
22.
• Radical Face - Welcome Home, Son •
Als ich das Lokal betrete, schrumpfe ich sofort in mich zusammen. Obwohl es erst gegen vier Uhr am Nachmittag ist, sitzen schon einige Männer vorne an der Bar, trinken und verfolgen ein Fußballspiel im Fernseher. Sie drehen alle nacheinander die Köpfe in meine Richtung, nachdem ich mich leise geräuspert habe.
»Hallo«, sage ich mit zittriger Stimme und nicke den Männern zu, bevor ich mit eingezogenem Kopf an ihnen und der Frau hinter der Theke vorbeilaufe, die gerade den Tisch wischt und mich kritisch beäugt.
»Hey«, ruft sie mir zu, bevor ich es mehr oder weniger unbemerkt an ihr vorbei schaffe. Wie eingefroren bleibe ich stehen, die Hände in den Jackentaschen vergraben. »Wie alt bist du, Mädchen?«
Mein Herz schlägt so doll in meinem Brustkorb, dass ich mir sicher bin, dass alle Welt es hören muss. Bumm, bumm, bumm.
Sie wird mich gleich rauswerfen. Ganz sicher. Und dann werde ich das Gespräch mit Yashar vergessen können. Wer weiß, vielleicht geht er nicht mehr ans Telefon, wenn ich versuche, ihn zu erreichen? Was ist, wenn das hier meine einzige Chance ist, um endlich die Karten auf den Tisch zu legen?
Energisch schüttele ich den Kopf. Hör verdammt nochmal auf so melodramatisch zu sein, Nora!
Ich hebe den Blick, sehe der einschüchternden Frau in die Augen und antworte mit bemüht fester Stimme: »Siebzehn, aber ich hatte sowieso nicht vor, irgendetwas zu bestellen. Nein, Moment, so war das nicht gemeint. Ich wollte nichts Alkoholisches bestellen. Eine Cola reicht oder eine... eine Apfelschorle.« Unter dem prüfenden Blick der Frau schrumpfe ich immer mehr zusammen. »...Wasser ist auch in Ordnung. Ein gutes, altes Wasser. Das reicht vollkommen.«
Ich befürchte schon, dass sie mich jeden Augenblick rauswirft, doch plötzlich weicht der harte Zug um ihren Mund und sie fängt an zu lachen. Sie wirft sich den Lappen, mit dem sie eben noch den Tresen abgewischt hat, über die Schulter und schlägt laut auf den Tisch, woraufhin ich erschrocken zusammenzucke. »Habt ihr das gehört, Männer? Die Kleine will ein gutes, altes Wasser.«
Auch die Männer fangen an zu lachen und mir fällt ein Stein vom Herzen. Lachen ist gut, denke ich. Lachen verbindet Menschen. Und das Lachen scheint zu bedeuten, dass ich bleiben darf. Jedenfalls hoffe ich das sehr.
Unsicher kratze ich mich am Hinterkopf, während ich die Männer und die Frau beobachte, die immer noch lachen. Auch mir entweicht ein kläglicher Laut, der eigentlich ein Lachen sein sollte, aber eher wie ein jämmerliches Wimmern klingt. Glücklicherweise scheint keiner mehr auf mich zu achten.
Einige Kneipen hier sind ab sechzehn, andere ab achtzehn. Als ich die Bar betreten habe, war ich mir nicht sicher, wie das hier geregelt wird, aber anscheinend ist das Glück heute ausnahmsweise mal auf meiner Seite.
Erleichtert atme ich auf, als ich sehe, dass sie mir ein Glas mit Wasser auffüllt. Schnell nehme ihr das Wasser ab, das sie mir mit einem amüsierten Grinsen hin hält.
»Geht aufs Haus, Mädchen«, meint sie und lacht daraufhin wieder. Ich zwinge mich ebenfalls zu einem Lächeln, als ich mich umdrehe und immer noch völlig verkrampft in Richtung Nische an ihr vorbeilaufe.
Es ist nicht schwer, Yashar zu finden, denn bis auf die Männer vorne, ist es vollkommen leer hier drinnen, was um diese Uhrzeit auch nicht wirklich verwunderlich ist.
