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Kim, mit der ich heute vorne arbeite, taucht mit ihrem Notizblock vor mir auf und hält ihn mir entgegen. »Bist du immel noch sauel auf Sascha?«
Stumm nicke ich, nehme den Block an und seufze leise. Eigentlich bin ich nicht sauer. Schon von Anfang an nicht, denn er kann nichts dafür. Trotzdem gebe ich ihm irgendwie die Schuld an dem Desaster im Park vor drei Tagen.
»Wann veltlagt ihl euch denn wiedel?«
»Wenn Pchela einsieht, dass ich nur helfen wollte«, brummt Sascha, der plötzlich neben mir auftaucht und den Geschirrkorb auf die Anrichte stellt.
»Es gibt einen Unterschied zwischen ›helfen‹ und ›einmischen‹«, murmele ich, woraufhin er einfach mit den Schultern zuckt und Kim kichert.
Während er wieder nach hinten verschwindet, zapfe ich das Bier und schiebe es meiner Kollegin über den Tresen. Anschließend sehe ich noch mal auf den Block, auf dem auch ein ›Moscow Mule‹ steht. Dieser Cocktail ist zum Glück einfach zu machen. Das bekomme selbst ich hin.
»Gehts Mandy inzwischen besser?«, frage ich die kleine Japanerin, um das Thema zu wechseln.
»Übelwiegend«, antwortet sie langsam und scheint kurz zu überlegen. »Abel sie wild wohl das Mädel nie wiedel sehen.«
»Das kann ich mir vorstellen ...«
Sich eine Lebensmittelvergiftung einzufangen, ist eh schon ärgerlich. Dem Date aber deshalb vor die Füße zu kotzen, ist wirklich unangenehm.
»Na ja ... sollte halt nicht sein«, meint Kim schulterzuckend, schnappt sich den ›Mule‹ und verschwindet wieder in der Menge.
Ich sehe ihr hinterher und nicke. Dabei habe ich Mandy die Daumen gedrückt, weil sie die Tage vor ihrem Date supernervös gewesen ist. Aber manchmal hat man scheinbar einfach Pech. Kurz zieht es in meiner Brust, dann schüttele ich den Kopf. Solche Gedanken darf ich nicht zulassen.
Hinter mir öffnet sich erneut die Schwingtür und diesmal ist es Vero, die hindurchkommt. Seit dem Drama mit Felix herrscht zwischen uns Funkstille. Was auch immer deren Vereinbarung gewesen ist, bleibt ein Geheimnis für mich. Zudem hängen ihre Worte nach wie vor zwischen uns, doch statt Klartext zu reden und mir zu sagen, was ich ihr angeblich weggenommen habe, entscheidet sie sich für Schweigen.
»Was?«, faucht sie plötzlich und mir wird bewusst, dass ich sie angestarrt habe.
»Nichts«, gebe ich zurück und sehe in den Raum rein. Die blöde Schnepfe kann mich mal. Auf der anderen Seite muss ich wohl oder übel mit ihr arbeiten, also schließe ich resigniert die Augen und atme tief ein. »Willst du am Tresen arbeiten?«, frage ich, so freundlich es mir möglich ist und blicke zurück in ihr Gesicht.
»Mir egal. Du machst doch eh, was du willst.«
Gut, dann eben nicht. Mehr als auf sie zugehen kann ich schließlich nicht. Schnell greife ich mir einen Block und ein Tablett und stürze mich ins Getümmel.
Die nächsten Stunden laufen ganz gut. Die meisten der Gäste verhalten sich angenehm, ich kann mich zwischendurch mit einigen unterhalten und die Arbeit macht Spaß.
Selbst als ich Goldlöckchen bedienen muss – der übrigens immer noch keinen Ring am Finger hat – macht mir das nichts aus. Er sitzt mit einigen Leuten am Tisch und sie sprechen sich über irgendwelche Finanzen. Da ich keinen von ihnen wiedererkenne, könnte es sich also um Geschäftspartner handeln. Immerhin trägt auch er einen Anzug, der nicht gerade günstig aussieht.
»Noch alles gut bei Ihnen?«, frage ich höflich, als ich wieder an dem Tisch vorbeikomme und sehe lächelnd in die Runde.
