25.
• Billie Eilish - listen before i go •
»Hey, wach auf! Hallo?« Ich fuchtele wild mit den Armen vor Atlas' Gesicht herum, als ich seine flatternden Augenlider bemerke. Er blinzelt mehrmals, bevor er die Augenlider schließlich ganz aufschlägt.
Im ersten Moment ist sein Blick noch unfokussiert. Sein Kopf schwankt leicht zur Seite, als wäre ihm schwindelig, als würde alles um ihn herum sich drehen.
Ich berühre ihn sanft am Arm. »Alles okay?«
Er antwortet nicht.
Einige Sekunden verstreichen. Er schließt die Augen und öffnet sie wieder, nur um sie kurz darauf wieder zusammenzukneifen. Ich seufze, setze mich wieder hin und warte darauf, dass er sich beruhigt hat. Schließlich wird sein Blick wieder fester, als könnte er mich endlich richtig sehen, und er behält die Augen dieses Mal geöffnet.
Einen Moment lang wirkt er erleichtert, bis sein Blick auf meine Nase fällt und er den Kopf stöhnend zurückfallen lässt. Ich höre ihn zischend nach Luft schnappen, als sein Hinterkopf gegen den harten Steinboden knallt.
»Das war also doch kein Traum«, murmelt er nach einer Weile so leise, dass ich Mühe habe, ihn überhaupt zu verstehen. Dabei reibt er sich den verletzten Hinterkopf.
Eine Sekunde lang starre ich ihn einfach nur an, dann, als seine Worte mich endlich erreichen, muss ich lachen. »Nein, das war es nicht.«
Er stöhnt, als würden meine Worte ihn noch einmal verletzten, und reibt sich mit der Hand über das Gesicht. Ich beobachte ihn dabei stumm, warte auf das, was er als nächstes tut, aber er starrt einfach nur an die Decke, als würde er alles, nur nicht in mein Gesicht sehen wollen. »Ich kann nicht fassen, dass ich dafür die Schule geschwänzt habe.«
Es dauert, bis mir klar wird, was er gesagt hat und am liebsten würde ich wieder lachen. Wenigstens hält er mir keine Standpauke, sondern versucht meine Entscheidung, die in seinen Augen wohl die falsche gewesen ist, mit Humor zu nehmen.
»Hey, das ist eine echt coole Sache, verstanden?«, rufe ich gespielt empört und knuffe ihn sanft gegen den Arm. »Außerdem: wer konnte denn ahnen, dass du bei dem Anblick direkt umfällst?«
Er schüttelt den Kopf und setzt sich langsam auf, immer noch ein bisschen bleich im Gesicht, bevor er den Blick ungläubig an mich und mein neues Schmuckstück heftet. Als könnte er immer noch nicht fassen, dass ich das hier tatsächlich durchgezogen habe, als könnte er nicht fassen, dass wir beide die Schule geschwänzt haben, um mit einer gefälschten Einverständniserklärung meiner Eltern in ein Studio zu gehen und mir ein Piercing stechen zu lassen.
Vielleicht war das nicht die beste Idee, die ich je hatte - ja, das gebe ich zu. Und bestimmt war das auch ziemlich leichtsinnig und dumm, ich meine, ich kann das Ding ja wohl schlecht vor meinen Eltern verbergen, spätestens heute Abend beim Essen werden sie es sehen, aber darum mache ich mir noch keine Gedanken. Ich glaube, die Tatsache, dass ich ein Piercing habe, würde sie nicht mal sonderlich stören, sondern mehr das Wissen, dass ich ihre Unterschrift gefälscht habe. Aber daran will ich jetzt nicht denken.
Nachdem ich mich im Spiegel betrachtet habe, konnte ich nicht aufhören zu grinsen. Ich bereue diese Entscheidung auf keinen Fall.
»Hey, ihr beiden! Ich möchte euch nur ungerne rauswerfen, aber es warten noch weitere Kunden auf mich«, ruft uns der Typ, dem das Tattoo-Studio gehört, von vorne zu.
Ich stehe auf und ziehe Atlas, der sich nur langsam aufrappelt, vom Boden hoch. Er taumelt kurz, als er endlich auf den Beinen steht, aber dann hat er sich wieder und wir verlassen hastig das Studio.
