl ich weiß, dass so etwas total uncool ist, versuche ich einen Blick auf das Display zu erhaschen, aber ich stelle mich dabei wohl so ungeschickt an, dass er es sofort bemerkt. Bevor ich etwas sagen kann, steckt er das Handy wieder weg und wendet das Gesicht von mir ab.
Esther schiebt uns beide in eine ruhigere Ecke, ein bisschen abgelegen von der lauten Musik und dem Feuer, aber nah genug, um immer noch etwas von der Wärme abzubekommen.
Sie deutet auf einen Baumstamm, dann setzt sie sich selbst hin, greift hinter sich und hält uns zwei Dosen Bier hin. Erst will ich ablehnen, aber als Atlas die Dose ohne zu zögern entgegen nimmt, greife auch ich zu.
»Und? Alles gut bei euch?«
Ich funkele sie zornig an, woraufhin sie hinterher schiebt: »Also nicht bei euch beiden zusammen, sondern einzeln. Also, damit meine ich: alles gut bei dir, Atlas? Und bei dir, Nora, auch alles gut?«
Atlas trinkt gerade von seinem Bier. Er hebt die Brauen und sieht Esther an, als hätte sie einen Dachschaden, und ganz ehrlich? Den hat sie auch.
»Alles gut... denke ich. Und bei dir?«
Esther grinst. »Alles super.« Sie beäugt Atlas und dann mich. »Manche von uns wollen später ein bisschen in den See. Ihr seid doch dabei, oder?« Sie zwinkert mir unauffällig zu, was in ihrem Fall ziemlich auffällig ist.
»Ich denke schon«, sage ich. Ich werfe Atlas einen Blick zu, der wieder von seinem Bier trinkt und dann am Verschluss nuschelt: »Warum nicht.«
Esther grinst. Ich weiß, dass sie wieder etwas Unanständiges sagen will, also trete ich ihr unauffällig gegen das Schienbein, bevor sie überhaupt den Mund aufmachen kann. Sie jault leise auf und reibt sich den Knochen. Tja, das hast du davon.
Sie atmet scharf aus und mustert uns dann beide. »Wisst ihr, was ich mich schon immer mal gefragt habe?«
»Wo eigentlich dein Ausschaltknopf ist?«, frage ich zuckersüß und nippe dann an meinem Bier. Atlas lacht und Esther verdreht nur die Augen: »Haha, du Witzbold. Und nein. Ich habe mich gefragt, wie ihr euch eigentlich kennengelernt habt.«
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