Yashars braune Locken fallen mir sofort ins Auge. Sobald ich ihn sehe, springt mein Herz wie verrückt in meinem Brustkorb auf und ab. Ich hätte nicht gedacht, dass es jemals so wehtun würde, von ihm getrennt zu sein. Alleine ihn von hinten zu sehen, lässt meine Handflächen nass und meinen Mund trocken werden.
Ich nehme einen Schluck Wasser, um das trockene Gefühl im Hals loszuwerden und trete dann auf wackeligen Beinen vor.
»Hey«, sage ich leise, als ich auf den Platz ihm gegenüber rutsche.
Ich stelle mein Wasser auf dem Tisch ab und lasse den Rucksack neben mich fallen, bevor ich mir hastig ein paar lose Strähnen aus dem Gesicht wische.
Jedes Mal, wenn ich nervös bin, spiele ich unruhig mit meinen Haaren herum. Eine ziemlich blöde Eigenschaft, die ich mir unbedingt abgewöhnen muss.
Yashar schaut mich nicht einmal an, als er mich mit einem leisen »Hey« begrüßt. Er hat das Gesicht abgewendet, starrt irgendeinen Fleck an der Wand an, so, dass ich nur sein Profil betrachten kann.
Es ist seltsam zwischen uns. Selbst, als ich versuche, das gestrige Szenario noch einmal vor meinen Augen abzuspielen, kommt mir alles so surreal vor, als wäre all das niemals passiert, als hätte er nichts davon gesagt, als wäre alles noch beim Alten und das hier alles nur ein blöder Traum.
Ich schlucke die Tränen herunter, die sich einen Weg an die Oberfläche bahnen, und versuche, an das zu denken, was Atlas mir erzählt hat. Ich versuche, mir Yashars verletzten Ausdruck noch einmal vorzustellen, als er sich mir gegenüber geoutet hat und als ich ihn daraufhin aus meinem Zimmer verbannt habe.
Plötzlich kommt mir ein ganz dummer Gedanke.
»Ich bin hier, um mit dir zu reden. Es soll... es darf nicht so enden zwischen uns. Das bin ich dir schuldig. Das bist du mir schuldig.« Ich schiebe das Glas Wasser ein wenig zur Seite und lege die Hände auf dem Tisch übereinander. »Aber vorher will noch eins klarstellen. Obwohl du es bereits wissen solltest, sage ich es noch einmal, nur um sicherzugehen. Ich will nämlich nicht, dass zwischen uns irgendwelche Missverständnisse liegen.
Ich habe dich gestern nicht angeschrien und rausgeworfen, weil du mir gesagt hast, dass du schwul bist. Mich hat das gar nicht zu interessieren. Wen du liebst, hat niemanden zu interessieren, außer der Person, die du liebst und dir selbst. Niemand hat das Recht, dich deswegen zu hassen oder du verachten.« Ich atme tief ein und aus. »Ich bin... war wütend und verletzt, weil du mich angelogen hast, weil du mir etwas vorgespielt hast. Nur aus diesem Grund.«
Yashar hebt langsam den Blick, dreht das Gesicht aber immer noch nicht in meine Richtung. Es ist fast so, als rede ich gegen eine Wand. Ich habe mir so viele Sätze in Kopf überlegt und bin sie auf dem Weg mindestens ein dutzend Mal durchgegangen, aber jetzt, wo ich Yashar gegenübersitze und die Mauer sehe, die er zwischen uns aufgebaut hat, kommt mir alles, was ich sagen wollte, billig und lächerlich vor. Wie eine oberflächliche Rede, die ich aus einem Film oder Buch kopiert habe und jetzt einfach herunterrattere.
Ein dummes ›Ich bin für dich da, wenn du reden willst‹ oder ein geheucheltes ›Ich weiß wie du dich fühlst‹ - verdammt, nein, ich weiß nicht, wie Yashar sich fühlt. Ich weiß nicht, wie es ist, einen Vater zu haben, dem man es niemals recht machen kann, der einen als Boxsack benutzt und einem nur Hass entgegenbringt. Ich weiß nicht, wie es ist als Kind manipuliert zu werden und in dem Glauben aufzuwachsen, dass mit einem selbst etwas nicht stimmt, dass an seinen eigenen Gefühlen, an seinen ehrlichen und aufrichtigen Gefühlen etwas falsches sein soll. Ich weiß nicht, wie es ist, Gefühle zu verdrängen, wie es ist, wenn man sich sein Leben lang einredet, dass das, was man aus ganzem Herzen empfindet, schlecht sein soll. Ich weiß auch nicht, wie es ist, wenn man versucht, jemand anderes zu sein, nur um jemandem zu gefallen, dem man sowieso egal ist.