»Weißt du was ich mich frage?«, rede ich leise vor mich hin, während Atlas und ich auf die Bushaltestelle zusteuern.
Ich bleibe vor jedem Schaufenster und jeder Tür stehen, um mich in ihrem spiegelnden Glas zu betrachten. Es fühlt sich seltsam an und obwohl der Anblick noch recht gewöhnungsbedürftig ist, liebe ich mein neues Schmuckstück. Hoffen wir mal, dass es meinen Eltern auch gefällt, denke ich und verziehe das Gesicht zu einer Grimasse, die aussieht, als hätte ich in einen sauren Apfel gebissen.
Ich wende den Blick von meinem reflektierten Spiegelbild ab und sehe Atlas an, der an der Wand neben mir lehnt. Den Kopf in den Nacken geworfen, starrt er nach oben. Irgendwann hat er es aufgegeben, mich von den Schaufenstern zu reißen.
Er atmet laut aus, als würde er meinen Blick spüren. »Was?«
Mein Blick fällt kurz auf die Menschen, die an uns vorbeilaufen, ohne uns wirklich zu sehen, dann sehe ich Atlas wieder an und deute auf seine Lippen. »Wie hast du dir das stechen lassen, ohne dabei bewusstlos zu werden?«
Atlas verzieht das Gesicht zu einem grimmigen Lächeln und zuckt mit den Schultern. »Es ist etwas anderes, sich ein Piercing stechen zu lassen oder jemand anderem dabei zuzusehen.« Ganz kurz werden seine Augen groß, als könnte er das Bild von eben wieder vor sich sehen und kurz befürchte ich, er könnte jeden Moment wieder bewusstlos umfallen, als er weiter spricht: »Ich meine, wie er das Ding plötzlich durch deine Nase... Das sah echt krank aus.« Er schüttelt sich bei der Erinnerung.
»Du kannst manchmal echt so 'ne richtige Memme sein«, gebe ich lachend von mir, als wir wieder nebeneinander herlaufen und ich mich dazu zwinge, vor dem nächsten Schaufenster nicht wieder stehenzubleiben.
Er stößt mich sanft in die Seite.
»Na los, gib's zu!«, rufe ich ein bisschen zu laut und euphorisch, sodass sich ein paar Leute zu uns drehen, also senke ich hastig die Stimme. »Ich bin vorher schon schön gewesen, aber jetzt, mit meinem neuen Septum, bin ich einfach nur unwiderstehlich.«
Er verdreht die Augen, aber dann betrachtet er mich wirklich. Es kommt mir so vor, als wäre es das erste Mal, dass er mein Gesicht richtig mustert, seit er auf dem Boden des Studios umgefallen ist.
Schließlich schaut er auf und begegnet meinem Blick. Ein schwaches Lächeln zupft an seinen Mundwinkeln, als er meine Aufregung zu erkennen scheint und er nickt. »Du siehst toll aus, Nora.« Und ich weiß einfach, dass er jedes Wort auch so meint.
Sekunden verstreichen, in denen keiner etwas sagt. Wir sehen uns einfach nur an, mitten in der Fußgängerzone, in der sich Menschen ungeduldig an uns vorbeidrängen. Mein Herz klopft wie wild. Aber ich weiß, dass sein Blick so etwas nicht mit mir tun sollte. Es sollte mir egal sein, dass das eisige Blau in ihnen zu glühen scheint, und auch, dass sein Blick immer wieder zu meinem Mund zuckt, als könnte er sich nicht davon losreißen und sich dann wieder ermahnen, es nicht zu tun.
»Ich weiß«, krächze ich schließlich, nur, um irgendetwas gesagt zu haben, und reiße den Blick von ihm. Das Strahlen, das mein Gesicht eine Sekunde später erhellt, kann ich mir jedoch nicht verkneifen. Ich will mir dieses blöde Flattern aus dem Bauch schlagen, will mir auf den Kopf hauen, damit ich aufhöre so dämlich vor mich hinzugrinsen, aber ich schaffe es nicht. Also sage ich, mit abgewandtem Blick: »Weißt du worauf ich jetzt Lust habe? Etwas zu Essen und einen Serien-Marathon.«
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Zwei Stunden später liegt mein Kopf auf Atlas' Schoß, während eine Schüssel mit gesüßtem Popcorn auf meinem Bauch thront, von dem wir beide uns abwechselnd bedienen, während wir die neuste Staffel von Game of Thrones schauen.
