~21~
Mit einem kräftigen Pusten versuche ich erneut, eine Haarsträhne aus meinem Gesicht zu befördern. Eigentlich sollte ich mich auf die Zahlen vor mir konzentrieren, doch das fällt mir seit einiger Zeit schwer. Die ganze Woche über habe ich versucht, mein Gespräch mit Piet aus meinen Gedanken zu verbannen und alles andere auszublenden, um mich besser fokussieren zu können. Doch so langsam wird es immer schwieriger für mich.
»Bist du noch dran, Jamie?«
»Ja ... ich ... bitte entschuldige.« Ein Seufzer entweicht mir, während ich den Zettel in meiner Hand näher an mein Gesicht halte. Was übersehe ich nur?
»Wenn es dir hilft, können wir auch auflegen.«
Ich blinzele, lasse das Blatt sinken und kaue nervös auf meiner Unterlippe. Logisch betrachtet wäre das die beste Option, aber ... »Wir haben uns diese Woche nicht einmal gesehen ... lass uns zumindest noch ein paar Minuten telefonieren ...« Kam das gerade wirklich aus meinem Mund?!
Davids Lachen erfüllt mein Wohnzimmer und sorgt dafür, dass mir warm wird. »An mir soll's nicht scheitern. Wobei ich ja immer noch sagen muss, dass ich dich lieber sehen würde.«
»Ja ... ich dich auch.« Wieder knabbere ich an meiner Lippe und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen.
Die meisten von Piets Unterlagen liegen ordentlich sortiert in meinem Wohnzimmer. Nur die des Steuerberaters habe ich erst gestern Nachmittag bekommen und bin ehrlich gesagt schockiert über so viel Inkompetenz. Die Dokumentation ist ein einziges Chaos und eine Fristverlängerung werde ich vermutlich nicht mehr durchsetzen können. Verdammt! Warum hat Piet mich nicht früher gefragt?!
»Und was würdest du machen, wenn ich jetzt bei dir wäre?«
»Mhh ...« Ohne es zu wollen, werden meine Ohren heiß. Gestern habe ich David dieselbe Frage gestellt und seine Antwort hat mich mehr als nur rot werden lassen. Dabei waren seine Beschreibungen nicht einmal intim. Doch allein der Gedanke an seine Finger auf meiner Haut ... »Also ...« Mist! Was soll ich jetzt sagen? Klar sind da genug Vorstellungen in meinem Kopf, aber ich kann ihm doch nicht davon erzählen! Ist das alles nur so ausgeprägt, weil wir uns in den letzten Tagen nicht gesehen haben? Was ist plötzlich mit mir los?!
»Jamie?« Erneut höre ich sein leises Lachen. Ihm ist also wieder einmal bewusst, wie überfordert ich bin. Großartig.
Während ich meine Augen schließe, sammele ich all meinen Mut. »Mich an dich kuscheln«, flüstere ich leise. Okay, das war jetzt mal so gar nicht mutig. »Und dich nicht mehr loslassen«, füge ich deshalb etwas deutlich hinzu, bin aber auch damit nicht zufrieden. Ich klinge wie ein Teenie.
»Und was noch?«
»Das wüsstest du wohl gerne, was?«
»Oh ja, bitte.« Seine belustigte Stimme, die einen Hauch von Erwartung hat, macht mich langsam unruhig und weckt meinen Kampfgeist. Aber das hält nur kurz, eben weil er nicht bei mir ist und mir klar wird, wie dämlich ich mich eigentlich verhalte.
Frustriert puste ich meine Wangen auf. »Tja ... mir würde bestimmt noch einiges einfallen ... aber du bist ja nicht hier. Also wird daraus nichts.«
Diesmal lacht er laut auf, stoppt aber kurz darauf, als würde er versuchen, es zu unterdrücken.
»Du bist echt fies, weißt du das?«, sage ich angefressen und höre ein Geräusch, das ich nicht ganz einordnen kann.
»Ich?« Wie schafft man es eigentlich, gleichzeitig amüsiert und empört zu klingen? »Bist du nicht diejenige, die meine Fantasie am langen Arm verhungern lässt? Ich habe dir gestern zumindest ...« Obwohl er den Rest des Satzes in der Luft hängen lässt und auch irgendwie recht hat, entkommt mir ein Schnauben, was ihn offensichtlich noch mehr erheitert. »Gott, bist du süß.«
»Ja ja ...«
»›Nicht mehr loslassen‹ klingt übrigens gut. Wir könnten uns auf deine Couch kuscheln und ich würde darauf achten, dass du ein bisschen Schlaf nachholst.«
Daran habe ich ehrlich gesagt gar nicht gedacht, bleibe aber stumm. Seit Sascha ihm gestern gepetzt hat, dass ich aussehe wie ein Zombie, macht er sich übermäßig Sorgen – dabei endet die Frist sowieso morgen. Ab dann bekomme ich auch wieder genug Erholung. Zumindest fast. Leider hatte David ebenfalls recht mit seinen Bemerkungen über die Erinnerungen.