Und so egoistisch es auch klingt, ich will es auch nicht wissen, denn ich stelle es mir schrecklich vor.
»Sieh mich an, Yashar. Bitte«, sage ich leise. Mich überkommt auf einmal ein ungutes Gefühl, als er die Augen kurz schließt, tief ein und aus atmet und mich dann endlich ansieht. Als er das Gesicht in meine Richtung dreht, ziehe ich scharf die Luft ein. Neben einer Platzwunde auf der Lippe hat er ein blaues Auge.
Mein Mund klappt auf, nicht imstande, irgendetwas von mir zu geben. Yashar lacht und wendet das Gesicht wieder von mir ab. »Ich konnte nicht in die Schule kommen. Nicht so.« Er senkt den Blick, starrt in das Glas, das vor ihm auf dem Tisch steht. »Sie hätten Fragen gestellt. Zu viele Fragen. Irgendjemand hätte die Wahrheit herausgefunden.« Langsam hebt er wieder den Blick. Bernsteinfarbene Augen liegen auf mir und obwohl sie ruhig wirken, ist es, als würde hinter dieser gelassenen Fassade ein Feuer brennen.
Zum ersten Mal heute sieht er mir fest in die Augen. Er versucht nicht, meinem Blick auszuweichen, stattdessen hält er ihn fest, als er sagt: »Ich will nicht, dass jemand hier von erfährt, Nora. Versprich es mir.«
Ich schlucke. Ich will ihm so etwas nicht versprechen. Ich will ihm helfen. Aber ich weiß, ich muss es versprechen. Es steht mir nicht zu, mich gegen Yashars Entscheidung zu stellen.
Langsam lasse ich das Glas los, taste mit den Händen vor, bis ich sie schließlich auf seine lege. Er zuckt bei meiner Berührung ganz leicht zusammen, was ihm unangenehm zu sein scheint, also tue ich so, als hätte ich es nicht mitbekommen.
Ich schaue ihn an und lächle. »Ich verspreche es, Yashar«, sage ich leise. »Dein Geheimnis ist bei mir sicher.«
Er lächelt, aber es wirkt gequält.
»Wieso hat er es getan?«, frage ich und deute auf sein Gesicht. Ich streiche mit meinem Daumen ganz sanft über seinen Handrücken, als hätte ich Angst, ich könnte ihn mit meinen Berührungen verscheuchen.
Er atmet tief ein und aus und schüttelt den Kopf. »Es ist nicht wegen... nicht aus dem Grund, Nora. Er ist einfach schlecht drauf gewesen und hatte getrunken und ich kam gerade nach Hause. Ich hatte einen miesen Tag und keine Lust gehabt, mir seinen Müll anzuhören, da hat er plötzlich einfach zugeschlagen.«
Ich mustere Yashar, der nach Worten zu ringen scheint. Es ist seltsam, ihn so zu sehen. Eine Seite an ihm, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Den verirrten, verletzten Jungen, der einfach nicht weiter weiß.
Er zieht seine Hände zurück, lässt sie unter den Tisch gleiten, so dass ich sie nicht mehr sehen kann, und presst die Lippen aufeinander. »Er weiß es nicht. Ob du es glaubst oder nicht, ich hänge an meinem Leben. Ich will nicht, dass er... ich werde es ihm nicht sagen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Vielleicht in ein paar Jahren, wenn ich weggezogen bin. Wenn ich studiere oder eine Ausbildung anfange und endlich all das hinter mir lassen kann.« Er zögert und senkt dann wieder den Blick. »Vielleicht... vielleicht habe ich mich bis dahin an den Gedanken gewöhnt. Ich versuche es. Es fällt mir nicht leicht. Aber jetzt wo ich es dir erzählt habe... seit gestern... fühlt es sich realer an. Nicht mehr, nur wie ein Hirngespinst, sondern echt.«
»Das wäre toll, Yashar. Wirklich. Du verdienst ein besseres Leben. Und einen besseren Vater. Leider kann man sich seine Eltern nicht aussuchen, aber man kann sich aussuchen, wie und mit wem man den Rest seines Lebens verbringen will«, sage ich und lächle ihn aufmunternd an.»Dieser Jemand ist irgendwo da draußen und wartet nur darauf, dass er dich endlich findet.«
Yashar zuckt kaum merklich zusammen. Er muss sich anscheinend wirklich erst noch an den Gedanken gewöhnen, aber ich bin guter Dinge, dass er das schaffen wird. Er ist stark. Stärker, als er glaubt. Ich wünschte nur, er würde den mutigen und umwerfenden Jungen sehen, den ich in ihm sehe.