Atlas verzieht alle zwei Sekunden angewidert das Gesicht. Eigentlich steht er nicht auf solche Serien, aber ich habe ihm versprochen, dafür später mit ihm The Big Bang Theory zu schauen, was wiederum nicht so wirklich meins ist. Aber was tut man nicht für seinen besten Freund?
Atlas streicht mir durch die Haare, während er wie gebannt auf den Bildschirm starrt und nicht bemerkt, dass ich ihn ansehe, statt zum Fernseher hinzuschauen und obwohl ich mich seit einem Jahr auf diese verdammte Staffel freue, kann ich nicht aufhören, den Jungen zu betrachten, der über mir ragt. Mein Blick fällt auf den Mund, den er zu einem dünnen Strich verzogen hat und dann wieder auf sein Piercing.
Ich hebe meine Hand und berühre mein eigenes Piercing, das sich immer noch so unwirklich anfühlt in meinem Gesicht, aber dann ermahne ich mich, nicht damit herumzuspielen. Es könnte sich immer noch entzünden.
Plötzlich schaut Atlas vom Fernseher zu mir. Er runzelt die Stirn. »Alles okay?«, fragt er mit einem knappen Nicken in Richtung meines Piercings. Ich nicke. Und mit einem Mal bin ich mir seiner Nähe mehr als bewusst. Jetzt, wo sein Gesicht meinem so nah ist.
So wie vorhin in der Stadt schon fängt mein Herz wieder an wie wild zu klopfen. Als würde es in meiner Brust herumtoben und dabei rufen: Hey, beachte mich! Hey! Hier bin ich! Hallo! Am liebsten würde ich es festhalten und anschreien, mit diesem Unsinn aufzuhören. Das hier ist immer noch Atlas. Der Junge, den ich schon so lange kenne, den ich so sehr liebe, dass ich mir kein Leben mehr ohne ihn vorstellen will. Ich ertrage es nicht, wenn er mir den Rücken zukehrt und sich von mir abwendet, aber das wird passieren, wenn ich mich weiterhin so komisch in seiner Gegenwart verhalte.
Ich setze mich ruckartig auf, so ruckartig, dass mir kurz schwindelig ist und Atlas besorgt eine Hand auf meine Schulter legt, aber dann schrecke ich zurück und als er mich komisch ansieht, lache ich ein wenig unbeholfen und winke ab. »Alles gut. Mir... mir geht's gut. Ich muss nur... Ich gehe kurz...« Ich fuchtele mit den Armen in Richtung Bad und springe schneller auf, als er reagieren kann.
Eine Sekunde später sprinte ich ins Badezimmer und knalle die Tür hinter mir zu. Ich atme heftig ein und aus. Beruhige dich, Nora.
Ich bleibe noch einige Sekunden so stehen, an die Tür gepresst und nach Luft schnappend, als wäre ich einen Marathon gelaufen, bevor ich vortrete und zum Spiegel gehe. Ich betrachte mein Gesicht und habe das Gefühl, ich würde einem fremden Mädchen in die Augen sehen. Mein Gesicht wirkt irgendwie aufgeblasen, meine Lippen sind spröde vom vielen Herumkauen auf ihnen. Meine Wangen glühen in einem feurigen Rot, aber das ist wohl kein Wunder nach meinem Auftritt eben.
Verdammt, Nora, du benimmst dich lächerlich! Was ist nur in dich gefahren? Es ist schließlich nicht so, als wäre ich erst seit gestern in Atlas verliebt - nein, ich bin es schon mein ganzes Leben. Warum benehme ich mich also auf einmal so seltsam? Kann ich nicht einfach einen Schalter umlegen, von Liebe auf Freundschaft, und alles ist wieder normal?
Minuten verstreichen, während ich mein Spiegelbild anstarre und darüber nachdenke, was eben passiert ist, als es plötzlich an der Tür klopft.
»Nora? Nora, ist alles okay bei dir?«
Ich zucke heftig zusammen. Meine Finger klammern sich fester um das Waschbecken. »Ja«, rufe ich und hoffe, dass Atlas das Zittern meiner Stimme durch die dicke Holztür nicht wahrnimmt. »Ich komme gleich.«
Langsam beuge ich mich hinunter und klatsche mir ein bisschen eiskaltes Wasser ins Gesicht. Ich versuche, mein Piercing dabei nicht zu berühren.