»Alles bestens, Honey«, sagt der Typ gegenüber Goldlöckchen, weshalb mein Lächeln einen kurzen Moment bröckelt. Irgendwas an seiner Tonlage ist mir nicht ganz geheuer.
»Super«, antworte ich zögerlich. »Einfach die Hand heben, falls ich noch was für Sie tun kann.«
Im Begriff mich umzudrehen, tut der Kerl genau das, weshalb ich innehalte und eine Augenbraue hebe. Dann wird er jedoch von dem neben sich angestoßen und lässt seine Hand wieder fallen. Komischer Vogel.
Um zu verhindern, dass er seine Meinung ändert, wende ich mich schnell ab und entdecke Kim vier Tische weiter. Sie balanciert ein randvolles Tablett mit schmutzigem Geschirr in der einen Hand und vier prall gefüllte Krüge in der anderen. Es sieht aus, als würde gleich eins davon zu Boden krachen. Schnell eile ich zu ihr und nehme ihr das Tablett ab.
»Danke ...«, flüstert sie und nickt kaum merklich, bevor sie den Gästen ein strahlendes Lächeln schenkt.
Ich mache mich auf den Weg zur Bar, als plötzlich ein lautes Klirren hinter mir erklingt. Erschrocken drehe ich mich zurück. Alle Gläser und ihr Inhalt liegen auf dem Boden verstreut. Doch das schockiert mich nicht so sehr, wie der Anblick meiner zitternden Kollegin.
»Alles okay?«, rufe ich besorgt, doch sie reagiert nicht. »Kim?«
Mit ein paar Schritten bin ich wieder bei ihr, stelle das Tablett auf den Tisch und betrachte ihr Gesicht. Sie zittert wie Espenlaub und ballt ihre Hände zu Fäusten.
Kurz darauf ist auch Sascha bei uns. »Alles okay?«, fragt er dieselbe Frage, doch ich kann nur mit den Schultern zucken.
»Bring Kim nach hinten«, weist er mich an, also berühre ich sie sanft und schiebe sie vorsichtig vor mir her.
»Vero, hol mal den Mopp«, ruft er und ich höre ihn die Gäste bitten, etwas Platz zu machen. Dann schließt die Küchentür hinter uns und das Stimmengewirr dringt nur noch gedämpft bis zu uns.
Wie Sascha es vor einer Weile bei mir gemacht hat, nehme ich Kims Hände und untersuche sie nach Scherben. Zum Glück ist alles unversehrt. Aber Kim selbst sieht gar nicht gut aus. Ihre eh schon helle Haut ist aschfahl und ihre Augen wirken leer. Als wäre sie gar nicht wirklich da.
»Kim?«, flüstere ich erneut und reibe zaghaft über ihre Oberarme.
Mit einem Mal erwacht sie zum Leben. Meine Kollegin springt zurück und reißt ihre Arme in die Luft. Panisch sieht sie sich um.
»Hey, Kim ...«
Ihre unruhigen Augen bleiben an mir haften und füllen sich sofort mit Tränen. Ohne Vorwarnung kommt sie zu mir zurück und umschlingt meinen Körper mit ihren zierlichen Armen. Immer wieder durchzuckt sie ein neuer Schluchzer, während ich ihre Umarmung erwidere und spüre, wie sie sich fest an mich klammert. Ihre Finger krallen sich in meine Bluse.
Ungeschickt klopfe ich ihr auf den Rücken und fühle mich furchtbar. Ich würde ihr gern helfen, weiß aber absolut nicht wie. Ich weiß ja nicht einmal, was los ist.
Ist das das Gefühl, das Sascha hat, wenn es mir schlecht geht? Ich muss mich unbedingt bei ihm entschuldigen.
»Kim?«, flüstere ich abermals und spüre, wie sie zusammenzuckt. »Kann ich irgendwas für dich tun?« Warum ist es so schwer, für jemanden da zu sein und das Richtige zu tun? Was ist überhaupt das Richtige? Ist das nicht für jeden etwas anderes?