Er legt seine Hände wieder auf den Tisch, während er in sein leeres Glas starrt, als würde sich auf dessen Boden ein Film abspielen, der ihn an alte Zeiten erinnert. Ein trauriges Lächeln umspielt seinen Mund.
»Ich habe Atlas nie gemocht. Vom ersten Augenblick an, in dem ich ihn gesehen habe«, sagt Yashar plötzlich leise, starrt auf den Tisch und spielt mit dem Glas in seiner Hand herum. »Nicht, weil er mir was angetan hat, sondern, weil jedes Mal, wenn ich ihn gesehen habe, mein Herz wie wild zu klopfen begonnen hat. Jedes Mal, wenn ich ihn gesehen habe, dachte ich, wie schön er ist, dass er der schönste Mensch ist, den ich je gesehen habe. Mit jedem Tag wurde er in meinen Augen schöner. Und wenn er gelacht hat, Gott, Nora, ich hätte vermutlich getötet, um dieses Lachen zu hören.« Das Lächeln auf seinen Lippen fällt in sich zusammen, als er zu begreifen schien, was er da gesagt hatte.»Ich war so verwirrt. Alle Jungs in meiner Klasse redeten von irgendwelchen Mädchen, die sie gut fanden, aber ich konnte nie mitreden. Ein paar der Mädchen fand ich hübsch, aber das, was ich gefühlt habe, wenn ich Atlas angesehen habe, habe ich bei keinem anderen empfunden. Ich habe mich geschämt für meine Gefühle und Gedanken und ich wusste...« Er sieht mich an und schüttelt den Kopf. »Ich dachte, es wäre falsch. Ich wollte ihn küssen. Jedes Mal, wenn ich ihn gesehen habe, wollte ich diesen verdammten Mund küssen und dann habe ich mich selbst angewidert für diesen Gedanken.« Er fährt sich immer wieder durch die Haare. »Es war schrecklich. Als würde ich die Stimme meines Vaters in meinem Kopf hören, jedes Mal, wenn ich an diesen verfluchten Jungen gedacht habe. Ich habe gehört, wie er mich Schwuchtel oder Schwanzlutscher genannt hat. Wie angewidert und hasserfüllt er mich angesehen hat. Es hat... es hat mir Angst gemacht.«
Ich habe Yashar noch nie so viel auf einmal reden hören, aber es tut gut, zu sehen, dass er endlich den Mut gefasst hat, es jemandem zu erzählen. Das alles hat er schon viel zu lange mit sich herumgeschleppt. »Irgendwann hatte ich genug davon. Also habe ich den Mut gefasst und es getan. Ich habe Atlas geküsst. Es war nur ein kurzer Kuss, aber es war... unglaublich. Ich hatte gehofft, dass ich nach diesem Kuss endlich aufwache und merke wie widerwärtig und falsch meine Gefühle sind, aber es war ganz anders. Dieser Kuss hat alles nur noch schlimmer gemacht. Es war, als könnte ich ihn nicht mehr aus meinem Kopf bekommen.«
Ich taste meine Hand langsam voran, um zu sehen, ob Yashar seine wegzieht, aber er starrt sie nur an und schließlich lege ich meine Hand auf seine. Ganz langsam. »Was du fühlst, ist nicht falsch, Yashar. So etwas darfst du nicht denken. Niemals«, sage ich leise und drücke seine Hand. »Wie kann etwas so schönes wie Liebe falsch sein? Es ist egal, wen du liebst, solange du es von ganzem Herzen tust, solange es ehrlich und aufrichtig ist, kann es nicht falsch sein.«
»Ich weiß. Denke ich.« Er seufzt. »Es ist nicht einfach, das so hinzunehmen. Mein Vater hat immer versucht, mir einzureden, dass alles was anders ist, falsch ist. Und es ist immer noch seltsam, sich das endlich einzugestehen, wenn man diese Gefühle jahrelang verdrängt hat.«
»Liebst du ihn immer noch?«
Yashar weicht meinem Blick aus. Das versetzt mir einen Stich ins Herz. Ich drücke seine Hand noch einmal. Atlas scheint für Yashar jemand ganz besonderes zu sein und ich kann ihn vollkommen verstehen, denn auch mir bedeutet Atlas alles und obwohl ich das eine Zeit lang verdrängt habe, wird mir diese Tatsache auf einmal wieder bewusst.
