10.
• Sleeping At Last - Everywhere I Go •
Ich liege im Bett und starre meine Zimmerdecke an, während ich mit dem Fuß zum Tackt der Musik wippe. Meine Sicht ist unklar und mein Gesicht nass von den vielen Tränen. Mein Herz fühlt sich an, als hätte man es mir herausgerissen, wäre darauf herumgehüpft und hätte es dann wieder an seinen Platz gesteckt.
Wütend greife ich nach meinem MP3-Player und drehe die Musik lauter, aber egal wie laut ich sie auch aufdrehe, sie schafft es nicht, meine Gedanken zu übertönen und auch nicht, meine Tränen zu trocknen.
Irgendwann halte ich es nicht mehr aus, taste meinen Nachtschrank ab und hole mein Handy raus. Ich blinzle gegen das grelle Licht meines Dislpays. Keine neue Nachricht. Schniefend lege ich das Handy wieder zurück.
Ich will, dass du dich zwischen Atlas und mir entscheidest.
Die Haare raufend, stoße ich einen lauten Fluch aus. Vollidiot! Du bist ein verdammter Vollidiot, Yashar! Ich greife wieder nach meinem Handy, öffne meine Chats, auf der Suche nach einem ganz bestimmten Namen, und fange an zu tippen. Meine Finger zittern, weil ich so wütend bin, und ich brauche mehrere Anläufe, bis ich es hinbekomme, die Nachricht fehlerfrei zu verfassen.
können wir uns sehen?
Seine Antwort kommt schneller, als ich erwartet hätte.
Jetzt?! Wieso?
Ich seufze.
bitte. brauche jemanden zum reden. schaukel in 10 minuten.
Er antwortet nicht und ich hoffe, dass es bedeutet, dass er kommen wird. Ich weiß, was der alte Atlas in so einer Situation tun würde, aber mit dem jetzigen Atlas bewege ich mich auf dünnem Eis. Manchmal habe ich das Gefühl, ich könnte ihn einschätzen, dann wieder nicht. Es ist kompliziert.
Ich werfe einen kurzen Blick in den Spiegel und beschließe, nur eine Jacke überzuziehen. Den BH kann ich mir sparen und auch die Jogginghose lasse ich an. Es ist nur Atlas. Er hat mich schon in schlimmeren oder auch weniger Sachen gesehen.
Ich versuche noch schnell meine Haare zu zähmen, die zwar glatt sind, aber trotzdem gerne ihr Eigenleben führen, und renne dann die Treppe runter.
Meine Mutter steht unten und beobachtet mich, mit dem Fuß wippend, als ich mir die Schuhe binde. »Was glaubst du, wo du um diese Zeit hingeht?«
Ich wische mir mit dem Handrücken über mein nasses Gesicht und weiche ihrem Blick aus. Das letzte, was ich will, ist, dass meine Mutter mich jetzt so sieht. Ich will ihr nicht erklären müssen wieso ich weine. Also schiebe ich mein Handy in die Jackentasche, ziehe mir die Kapuze über und murmele: »Ich treffe mich nur kurz mit Atlas. Es ist wirklich wichtig. Mach dir keine Sorgen, ich bin bald wieder da.«
»Aber-«
»Mama, bitte. Atlas ist bei mir.« Ich greife nach der Türklinke und halte sie so fest, dass man meinen könnte, ich würde sie erwürgen wollen, und wer weiß, vielleicht muss die Klinke auch einfach nur für etwas, oder jemand anderen hinhalten, den ich in diesem Augenblick lieber erwürgen würde.
»Tschüss«, rufe ich über die Schulter, ohne noch einmal zurückzuschauen. Ich erspare mir den Anblick, den ich mir auch so schon bildlich vorstellen kann: Meine Mutter mit ihrem besorgten Blick. Sie hat sich schon früher Sorgen um Atlas gemacht, manchmal mehr als um mich.
Nachdem hinter mir die Tür ins Schloss fällt, bleibe ich kurz stehen, um mich zu beruhigen. Ich atme gierig die kalte Nachtluft ein, wie ein Raucher seinen Tabak, bevor ich mich schließlich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt mache. Ich hoffe nur, Atlas weiß, welche Schaukel ich meine.