Die schönen Momente tauchen nur als flüchtige Fetzen auf und verschwinden wieder, bevor ich sie richtig erfassen kann. Diejenigen hingegen, die mich schweißgebadet aus dem Schlaf reißen, sind deutlich präsenter.
»Jamie?« Verdammt! Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht einmal weiß, ob er vorher schon etwas gesagt hat! »Bist du etwa eingeschlafen?«
»N-nein! Ich ... ähm ...« So ein Mist! Seufzend reibe ich mir über die Augen. »An dich gekuschelt zu schlafen, hätte was ...«
»Ja?«
»Mhm.«
»Na dann, mach die Tür auf.«
»Hä?« Verwirrt runzele ich die Stirn und höre erneut sein kehliges Lachen. Mein Blick wandert in Richtung Flur. »Sag mir nicht ...« Ich stocke, weil mein Gehirn nicht verarbeiten will, was er gerade gesagt hat.
»Wenn es dir lieber ist, kann ich auch wieder geh...«
»Auf keinen Fall!« Ich lasse mein Handy fallen, springe auf und renne zur Wohnungstür, die ich mit Schwung aufreiße. Und tatsächlich: Da steht er. Mit einem schiefen Grinsen und den Händen in den Hosentaschen sieht er aus wie ein kleiner Junge, dem gerade ein genialer Streich gelungen ist.
Kurz blinzele ich, weil sich eines der Bilder von früher vor mein inneres Auge schiebt. Um es zu vertreiben, schüttele ich den Kopf, überwinde die zwei Schritte und ziehe ihn sanft zu mir runter. Kaum treffen sich unsere Lippen, seufze ich erleichtert auf.
»Wow ...«, murmelt er, nachdem wir uns wieder voneinander gelöst haben. »Wenn ich jedes Mal so begrüßt werde, tauche ich ab jetzt öfter unangekündigt bei dir auf.«
»Untersteh dich.« Ich hebe meinen Zeigefinger, kann aber nicht anders als zu lachen. Außerdem hätte ich sowieso nichts dagegen. O Mann, irgendwas stimmt mit mir eindeutig nicht!
Er lenkt mich von diesen Gedanken ab, indem er seine Finger unter mein Kinn legt und mich erneut küsst. Das Kribbeln, das sofort durch mich hindurch schießt, gibt mir auf seltsame Weise Sicherheit und erstickt meine Angst vor den Erinnerungen.
»Wollen wir reingehen?«, flüstert er an meinen Lippen und streicht über meinen Rücken, was mir eine Gänsehaut über den Körper jagt.
Ich nicke und trete einen Schritt zurück. »Wo hast du DJ gelassen? Er ist doch diese Woche bei dir.«
»Richtig. Aber Onkel Sascha hat angeboten, ein paar Stunden aufzupassen.« Er zwinkert mir zu und zieht mich wieder an sich, kaum dass er die Schuhe ausgezogen hat. »Also, wie war das noch gleich mit dem ›nicht loslassen‹?«
»Witzbold. Dann musst du mich wohl ins Wohnzimmer tragen.«
»Nichts leichter als das.« Ohne Vorwarnung hebt er mich hoch, sodass ich plötzlich in seinen Armen liege.
»Oh Gott, David!« Lachend zappele ich rum, doch das scheint ihn kein bisschen zu stören. Seine Arme sind fest um meinen Körper geschlungen.
»Lass mich wieder runter!« Ganz ehrlich fühle ich mich wie in einem dieser schnulzigen Filme, die ich so verabscheue – gleichzeitig ist es aber auch irgendwie süß. Moment ... ›süß‹?! Verdammt! Ich habe eindeutig viel zu wenig Schlaf diese Woche gehabt!
Vor meinem Couchtisch bleibt er stehen und mustert das Chaos, das sich dort ausgebreitet hat. »Wo liegt nochmal das Problem?« Langsam lässt er mich auf meine Füße gleiten.
»Es geht um die Buchungen vom Steuerberater. Einige Dinge ergeben einfach keinen Sinn, aber irgendwie ...« Ich zucke mit den Schultern und atme tief aus.
»Hast du das alles schon durchgesehen?« Er deutet auf die Stapel am Boden und ich nicke. »Und das hier?« Diesmal zeigt er auf den Tisch. »Das ist noch offen?«
»Genau.« Und eigentlich müsste ich dringend weitermachen, aber jetzt bringt es gerade eh nichts. Davids Duft umhüllt mich und erstickt jeden rationalen Gedanken im Keim. Ich kann immer noch nicht fassen, dass er tatsächlich hier ist. Die ganze Woche über habe ich mir gewünscht, ihn zu sehen – selbst wenn es nur für ein oder zwei Stunden wäre. Verdammt, manchmal fühlte es sich an, als wäre er meine Droge und ich auf Entzug. Mann, ist das peinlich!