»Ich habe noch eine Frage«, sage ich und rede weiter, ohne abzuwarten. »Von all diesen Mädchen an der Schule, die vermutlich alle Reihe gestanden hätten, um mit dir auszugehen und von denen mindestens drei Viertel aussehen wie zukünftige Models - wieso hast du dich für mich entschieden?«
Yashar sieht mich an, als hätte er fast schon mit so einer Frage gerechnet, und als würde er sie am liebsten ungeschehen machen. Unruhig kaut er auf seiner Unterlippe herum. Er sieht aus, als wäre er gerade lieber an jedem Ort auf diesem Planeten, nur nicht hier bei mir. Seine Reaktion verheißt nichts Gutes und ich fürchte mich jetzt schon vor seiner Antwort.
Langsam öffnet er den Mund, als wollte er antworten, scheint es sich dann aber wieder anders überlegt zu haben und schüttelt den Kopf. »Muss ich diese Frage wirklich beantworten?«
Verdutzt sehe ich ihn an.
»Ich will dich nicht verletzen, Nora. Und meine Antwort wäre sicherlich keine, die du dir erhoffst.« Er weicht meinem Blick wieder aus und reibt sich unruhig mit der Hand über den Nacken. »Ich weiß, wir können kein Paar mehr sein und vielleicht... vielleicht willst du nicht einmal mehr mit mir befreundet sein, ich würde es dir nicht verübeln, aber ein lächerlicher Teil von mir hofft immer noch, dass wir nach alldem hier Freunde sein können.«
Mein Magen dreht sich bei seinen Worten um. So gerne ich den Grund auch gewusst hätte, jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich es wirklich wissen will.
Ich blinzle mehrmals und versuche, meine Unsicherheit zu überspielen. Will ich es wissen? Auch, wenn es mich vermutlich verletzen wird? Ich muss nicht einmal eine Sekunde darüber nachdenken, denn ich weiß, was ich will. So sehr es auch wehtun wird, ich will nicht mein Leben lang an einer Lüge festhalten. An einer Liebe, die es nie gab. Jedenfalls nicht so, wie ich geglaubt habe.
Mit fester Stimme sage ich: »Ich will es wissen, Yashar. Was du jetzt sagst, wird nichts an meiner Entscheidung ändern. Egal, was zwischen uns vorgefallen ist und egal wie oft du dich auch daneben benommen hast, ich liebe dich. Das verschwindet nicht einfach von heute auf morgen. Denn ich kenne den Jungen, der unter all dieser Unsicherheit und Wut steckt. Ich kenne den liebenswerten und hilfsbereiten Yashar.« Ich lächle ihn an. »Wir bleiben Freunde. Verstanden? So leicht wirst du mich nicht los.«
Yashar lächelt, aber es wirkt immer noch verkrampft.
