11.
• Ruelle ft. Fleurie - Carry You •
»Atlas, ich-«
»Nein, nicht«, unterbricht er mich. »Vergiss einfach, was ich eben gesagt habe.«
»Aber-«
»Nora, bitte.«
Ich will noch etwas sagen, es fühlt sich nicht richtig an dieses Thema unter den Teppich zu kehren, aber der flehende Blick in seinen Augen, hält mich davon ab, etwas zu erwidern. Schließlich nicke ich kaum merklich und dann ist es für einige Minuten wieder ganz leise zwischen uns.
Es gibt zwei verschiedene Arten von Stille. Zum einen gibt es diese unbewusste, angenehme Stille, in der man nebeneinander sitzen kann, nichts sagen muss und sich trotzdem wohl fühlt und dann gibt es noch diese peinliche, bedrückende Stille, in der man das Gefühl hat, etwas sagen zu müssen, aber nicht weiß was.
Die Stille, die in diesem Moment zwischen uns herrscht, gehört definitiv zur zweiten Sorte. Es ist unangenehm, als lägen so viele ungesagte Dinge zwischen uns, die sich keiner anzusprechen traut.
Irgendwo auf einem dieser vielen Balkone streiten sich zwei Leute, jedenfalls glaube ich, dass sie streiten, vielleicht unterhalten sie sich aber auch bloß lautstark. Das ist schwer einzuschätzen. Sie sprechen eine andere Sprache, vielleicht arabisch oder persisch, vielleicht auch türkisch, ich bin mir nicht sicher, aber es klingt auf jeden Fall nach etwas Orientalischem.
»Du bist wahrscheinlich schlecht drauf, weil ich dich einfach mitten in der Nacht hier raus bestellt habe«, sage ich irgendwann leise, lange nachdem die fremden Stimmen aufgehört haben zu streiten. Ich will Atlas nicht ansehen müssen, ich will nicht sehen, dass es ihn nervt, hier neben mir zu sitzen, obwohl er jetzt schon längst zu Hause sein könnte, denn das würde ein für alle mal beweisen, dass wir beide uns auseinander gelebt haben und das will ich einfach noch nicht akzeptieren. Ich kann es nicht akzeptieren.
Meine Unterlippe zittert, als ich meine Schuhspitze im Sand vergrabe.
Atlas sieht mich an, das spüre ich. Langsam hebe ich den Blick und schaue zurück. Überrascht mustert er mich, als suche er nach etwas in meinem Gesicht, bevor er antwortet: »Nein. Deshalb bin ich nicht schlecht drauf, Nora. Ich glaube, du bist sogar das beste was mir heute passiert ist.« Er zögert kurz. »Heute war einfach... beschissen. Das hat nichts mit dir zutun.«
»Willst du darüber reden? Ich weiß, ich rede gerne und viel, aber ich höre mindestens genauso gut zu«, sage ich, presse die Lippen aufeinander und tippe mit dem Finger gegen mein Ohr.
Er lächelt schwach. »Danke. Ich weiß das zu schätzen, aber ich will lieber nicht darüber reden.« Er sieht mich an und sein Lächeln verblasst, als er fast zögernd seine Hand ausstreckt. Für eine Sekunde sieht es aus, als wollte er sie zurückziehen, doch dann legt sich seine Hand auf meine und es ist, als könnte sie alles Böse und Schlechte von mir fernhalten. Er sieht mich unsicher an, als wäre er sich nicht sicher, ob es okay wäre, dass er seine Hand auf meine legt, doch dann nicke ich schwach und sein Blick wird fest.
»Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass mir die Sache mit Yashar leid tut, Nora. Und vielleicht macht mich das zu einem Arschloch, aber ich kann nicht so tun als ob.« Er atmet tief ein und aus. »Ich bin froh, dass du nicht mehr mit diesem Mistkerl zusammen bist.«
Das überrascht mich nicht. Atlas konnte Yashar noch nie ausstehen, aber wie kann man ihm das auch verübeln, nachdem Yashar ihm jahrelang das Leben zur Hölle gemacht hat?
Wahrscheinlich würde ich jeden anderen Menschen für diese Worte hassen, aber nicht Atlas. Er könnte mir mit einer Bratpfanne eins überziehen und ich würde ihn nicht hassen.