Der Spielplatz, auf dem wir beide früher Stunden verbracht haben, liegt direkt im Hof der Plattenbausiedlung, in der Atlas lebt. Es ist nicht weit bis dahin, vielleicht fünf bis zehn Minuten Fußmarsch.
Ich ziehe die Kapuze tiefer ins Gesicht, als mir zwei Männer entgegen kommen und halte die Luft an, bis sie an mir vorbeilaufen. Für gewöhnlich bin ich nicht so paranoid, aber für gewöhnlich bin ich um diese Uhrzeit auch nicht alleine unterwegs. Es ist dunkel und die Straßen sind leer, bis auf ein paar vereinzelte Autos, die an mir vorbeifahren.
Als ich in die nächste Straße einbiege, sehe ich bereits den Spielplatz. Ich bin schon lange nicht mehr hier gewesen. Es fühlt sich seltsam an, hier zu sein und noch seltsamer, nachts hier zu sein.
Das erste und einzige Mal, als Atlas und ich nachts hier waren, war vor zwei Jahren, kurz vor unserem Streit. Es war eine schwüle Sommernacht. Ich erinnere mich noch gut daran. Wir haben ein paar ältere Jungs aus der Siedlung darum gebeten, uns Alkohol zu kaufen. Das war das erste Mal, dass wir uns betrunken haben.
Irgendwann, als wir schon ziemlich viel getrunken haben, haben wir angefangen, Wahrheit oder Pflicht zu spielen. Der Alkohol hat mich in ein kicherndes Etwas, ohne Hemmschwellen, verwandelt.
Ich werde diese Nacht wohl nie vergessen. Diese Nacht, die irgendwie der Anfang vom Ende war.
Hätten wir uns in dieser Nacht nicht betrunken, hätten wir nicht dieses lächerliche Spiel gespielt und hätte Atlas mir nicht gebeichtet, dass es diesen Kuss mit Mirjam in der siebten Klasse nie gegeben hätte und er noch nie ein Mädchen geküsst hätte, wäre vielleicht nichts von alldem passiert; mein betrunkenes, nicht ganz zurechnungsfähiges Hirn hätte sich nicht gedacht: Hey, ich bin auch noch ungeküsst! und Wie cool wäre es denn, wenn ich Atlas erster Kuss wäre und er meiner? und mein Mund hätte nicht laut ausgesprochen, was ich mich lange nicht zu sagen getraut habe. Ich will dich küssen. Vielleicht wäre Atlas' Blick dann nicht an meinen Lippen hängen geblieben, und vielleicht hätte er sich nicht langsam nach vorne gebeugt, mir ein letztes Mal kurz fragend in die Augen gesehen, und dann hätte sich sein Mund niemals, nie nie nie auf meinen gelegt.
Als wir kaum noch auf den Beinen stehen konnten, sind wir zu mir Nachhause getorkelt und durften uns dann von meinen Eltern eine ziemliche Standpauke anhören. Über den Kuss haben wir nie gesprochen. Es war wie ein stummes Abkommen zwischen uns.
Meine Augen scannen den Hof ab, als ich schließlich angekommen bin, aber Atlas ist noch nicht da. Langsam schlendere ich zu den Schaukeln rüber und setze mich hin.
Zehn Minuten später ist Atlas immer noch nicht da. Ich reibe meine Hände aneinander, um mich aufzuwärmen.
Als er fünf Minuten später immer noch nicht da ist, überlege ich, wieder zu gehen, doch gerade als ich aufstehen will, höre ich schnelle Schritte hinter mir. Mein Blut gefriert zu Eis und ich schaue mich panisch um. Scheiße. Vielleicht war es doch keine gute Idee so spät noch alleine rauszugehen. Mein Blick fällt auf die Hauswände, die vollgesprayt sind mit irgendwelchen Krakeleien, dann auf die auf dem Boden liegenden Bierflaschen, die in einer kleinen Hütte neben dem Spielplatz rumliegen. Das hier ist nicht gerade der sicherste Stadtteil und ich sitze hier nachts, alleine.
Die Schritte werden immer lauter, so wie das heftige Klopfen in meinem Brustkorb. Ich versuche mich kleiner zu machen, mich auf der Schaukel zusammenzurollen, in der Hoffnung dadurch unsichtbar zu sein, als ich plötzlich sein helles Haar erkenne, das unter dem Licht der Straßenlaterne schimmert. Er läuft auf mich zu und als er schließlich vor mir stehen bleibt, hält er sich am Gerüst fest und schnappt nach Luft. Seine Wangen sind knallrot.