Seine Augen liegen auf mir, unruhig. Er legt seine Hände zu meiner eigenen Überraschung auf meine, bevor er tief Luft holt und schließlich erzählt: »Nachdem ich begriffen habe, was ich für Atlas empfinde und er mich nach dem Kuss zurückgewiesen hat, war ich einfach nur wütend. Natürlich war das dumm. Ich hätte nicht sauer sein dürfen. Ich hätte seine Gefühle akzeptieren müssen. Man bekommt nicht immer das, was man sich wünscht. Aber das habe ich damals nicht verstanden.« Er presst die Lippen kurz aufeinander und schließt für einige Sekunden die Augen, bevor er mich wieder ansieht. »Dann habe ich dich an seiner Seite gesehen. Tag für Tag. Überall. In der Mensa, in den Klassenräumen, auf der Pausenhalle, am Schließfach. Ihr habt so viel miteinander geredet und gelacht. Ich habe euch beobachtet, obwohl ich mich gezwungen habe, es nicht zu tun, obwohl ich mich dazu gezwungen habe, ihn zu vergessen. Aber ich konnte nicht aufhören damit. Sein Blick, wenn er dich angesehen hat... Er... Er hat dich angesehen, als würde er einfach nicht genug von deinem Anblick bekommen. Als wärst du das Schönste und Kostbarste, was er je gesehen hat.«
Yashar sieht mir in die Augen, aber er sieht aus, als würde er durch mich hindurch sehen. Als würde er die alte Nora wieder vor Augen sehen. Sein Mund steht leicht offen, während er einige Sekunden lang nichts sagt, doch plötzlich schüttelt er den Kopf und senkt den Blick wieder. »Ich habe dich gehasst. Nein, ich dachte, ich würde dich hassen. Vielleicht wollte ich es auch einfach. Ich wollte dich hassen, weil du der Mensch für ihn warst, der er für mich gewesen ist. Der Mensch, der ich für ihn sein wollte.«
Ich lache. »Da ist die Eifersucht aber mit dir durchgegangen, Yashar. Atlas und ich sind beste Freunde. Das weißt du doch.«
Yashar hebt die Brauen und sieht mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank, aber er geht nicht darauf ein. Stattdessen erzählt er weiter: »Ich habe dich nach einem Date gefragt, um Atlas eifersüchtig zu machen. Ich wollte ihn verletzen, damit er verstand, wie ich mich fühlte. Ich wollte ihm den Menschen nehmen, den er liebte. Und dann, als ich gemerkt habe, dass ich anfange dich zu mögen, als ich gemerkt habe, dass wir beide uns gut verstanden, dachte ich, ich könnte einen Schritt weitergehen und dein Freund werden, um Atlas und dich ein für alle mal voneinander zu trennen.« Er zieht seine Hand zurück, fährt sich immer wieder durch seine braunen Locken und weicht dabei meinem Blick aus. »Das war schrecklich von mir. Ich weiß es jetzt. Ich bin so blind vor Wut und Hass gewesen, dass ich die Schuld bei allem und jedem gesucht habe. So blind, dass ich gedacht habe, dass Atlas der Grund ist, wieso ich so fühle. Dass er mich verhext oder manipuliert hätte.«
Ich hätte gedacht, dass ich bei seinem Geständnis mehr fühlen würde. Dass mein Herz schmerzen würde, so, wie es gestern geschmerzt hat, aber da ist nichts. Es ist, als wäre da, wo eigentlich mein Herz schlagen sollte, gähnende Leere. Vielleicht habe ich mir so etwas schon gedacht, nachdem Atlas mir von ihrem Kuss erzählt hat. Vielleicht hat sich mein Körper schon auf so einen Schlag vorbereitet, aber vielleicht hat mein Kopf auch noch nicht wirklich begriffen, was er eben gesagt hat.
Yashar ist nur mit mir zusammen gekommen, um Atlas eins reinzuwürgen. Er hat mich benutzt, um jemand anderen zu verletzen.
Nicht, weil er mich gemocht hat. Nicht, weil er mich hübsch oder süß fand. Es hatte in erster Linie überhaupt nicht mit mir zutun. Ich war einfach nur mit Atlas befreundet und das ist der einzige Grund gewesen, wieso Yashar mich angesprochen hatte, wieso er mich überhaupt bemerkt hatte.
Wie betäubt sitze ich da. Ich erinnere mich an den Tag, an dem Yashar mich wie aus heiterem Himmel im Gang angesprochen hat. Wie verrückt mein Herz geklopft hat, so verrückt, dass ich dachte, es springt mir gleich aus dem Brustkorb und hüpft davon. Ich weiß noch, wie er gelächelt hat, so dass man seine Grübchen sah und wie ich dachte: wow, aus der Nähe sieht er sogar noch schöner aus.