»Es fühlt sich schon irgendwie scheiße an, der Grund für eure Trennung zu sein und wenn du dich umentscheiden und doch zurück zu ihm gehen willst, dann halte ich dich nicht auf«, sagt er leise und drückt sanft meine Hand, »aber wenn du fest zu dieser Entscheidung stehst, dann kannst du auf mich zählen. Ich bin für dich da, Nora.« Er lächelt. »Yashar hat dich nicht verdient. Du bist viel zu gut für ihn.«
Yashar hat dich nicht verdient.
Wer hat mich dann verdient? Und wen habe ich verdient? Yashar verdient mich nicht und ich verdiene Atlas nicht. Dieser Gedanke macht mich traurig. Vielleicht verdienen wir die Menschen nicht, die wir mögen und müssen uns dann mit jemandem abgeben, von dem wir uns einreden, dass wir ihn lieben.
»Du hast auch jemand besseren verdient«, höre ich mich plötzlich sagen. »Du hast auch jemand besseren verdient als mich.« Jemanden, der immer hinter dir steht und dir nicht einfach ein Messer in den Rücken rammt, wenn du am wenigsten damit rechnest.
Atlas hebt überrascht die Brauen. »Was?«
»Ich habe dir wehgetan. Ich habe dich hintergangen. Ich habe mich auf die Seite des Menschens gestellt, der dir jahrelang das Leben zur Hölle gemacht hat, und das nur weil ich dazugehören wollte.« Ich zittere vor Wut, mein Griff um die Schaukel wird immer fester, bis sich meine Hände taub anfühlen. »Und du? Du bist so nett zu mir. Du bist immer so nett zu mir gewesen. Ich habe das nicht verdient.«
»Manchmal«, sagt er nach einigen Sekunden Stille, »wollen wir nicht das, was wir verdienen.«
Ich sehe ihn verständnislos an.
»Was wir verdienen und was wir wollen, das sind zwei komplett verschiedene Dinge. Vielleicht hat Yashar dich nicht verdient, aber du wolltest ihn. Und ich will... « Er sieht mich an und für einen Augenblick glaube ich, dass seine Augen dunkler werden. »Ich will dich.«
Mein Herz bleibt stehen. Ich meine, es bleibt wirklich stehen. Für ein, zwei Sekunden, habe ich das Gefühl, dass mir das Herz in die Hose rutscht und ich kann Atlas nur anstarren. Als mein Herz wieder zu klopfen beginnt, höre ich das Pochen sogar in meinen Ohren. Mein Mund öffnet und schließt sich wieder, ohne etwas zu sagen, wie bei einem Fisch.
Plötzlich färben sich Atlas' Wangen rosa und seine Ohren werden rot, was sie immer werden, wenn er nervös oder aufgeregt ist. Früher habe ich ihn deswegen immer aufgezogen, jetzt schaffe ich es nicht mal, den Mund zu öffnen und ich komme nicht drumherum, zu bemerken, wie süß es ist, dass seine Ohren in diesem Moment rot werden.
Er reibt sich nervös über den Nacken. Ob ihm erst jetzt auffällt, was er da eben gesagt hat? Atlas sieht aus, als suche er nach den richtigen Worten und ich bin erleichtert, dass er sucht, denn bei mir würde alles Suchen nichts bringen. Mein Kopf ist leergefegt.
»Ich will dich als Freundin.« Flop. Mein Herz setzt schon wieder aus. Will er, dass ich einen Herzinfarkt erleide? Wenn ja, ist er auf dem besten Weg dahin. Atlas scheint es noch schlimmer zu gehen, als mir. Er sucht fieberhaft nach den richtigen Worten und vergräbt sein Gesicht in den Händen. »Ich... ich meine freundschaftlich. Nicht als feste Freundin, sondern... scheiße. Was sage ich da? Versteh das bitte nicht falsch. Nicht, dass du nicht toll bist, Nora, du bist unglaublich. Das weißt du, oder? Klar weißt du das.« Atlas zieht scharf die Luft ein und hebt langsam wieder den Blick. »Ich will dich einfach nur als Freundin. Als eine gute Freundin. So, das meine ich.«
Er hält kurz die Luft an, als müsste er sich sammeln. »Und aus diesem Grund rede ich lieber erst gar nicht.« Er schüttelt den Kopf. »Ich gebe nur Müll von mir, sobald ich den Mund öffne.«
»Du hast keinen Müll von dir gegeben. Du hast das beste gesagt, was du in dieser Situation hättest sagen können.«
Atlas hebt ungläubig die Brauen. »Wirklich?«
»Naja, noch besser hätte mir gefallen: hier sind zwei Millionen Euro. Mach damit was du willst, sie gehören dir.«
Es zuckt um seine Mundwinkel. »Was denn, nur zwei Millionen? Seit wann bist du denn so bescheiden?«
»Ich bin ein einfacher Mensch, der sich mit einfachen Dingen zufrieden gibt.« Ich sehe ihn an und kann nicht anders als zu lächeln, während mir im selben Moment wieder die Tränen kommen. »Verdammt«, schniefe ich und wische mir übers Gesicht. »Tut mir leid, ich heule schon wieder rum. Ich glaube, ich bekomme meine Tage. Anders kann ich mir diese lästigen Tränen nicht erklären.«
Atlas lacht, als er seinen Arm um mich legt und mich an sich zieht. Unsere Schaukeln stoßen aneinander, als ich mein nasses Gesicht an seiner Schulter vergrabe.
