23 - Die grüne Raupe hieß Sammy
„Ist der Tod deines Bruders der Grund, dass deine Mutter dich überall hinfährt?", fragt Simon und ich hebe überrascht meine Augenbrauen.
„Das ist dir aufgefallen?"
Er zuckt mit den Schultern und nickt.
Ich seufze und stütze meine Ellbogen auf meinen Knien ab. „Sie will sichergehen, dass mir nicht das Gleiche passiert. Es mag auf andere albern oder überbehütend wirken, aber mich stört es nicht. Ich bin einfach froh, dass sie wieder ein bisschen okay ist."
Simon starrt gedankenverloren vor sich hin und ich frage mich, woran er denkt. „Auf mich wirkt es toll", wispert er und ich runzle verwirrt meine Stirn.
Mir fällt ein, dass Shawn etwas über Simons Mom gesagt hatte. Dass sie einfach nicht da ist.
Jedoch kann ich ihn schlecht danach fragen. Niemand scheint davon zu wissen oder es zumindest nicht öffentlich anzusprechen.
Ich blicke auf den Boden zu meinen Füßen und rupfe einen Grashalm ab, um damit herumzuspielen. Mir fehlen die Worte und auch wenn es nicht unangenehm ist, schweigend auf einem Friedhof zu sitzen, habe ich dennoch das Gefühl, dass Simon noch nicht fertig ist mit dem Reden.
„Warum weiß keiner von der Sache mit deinem Bruder?", fragt er plötzlich und ich zucke mit den Schultern.
„Daphne weiß es", antworte ich und mache einen Knoten in den Grashalm. „Und die anderen haben es wohl einfach nicht mitbekommen. Es ist ja nicht hier passiert und ... ich wollte auch nicht darüber reden."
„Fehlt er dir?"
Ich presse meine Lippen fest aufeinander und nicke wortlos.
„Danke, dass du es mir erzählt hast", wispert Simon heiser und ich wende ihm meinen Kopf zu.
„Danke, dass es dir nicht leidtut", erwidere ich grinsend und kann ihm damit tatsächlich ein kleines Lächeln entlocken.
Einige Minuten sitzen wir nur schweigend nebeneinander, bis mir mit Erschrecken einfällt, dass ich ja eigentlich auf dem Weg ins Büro meines Dads war. Schnell stehe ich auf und reibe verlegen meine Hände aneinander. „Ich ... äh ... muss los."
Simon betrachtet mich überrascht, sein schöner Mund zu einem O geformt. „Äh ... klar, sorry."
Ich trete von einem Fuß auf den anderen, denn irgendwie habe ich das Bedürfnis, mich erklären zu müssen.
Wer lungert schon an einem Sonntagmittag auf einem Friedhof herum und muss dann plötzlich los?
Hilflos zeige ich mit dem Daumen zum Ausgang des Friedhofs. „Ich ... ich hab meinem Dad versprochen, dass ich ihm bei der Arbeit helfe."
Simons Augenbrauen heben sich und er nickt verständnisvoll. „Kenne ich", murmelt er.
Ich erinnere mich, dass Shawn mir erzählt hat, dass Simon und sein Vater an den Wochenenden offenbar Aushilfsjobs weit außerhalb unserer Stadt machen. „Äh ... echt?", stelle ich mich also ahnungslos.
Simons Blick huscht hin und her, ehe er sich von der Bank erhebt und seine Hände tief in den vorderen Hosentaschen seiner Jeans vergräbt. „Eigentlich hätte ich heute auch helfen sollen, aber ich hab gesagt, dass ich Footballtraining habe."
Ich mustere ihn interessiert, sage aber nichts.
Sein Fuß kickt auf dem Rasen nach winzigen Steinchen. „Normalerweise lüge ich ihn nicht an, aber dieser Traum ..."
„Hilft es dir, wenn du drüber redest?" biete ich an.
„Du musst doch zu deinem Dad." Er dreht den Kopf und schaut zu meinem Fahrrad, das am Zaun neben dem Friedhofseingang lehnt.
Ich zucke mit den Schultern. „Ich kann ja schieben und du gehst einfach ein Stück mit?", schlage ich vor.
Und so kommt es, dass Simon Donovan, der wahrgewordene Traum meiner schlaflosen Nächte, an diesem grauen Sonntagnachmittag neben mir die Straße am Friedhof entlanggeht, während ich mein Fahrrad schiebe.
Hätte mir jemand vor einer Woche gesagt, dass genau das passieren würde, dass ich gestern Abend sogar mit seinem Körper in meinem Bett gelegen und Filme geschaut habe und all das meinem verstorbenen Bruder zu verdanken ist, hätte ich diese Person für wahnsinnig erklärt.
Simons Hände sind noch immer in seinen Hosentaschen versteckt und er blickt beim Gehen auf seine Sneakers hinab, die nicht mehr strahlend weiß, aber auch kein altes No Name Modell sind. „Du denkst bestimmt, ich bin total bescheuert", murmelt er und ich schüttle den Kopf.
„Keine Sorge", lache ich. „Ich träume auch manchmal richtig abgefahrene Sachen."
„Ja? Was denn so?"
Oh Shit! Mit der Frage habe ich jetzt natürlich nicht gerechnet.
Verzweifelt krame ich in meinem Kopf nach einem merkwürdigen Traum, den ich mal hatte, aber natürlich geht es mir so wie fast jedem in solch einer Situation, ähnlich wie wenn man aufgefordert wird, einen Witz zu erzählen – es fällt einem nichts ein.
„Aber du lachst mich nicht aus, okay?"
Simon schmunzelt und schüttelt den Kopf.
Ich speichere das Bild für später in meiner Erinnerung ab. Zwar habe ich schon unzählige Bilder von einem lächelnden Simon darin, aber keins, wo das Lächeln mir gilt.
„Also, ich ... und ich war da noch im Kindergarten oder so, ja?", beginne ich und er lacht allen Ernstes richtig laut.
Ich liebe das Geräusch.
„Jetzt erzähl schon, Eric!"
„Wehe, du lachst", drohe ich ihm grinsend. „Ich war in einem großen Raum und musste an schwebenden Schubladen hochklettern."
Er hebt verwundert seine Augenbrauen. „Das ist alles?"
Ich gluckse leise vor mich hin und schüttle den Kopf. „Da waren zwei Raupen, eine grün und eine orange. Die grüne Raupe hieß Sammy."
Simon lacht erneut und nickt. „Sammy, die grüne Raupe also."
„Ich musste also diese Schubladen hochklettern", fahre ich kichernd fort. „Und dann hat mir die orange Raupe ein Bein abgebissen."
Simon bleibt abrupt stehen und starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. „Dein Ernst?"
Ich lache unbeholfen und lasse fast mein Fahrrad fallen, als er in schallendes Gelächter ausbricht und sich sogar den Bauch hält. „Mit dieser Wendung hätte ich gerade null gerechnet."
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