Die Erinnerung an diesen Tag habe ich immer wie einen Schatz gehütet. Doch nun sehe ich unser Gespräch mit ganz anderen Augen. Jetzt, wo ich weiß, was der Grund gewesen ist, was seine Intention hinter all dem gewesen ist, erscheint mir diese Erinnerung wie ein Fluch. Ich will mich nicht daran erinnern, wie er an dem Spind neben meinem gelehnt hat, wie er meinen Namen zum ersten Mal laut ausgesprochen hat und wie er mich dabei angesehen hat. Ich will nicht daran denken, dass er all die Zeit, in der er mit mir gesprochen hat, nicht mich, sondern Atlas gesehen hat, dass er jedes Mal, wenn er meinen Namen gesagt hat, eigentlich seinen Namen dachte.
»Sag etwas«, flüstert Yashar verzweifelt. Ich spüre seinen Blick auf mir liegen, aber ich kann ihn nicht ansehen. »Bitte, du musst etwas sagen. Und wenn du mir sagst, dass du mich hasst, egal, aber rede mit mir, Nora. Ich flehe dich an.«
Wie eine Irre versuche ich zu atmen. Es ist, als koste es mich mit einem Mal unheimlich viel Kraft. Am liebsten würde ich aufspringen und hier verschwinden. Ich will an die frische Luft, brauche mehr Platz. Die Bar wird immer kleiner, immer enger.
Als Yashar seine Hand auf meine legt, kann ich sie nicht mehr länger zurückhalten. Die Tränen strömen über meine Wangen. Ein jämmerliches Wimmern entfährt mir, als ich versuche, meine Hand zurückzuziehen, aber er legt seine Finger um meine und hält mich davon ab, mich aus seinem Griff zu ziehen.
Schniefend wische ich mir mit dem Ärmel meiner freien Hand über die Augen. »Ich... ich habe dich geliebt. Ich habe dich wirklich geliebt. Und du... Du hast... Du hast mich nicht... Nicht einmal eine Sekunde lang...«
Yashar zuckt bei meinen Worten leicht zusammen, als hätte ich ihm soeben eine Ohrfeige verpasst, dabei hat er mir mit seinem Geständnis mindestens ein dutzend Ohrfeigen verpasst.
Ich will die Reue in seinen Augen sehen, aber ich schaffe es nicht, den Blick zu heben, um ihn anzuschauen.
»Nora«, sagt er leise, als würde es ihn zerreißen, meinen Namen laut auszusprechen. »Ich liebe dich auch. Ich habe dich geliebt, als ich dich besser kennen lernen durfte. Es ist nicht die Art von Liebe, die du vielleicht empfunden hast, aber sie ist da. Sie ist - wie hast du vorhin noch gesagt? - ehrlich und aufrichtig. Ich liebe dich. Wirklich. Ich liebe dich so sehr, dass der Gedanke, dich zu verlieren, unerträglich ist.«
Endlich schaffe ich es, den Blick zu heben. Mit tränen verschleierten Augen sehe ich zu ihm auf. Unsere Finger sind immer noch ineinander verschränkt, als wir uns über den Tisch hinweg ansehen.
Vielleicht sollte ich verletzter und wütender sein, vielleicht sollte ich ihm eine Szene machen und ihm sagen, dass ich nach Hause gehe, um über seine Worte nachzudenken und ihn dann anrufen, wenn ich alles verarbeitet habe, aber als ich ihm in die Augen sehe, Augen, die mich voller Hoffnung und Zuneigung anblicken, kann ich nicht anders, als seine Hand zu drücken. Mein Herz zieht sich zusammen bei seinem hilflosen Blick.
»Wirklich?«, frage ich leise.
Er lächelt und zum ersten Mal heute wirkt sein Lächeln echt. Nicht gezwungen oder verkrampft. Langsam beugt er sich vor und wischt mit seiner freien Hand die Tränen weg. »Wirklich, Nora.«
Und obwohl ich weiß, dass diese Liebe, von der er spricht, nicht die Art von Liebe ist, die ich mir immer zwischen uns vorgestellt habe, fühlt es sich trotzdem gut an.
Ich schniefe noch einmal, bevor ich mir mit dem Ärmel übers Gesicht wische und ihm wieder in die Augen sehe. Yashar sieht mich mit großen Augen an, fast, als stünde er unter Hochspannung. Ich öffne den Mund und frage leise: »Freunde?«
A/N:
Wow, das Kapitel ist länger geworden, als beabsichtigt war. 4000+ Wörter! Ich glaube, das ist ein neuer Rekord.
Aus reinem Interesse: Hättet ihr Yashar verziehen? Oder wie hättet ihr reagiert?
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