Ich kann nicht anders als ihn anzustarren.
»Tut mir...« Er keucht. »Tut mir leid. Ich bin so schnell gerannt wie ich konnte.«
In meinem Bauch regt sich etwas. Es fühlt sich seltsam an, irgendwie leicht und warm und schön. Das verräterische Kribbeln in meinem Bauch ist nicht gut. Ich spüre förmlich, wie das Blut in mein Gesicht fließt, als mir klar wird, dass Atlas so außer Atem ist, weil er sich für mich beeilt hat.
Ein dämliches Grinsen macht sich in meinem Gesicht breit, und ich weiß, dass es dämlich aussehen muss, auch ohne es zu sehen, doch dann runzele ich verwirrt die Stirn. »Wieso kommst du denn aus der Richtung? Warst du nicht Zuhause?«
Atlas streicht sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht, kommt auf mich zu und setzt sich auf die freie Schaukel neben mir. Er kramt in seiner Tasche herum, während er den Kopf schüttelt. »Ich war noch arbeiten.« Und dann holt er etwas raus und hält es mir hin.
Ich senke den Blick und mein Herz setzt für einige Sekunden aus. Ungläubig blinzle ich, bis ich begreife, dass das wirklich passiert. Das ist kein Traum.
»Du hast mir Eis mitgebracht?«
Obwohl alles in mir dagegen ankämpft, spüre ich, wie mir heiße Tränen über die Wange fließen. Atlas lächelt. »Irgendwie hatte ich im Gefühl, dass du es brauchst, als ich deine Nachricht gelesen habe. Du isst immer noch gerne Eis, wenn du traurig bist, oder?«
Ich nicke langsam, während ich mir mit dem Saum meiner Jacke die Tränen wegwische. Er erinnert sich noch daran. Ich kann nicht fassen, dass er sich an diese unwichtige Kleinigkeit erinnert.
»Hier.« Er reicht mir einen Plastiklöffel.
»Danke«, bringe ich schniefend hervor und ich weiß selbst, wie schrecklich ich mich anhöre. Meine Nase ist vom vielen Weinen heute verstopft und die Tränen brennen in meinen Augen. Bis eben habe ich mich schrecklich gefühlt, aber jetzt mit diesem Eisbecher in der Hand geht es mir auf einmal viel besser und das hat absolut nichts mit dem Eis selbst zu tun.
Ich sehe unauffällig zur Seite und mustere Atlas, der leicht vor und zurückschaukelt. Er hat den Kopf in den Nacken gelegt und starrt in den dunklen Himmel, aber er scheint zu spüren, dass ich ihn beobachte, denn plötzlich sieht er mich an und als sich unsere Blicke kreuzen, schenkt er mir ein aufmunterndes Lächeln. »Es gibt nichts, was ein Becher Eis nicht wieder gutmachen kann, oder? Das waren deine Worte.«
»Wäre toll, wenn mein damaliges Ich Recht behalten würde«, antworte ich mit einem schwachen Lächeln.
Anscheinend ist mein damaliges Ich ziemlich weise gewesen, denn sobald ich den ersten Löffel in meinen Mund geschoben habe und spüre, wie das Eis langsam auf meiner Zunge schmilzt, habe ich das Gefühl, dass alles weniger scheiße ist als zuvor.
»Und?« Atlas mustert mich, nachdem ich den halben Becher leer gegessen habe.
Ich nicke. »Es geht mir schon viel besser.« Es ist kurz still zwischen uns, nichts ist zu hören, bis auf ein Baby, das irgendwo in einem dieser vielen Wohnungen schreit, und Musik, die aus einer anderen Wohnung dröhnt.
Ich löffle den letzten Rest Eis aus. »Woher hast du gewusst, dass ich traurig bin?«
Atlas antwortet nicht sofort und ich zähle die Sekunden bis er schließlich etwas sagt. »Ich weiß nicht, ich hatte es im Gefühl. Vielleicht kenne ich dich einfach zu gut, Nora.«
»Wir kennen uns schon lange nicht mehr«, sage ich und spüre einen stechenden Schmerz, als mir bewusst wird, was das wirklich bedeutet. Vermutlich ist es ziemlich egoistisch von mir, aber ich will alles über Atlas wissen, jede noch so unwichtige Kleinigkeit. Ich will alles nachholen, was ich verpasst habe.