Nachdem ich fertig bin, atme ich tief ein und aus und trockne mir vorsichtig das Gesicht ab, bevor ich schließlich wieder die Tür öffne.
Mir stockt der Atem, als ich Atlas direkt gegenüberstehe. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und mustert mich mit zusammengezogenen Brauen. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass er vor der Tür auf mich wartet und aus irgendeinem Grund macht mich diese Erkenntnis wütend. Wieso kümmert er sich immer so sehr um mich? Warum sieht er mich immer so an, als würde er nur mich sehen? Als würde er alles für mich tun? Wie soll ich es schaffen meine Gefühle wegzusperren, wenn er alles ist, was ich jemals wollte?
Ich will wütend an ihm vorbeimarschieren, aber nach nur einem halben Schritt hält Atlas mich an den Schultern fest. Er mustert mich aus seinen hellen, blauen Augen. »Ist wirklich alles okay? Du benimmst dich irgendwie komisch.«
Ich nicke. »Mir geht es gut. Ich bin nur müde von der ganzen Aufregung heute.«
Wieder betrachtet er mich kurz, als suche er etwas in meinem Gesicht, etwas, das mich verrät, etwas, das meine Lüge enttarnt. Als er nichts zu finden scheint, nickt er langsam, lässt mich los und tritt zurück. Er schaut auf seine Uhr. »Es ist spät. Ich muss los. Ist das okay für dich?«
Nein!, schreit eine böse Stimme in mir. Das ist absolut nicht okay für mich. Ich will, dass er bei mir bleibt. Ich will, dass wir uns wieder zusammen aufs Sofa kuscheln, von mir aus schaue ich so viele Folgen The Big Bang Theory mit ihm wie er möchte, das ist mir egal. Ich will einfach nur, dass er mich in seinen Armen hält, ich will seinen Atem in meinem Nacken spüren, ihn hinter mir bei jedem schlechten Witz lachen hören und will, dass seine Finger wieder unbewusst mit meinen Haaren spielen. So wie er es immer tut.
Obwohl ich all das und noch so viel mehr sagen möchte, höre ich mich am Ende nur leise antworten: »Ja, klar.«
Atlas mustert mich. Etwas in seinem Blick verrät mir, dass er mir nicht glaubt und irgendein lächerlicher Teil in mir macht sich die Hoffnung, dass ich all das, was ich denke gar nicht laut auszusprechen brauche, weil er mich nämlich lesen kann wie ein Buch.
Er seufzt leise, schließt die Augen und fährt sich durch die Haare, als würde er nachdenken, als würde er mit sich kämpfen. Mein Atem geht schneller, während ich darauf warte, was als nächstes passiert und als Atlas die Augen öffnet, halte ich augenblicklich den Atem an.
Er kommt auf mich zu. Seine Augen bohren sich in meine, als wir uns gegenüberstehen. Langsam hebt er die Hand, legt sie mir an den Hals. Im nächsten Augenblick beugt er sich vor und drückt mir einen Kuss auf die Stirn.
Als er sich wieder zurückzieht, bin ich kurz davor, die Arme um ihn zu schlingen, ihn an mich zu ziehen und zu küssen, aber bevor ich irgendetwas davon tun kann, öffnet er den Mund.
»Sorry«, flüstert er so leise, dass ich mir für einen Moment nicht sicher bin, ob ich mir dieses Wort nicht doch nur eingebildet habe. Ich kriege den Mund weder zu, noch bekomme ich einen Ton heraus. Alles was ich tun kann, ist, ihn anzustarren.
Er tritt einen Schritt zurück, mustert mich noch einmal kurz, seine Hand liegt immer noch warm und vertraut an meinem Hals, bevor er mir ein schwaches Lächeln zuwirft und verschwindet.
A/N:
Falls das hier überhaupt noch jemand liest: Tut mir soooo leid für das verdammt verdammt VERDAMMT späte Update. Irgendwie saß ich monatelang an diesem Kapitel und wusste einfach nicht, wie ich es füllen sollte. Jedes Mal habe ich es geöffnet, 1-2 Worte getippt und dann wieder die Lust und Idee verloren. Ich hoffe wirklich, das nächste Update bekomme ich schneller hin
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