»Vorschlag«, murmelt er und schaut auf seine Uhr. »Du schläfst zwei Stunden, während ich mir in der Zeit die Unterlagen anschaue. Vermutlich bist du gerade einfach fehlerblind, weil du dich seit Tagen mit nichts anderem beschäftigst.«
Es ist echt faszinierend, wie gelassen David damit umgeht, dass ich studiert habe. Im Gegensatz zu Felix stört es ihn kein bisschen, dass ich nicht in meinem vorgesehenen Beruf arbeite. Er wollte nur wissen, was mir mehr Spaß macht. Trotzdem kann ich seinen Vorschlag nicht annehmen.
»Hm ... also mal abgesehen davon, dass ich gerne etwas mit dir machen würde, wenn du schon da bist ... weiß ich wirklich nicht, ob Piet das so witzig findet. Du arbeitest immerhin für die Bank, deren Kredite er bezahlen muss.«
Sein Blick wandert zu mir und ich sehe ein Schmunzeln auf seinen Lippen entstehen. »Würdest du das gerne? Dann verrat mir mal genau, was du im Sinn hast.«
Sofort werde ich wieder rot. In den letzten Tagen hat sich irgendetwas zwischen uns verändert. David behandelt mich zwar nicht mehr wie ein rohes Ei – was mir lieber ist – aber bei unseren Neckereien ziehe ich permanent den Kürzeren. Oder liegt das vielleicht auch nur an meinem Schlafmangel?
Da ich nicht antworte, schiebt er mich grinsend zur Couch. Nachdem wir uns gesetzt haben, küsst er mich sanft. »Und zu meinem Job ... ich habe dir doch gestern schon gesagt, dass ich Privates und Arbeit trennen kann. Ich möchte dich einfach nur unterstützen.« Er legt eine Hand aufs Herz und hebt die andere, als würde er mir das damit schwören.
Überzeugt bin ich trotzdem nicht. »Du willst mir also erzählen, dass du in keine Bredouille gerätst, falls Piet einen neuen Kredit benötigt und ausgerechnet bei dir auftaucht?«
»Dann schicke ich ihn einfach zu einem Kollegen.« Er legt seine Finger in meinen Nacken und beginnt, ihn sanft zu kraulen, was mich noch mehr ablenkt. »Komm schon, Jamie. Bitte, lass mich dir helfen. Ich halte es echt nicht mehr aus, meine Freundin kaum zu sehen.«
Ungewollt muss ich kichern und sehe ihn an. »Das klingt, als wären Wochen vergangen, dabei sind es gerade mal fünf Tage ...«
»Fünf Tage sind verdammt lang. Und warst du nicht eben noch diejenige, die weiter telefonieren wollte, weil wir uns nicht gesehen haben?«
»Stimmt ...« Und ehrlich gesagt bin ich verwirrt über mich selbst. Dass es so anstrengend sein würde, ihn nicht zu sehen, hatte ich nicht erwartet. Es macht mich sogar regelrecht nervös; denn diese Gefühle sind irgendwie seltsam. Durcheinander kaue ich wieder auf meiner Unterlippe herum. Was ist, wenn ihm das zu viel wird? Wenn ich ihm zu aufdringlich bin? Und überhaupt – warum benehme ich mich so merkwürdig? Ich muss damit aufhören!
»Oh, Jamie ... du schläfst ja schon im Sitzen ein ...«
Verwundert blinzele ich mehrmals. »Nein ... ich ...« Hatte ich etwa die Augen zu? Aber wann ...?
»Komm, leg dich endlich hin.« Sanft drückt er mich an den Schultern nach hinten. »Ich verspreche dir auch, genau hier sitzenzubleiben und nichts anzufassen.«
Dummerweise kann ich das Gähnen nicht mehr unterdrücken, denn sein Geruch hat irgendwie eine beruhigende Wirkung auf mich. »Versprich mir lieber, mich rechtzeitig zu wecken, damit ich pünktlich zur Arbeit komme ...«
»Also darf ich mir die Papiere ansehen, wenn ich dich wecke?« Wieder schmunzelt David und zieht eine Wolldecke von der Couchlehne.
»Mhm ...« Verdammt! Alles in mir sträubt sich und gleichzeitig kann ich kaum die Lider offen halten!
Er deckt mich zu, als hätte er das schon tausendmal gemacht. Dann lächelt er mich an und streichelt behutsam über meinen Rücken. »Bitte, Jamie. Genügend Schlaf ist wichtig.«
Die Wärme und seine Berührungen machen es mir immer schwerer, mich dagegen zu wehren. Und warum sollte ich auch? Er ist ja bei mir.
Wenn da nicht ein minimaler Teil in mir wäre, der genau diesen Umstand alarmierend findet.
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