»Du machst eine Trennung durch, Nora. Da ist es völlig normal, Tränen zu vergießen.«
Wir bleiben einige Minuten so sitzen, aber irgendwann wird die Position ziemlich ungemütlich und wir lösen uns wieder voneinander. Atlas mustert mein Gesicht, als wollte er sehen, ob sich noch irgendwo eine Träne versteckt, also wische ich mir schnell über das Gesicht und stehe langsam auf. »Ich muss nach Hause. Sonst reißt meine Mutter mir den Kopf ab.«
Er steht ebenfalls auf. »Dann lass uns gehen. Wir wollen ja nicht, dass deinem hübschen Kopf etwas passiert.«
Ich weiß nicht, ob ihm bewusst ist, was er da sagt, oder ob ich mir vielleicht nur einbilde, dass alles was Atlas heute Abend sagt so klingt, als würde er mit mir flirten, aber falls dem so ist, lässt er es sich nicht anmerken. Vielleicht will ich auch einfach nur glauben, dass er mit mir flirtet.
Mir steigt die Röte ins Gesicht, aber bevor ich etwas sagen könnte - auch, wenn ich keinen blassen Schimmer habe, was ich sagen sollte -, sagt er: »Ich bringe dich noch schnell nach Hause.« Er beugt sich nach unten, hebt seinen Rucksack auf und wirft ihn sich über die Schulter.
»Nein. Das musst du nicht. Du warst arbeiten und bist wahrscheinlich erschöpft. Außerdem wohnst du gleich hier. Du musst nicht diesen Umweg nehmen und mitkommen. Das wäre zu viel verlangt. Ich renne und wenn mich jemand entführt, labere ich ihn so lange voll, bis er mich freiwillig gehen lässt.«
Jetzt lacht Atlas. »Du hast dich kaum verändert.«
Ich sehe ihn empört an. »Hey! Ich habe mich sehr wohl verändert. Sehr sogar. Meine Brüste zum Beispiel«, sage ich und drücke sie zusammen, auch wenn man durch die Jacke nicht viel sieht, »die sind gewachsen. Siehst du? Und-«
»Bitte erspare mir die Einzelheiten.«
Ich sehe ihn an und als er grinst, muss ich anfangen zu lachen.
Wir laufen nebeneinander her und ich verschränke die Arme vor der Brust, während ich mir unruhig auf der Unterlippe herumkaue. »Findest du wirklich, dass ich mich kaum verändert habe?«, frage ich schließlich.
Atlas wirft mir einen Blick von der Seite zu. Ich drehe langsam den Kopf und sehe, wie er sich mit der Zunge die Lippen befeuchtet, die sich zu einem spitzbübischen Grinsen formen. Ich starre sein Zungenpiercing an, das für eine Millisekunde aufblitzt. »In manchen Dingen, ja. Aber das war ein Kompliment«, höre ich ihn sagen, aber da sind meine Gedanken schon wieder bei etwas anderem.
Meine Augen scannen seinen Hals ab und trotz der Dunkelheit kann ich wieder die dunklen Flecken sehen. In meinem Kopf rattert es, als ich darüber nachdenke, wer ihm das hätte antun können, doch dann bemerke ich neben den seltsamen Abdrücken noch andere. Ich erkenne sofort, was für Flecken das sind, denn Yashar hat mir selbst schon einige von ihnen verpasst. Knutschflecken.
Sofort erinnere ich mich an das hübsche Mädchen mit den kurzen, schwarzen Haaren, das ich immer mit Atlas in der Pausenhalle sitzen sehe. Ob sie ihm diese Knutschflecken verpasst hat? Ich beiße die Zähne zusammen, während ich versuche, das aufkeimende Gefühl in mir zu unterdrücken. Nein, das ist keine Eifersucht. Ich bin nicht eifersüchtig.
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