»Du hast dich kaum verändert.«
Ich sehe ihn an. »Das habe ich auch über dich gedacht, Atlas. Und jetzt, sieh dich an.«
»Manchmal kann man sich nicht aussuchen, was aus einem wird.« Ein trauriges Lächeln schleicht sich auf seine Lippen.
Verwirrt runzele ich die Stirn. »Was meinst du damit?«
Er schüttelt den Kopf. »Egal. Nicht so wichtig.«
Gerne würde ich ihn fragen, nachhaken, aber ich spüre, dass das nicht der richtige Weg ist, um Atlas' Vertrauen zu gewinnen. Er sieht mich nicht an, starrt einfach nur auf den Boden, während er vor und zurückschaukelt und ich würde alles dafür geben, um jetzt seine Gedanken lesen zu können.
Ich beobachte Atlas' Profil, seine dunklen Wimpern, das graue Haar, das am Ansatz wieder dunkelbraun ist. Mir fällt auf, dass seine Hände zittern. Ob ihm kalt ist? Es ist zwar ein wenig kühl, aber er trägt eine Jacke und für Mitte September ist es noch recht warm.
»Wie geht es deinen Eltern?«, höre ich mich auf einmal fragen und beiße mir sofort auf die Innenseite meiner Wange.
Atlas sieht mich ungläubig an. »Wirklich jetzt, Nora? Du willst über meine Eltern reden?«
Ich zucke nur mit den Schultern, um mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich meine Frage bereue.
Er seufzt. »Es geht ihnen gut.«
»Das freut mich.« Atlas wirft mir einen seltsamen Blick zu und ich sage schnell: »Das tut es wirklich.«
Plötzlich bemerke ich etwas Seltsames an seinem Hals und beuge mich zu ihm vor. Atlas sieht stur nach vorne und bevor er erahnen kann, was ich vorhabe, hebe ich die Hand und berühre mit meine Finger die seltsamen Flecken, die an seinem Hals sind. »Was ist das?«, frage ich leise und fahre mit meinen Fingern sanft die roten Abdrücke nach.
Atlas zuckt zusammen, ob vor Schmerz oder Schock weiß ich nicht. Für einen Augenblick sieht er aus, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst: verletzlich und verwirrt, doch dann fällt ein Schatten über seine Augen. Es ist, als hätte ich einen Schalter umgelegt von dessen Existenz ich nichts gewusst habe. Er zieht die Jacke enger um sich und bedeckt mit dem Kragen seinen Hals. »Das ist nichts.« Er weicht meinem Blick aus und dann, bevor ich etwas sagen kann, fragt er: »Also, wieso bestellst du mich mitten in der Nacht hierhin?«
Ich könnte ihn dafür verfluchen, dass er einfach so das Thema wechselt, aber dann erinnere ich mich daran, dass wir schon lange keine Freunde mehr sind und ich nicht das Recht habe, sauer auf ihn zu sein. Also, atme ich tief ein und aus. Lange um den heißen Brei reden, wäre überflüssig, also versuche ich es mit der Pflaster-Methode: einmal schnell abziehen.
»Yashar und ich... wir haben uns getrennt.«
Es ist still. Atlas antwortet nicht sofort, aber dann höre ich, wie er laut die Luft einzieht. »Oh... wow.« Er hört sich ehrlich überrascht an. »Wieso?«
»Er hat mir heute ein Ultimatum gestellt und meinte, ich müsste mich zwischen dir und ihm entscheiden.« Ich lege meine Hand auf sein Bein und lächle ihn an. »Ich habe den Fehler schon einmal gemacht, mich für ihn und gegen dich zu entscheiden. Das war die bescheuertste Entscheidung meines Lebens. Und ich bereue sie heute noch.«
Ein trauriges Lächeln schleicht sich auf seine Lippen. »Das schöne Mädchen entscheidet sich doch immer für das Arschloch.«
»Was?«
Er schüttelt den Kopf. »Jungs wie ich haben am Ende keine Chance gegen Jungs wie Yashar.«
A/N:
Ich weiß echt nicht, was ich lieber schreibe. Die Bad-Boy (Reece und Alec hehe) oder die Good-Boy-Geschichten (Kyran und Atlas). Was lest ihr lieber?
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