»Ich ...«, wispert sie kaum hörbar und räuspert sich. »Ich ...« Langsam hebt sie den Kopf und sieht mich mit geschwollenen Augen an. »... Muss weg.«
»Was? Warum?«
Anstatt mir zu antworten, presst sie die Lippen aufeinander und schüttelt ihren Kopf.
»Jetzt gleich?«, frage ich weiter, da mir einfällt, wie sehr ich vor ein paar Wochen zu Felix wollte. Zu diesem Zeitpunkt hat mich auch niemand aufhalten können.
»Ich kann mit Sascha sprechen, wenn du möchtest?«, biete ich ihr an, doch sie schüttelt erneut den Kopf.
Verdammt, Kim sieht richtig verängstigt aus. Dabei ist mir absolut nichts aufgefallen. Keiner der Gäste stand vor ihr oder hat sich auffällig verhalten. Vielleicht habe ich es auch einfach nicht mitbekommen? Wie auch immer, ich kann sie nicht einfach an den Gästen vorbeischleusen.
»Was ist los?«
Beide blicken wir zu Sascha, der gerade durch die Küchentür tritt und mit Abstand zu uns stehen bleibt. Da Kim nicht antwortet, sage ich ebenfalls nichts und zucke nur mit den Schultern. Was sollte ich auch?
»Warum passiert so was eigentlich immer, wenn Piet nicht da ist?!«, brummt Sascha und seufzt leise. Seine Bemerkung lässt mich unwillkürlich schmunzeln. Der Arme hat wirklich ständig Probleme unseretwegen.
»Meinst du ...«, beginne ich und merke, wie meine Kollegin zitternd reagiert. »... Kim könnte den Rest der Schicht in der Küche bleiben?« Schnell blicke ich in ihr Gesicht. »Vorausgesetzt, das ist okay für dich?«
Sie blinzelt mehrfach, nickt dann aber.
Ich schaue zu Sascha, der abwechselnd zwischen meinem Gesicht und ihrem hin und herblickt. »Klar. Die Küche ist jetzt sowieso geschlossen und ich komm' einfach mit nach vorne.«
»Das ... das wüldet ihl fül mich tun?«
Erleichtert darüber, dass Kim endlich wieder einen ganzen Satz herausbekommt, nicke ich ebenfalls. Auch unser Kollege tut es mir gleich. »Du kannst schon mal aufräumen«, sagt Sascha und deutet hinter uns.
»Und später bringe ich dich nach Hause?«, schlage ich ihr vor, lächele sie an und freue mich, als sie es zaghaft erwidert.
»Danke ...«, haucht sie, lässt mich los und geht vorsichtig zu Sascha. »Dil auch.« Schnell legt sie die Arme um seinen Bauch, drückt ihn kurz und wischt sich dann die Tränen aus dem Gesicht. Anschließend stolpert sie zur Spüle und hebt den großen Topf hinein.
Sascha und ich tauschen erneut Blicke aus. Seiner wirft mir die stumme Frage zu, auf die ich immer noch keine Antwort habe. Ohne ein Wort zu verlieren, zeige ich auf die Tür und setze mich in Bewegung. Sascha folgt mir geräuschlos. Gemeinsam bleiben wir am Tresen stehen. Kurz linse ich durch das Bullauge und sehe, wie Kim sich ein weiteres Mal über die Wange wischt. So zerbrechlich kenne ich sie gar nicht.
»Du weißt wirklich nicht, was mit ihr los ist?«
»Nein«, antworte ich ehrlich. »Ich hab' nur mitbekommen, wie ihr die Gläser runtergefallen sind und in der Küche war sie sehr still.«
»Okay ...« Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht und seufzt leise. »Dann zurück an die Arbeit.«
Obwohl ich nicke, sind meine Gedanken weiterhin bei Kim und die restliche Schicht zieht sich wie Kaugummi. Ich bediene mehrmals den Tisch, an dem ich Kim das Tablett angenommen habe, finde jedoch nichts Auffälliges. Die Gruppe besteht aus drei Frauen und zwei Männern; ob es dieselben Gäste wie zuvor sind, weiß ich nicht.
Letztendlich bringt das Grübeln nichts. Kim wird erst reden, wenn sie bereit dazu ist. Das Einzige, was ich für sie tun kann, ist da zu sein, wenn es so weit ist.
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