~13~
»Frieden?«
Im Hausflur steht Sascha, eine Hand mit einer Brötchentüte erhoben, in der anderen einen Papphalter mit zwei Kaffeebechern. Skeptisch ziehe ich eine Augenbraue hoch und betrachte ihn schweigend. Immerhin hat sein Geklingel mich aus dem Schlaf gerissen, aber meine Laune kann trotzdem nichts trüben.
»Komm schon, Pchela. Ich wollte echt nur helfen«, brummt er verzweifelt.
Unwillkürlich muss ich lächeln, was er bemerkt und sofort strahlt. Bevor ich reagieren kann, überbrückt er die Lücke zwischen uns, stellt den Kaffee ab und schließt mich fest in seine Arme.
»Lass das, Sascha. Du zerquetschst mich!«
Leider bringt meine Ansage gar nichts. Eher sorgt sie dafür, dass er mich noch fester an sich drückt. Schließlich gebe ich nach und erwidere die Umarmung. Was bleibt mir auch anderes übrig? Es ist, wie David gesagt hat: gewöhnungsbedürftig, aber er meint es nicht böse.
Bei dem Gedanken an ihn wird mir augenblicklich warm, weshalb ich mich nun doch aus Saschas Armen winde. Um mein Gehirn wieder zurück ins Hier und Jetzt zu holen, sehe ich dem Russen streng entgegen und erhebe den Zeigefinger. »Mach das nie wieder!«
Er nickt sofort, obwohl ich weiß, dass er es nicht versprechen kann. Akzeptiere ich wirklich einfach so seine Macke? Scheiße ...
»Solange ihr alles geklärt habt, gibt es keinen Grund mehr für Einmischungen ...«, sagt er mit einer unverhohlenen Frage in der Stimme, woraufhin ich die Augen rolle. Ein Schmunzeln kann ich mir jedoch nicht verkneifen. Trotzdem wird er vorerst nichts von mir erfahren. Ich zeige ihm den Mittelfinger, nehme ihm die Brötchentüte ab und drehe mich ohne ein weiteres Wort um.
»Mann, Pchela!« Das ›a‹ zieht er dabei so lang, dass er sich wie ein nörgelndes Kleinkind anhört. Ich muss ungewollt lachen, während ich weitergehe. »Lass mich nicht am langen Arm verhungern!«
»Was bist du? Eine Klatschtante?«, rufe ich über die Schulter und sehe, wie er mir folgt. Sein beleidigtes Schnauben lässt nicht lange auf sich warten.
Als wir im Wohnzimmer ankommen, wird mir klar, dass ich keinen Kaffee kochen muss, also deute ich zum Balkon. »Geh' schon mal raus. Ich zieh' mich schnell um.«
Er nickt wortlos, weshalb ich ins Bad verschwinde, um T-Shirt und Shorts anzuziehen. Mensch, bin ich froh, wenn es heute Abend endlich abkühlt. Obwohl ich den Sommer liebe, wird die Hitze erneut unerträglich.
Auf dem Rückweg werfe ich einen Blick auf mein Handy, wo mehrere Nachrichten aufleuchten. Automatisch lächele ich wieder.
David: Morgen schon was vor?
Nach deiner Schicht?
Also, so ab Mittag? Ich meine natürlich, wenn du wach bist ...
Bevor ich allerdings antworten kann, höre ich Sascha theatralisch seufzen. Mein kurzer Blick zu ihm lässt ihn grinsen. »Lächeln steht dir.«
»Jaja ...«, murre ich, setze mich ihm gegenüber und lege mein Smartphone auf den Tisch. »Du mich auch.«
»Ist es wirklich so schwer, ›Danke‹ zu sagen?«
Anstatt zu antworten, greife ich nach der Tüte und betrachte verwundert den Inhalt. »Ich glaube eher, du hast eine interessante Art, ›Entschuldigung‹ zu sagen.«
Er hat so viele Teilchen besorgt, dass wir den Rest locker an unsere Kollegen verteilen können – selbst dann wäre die Tüte vermutlich noch nicht leer.
Schmunzelnd schüttelt er seinen Kopf. »Ich wusste nur nicht, was genau du magst.«
»Da hätte Fragen geholfen.«
»Ich war mir nicht sicher, ob du antwortest ...«
»Also hast du ein schlechtes Gewissen«, murmele ich grinsend und ziehe eine Apfeltasche heraus.
»Wenn du ehrlich mit mir reden würdest, hätte ich gar nicht zu solchen Maßnahmen greifen müssen«, brummt er beleidigt, was mich erneut zum Lachen bringt.
»Wenn du dich nicht in fremde Angelegenheiten einmischen würdest, würdest du jetzt nicht jammern ...« Dann seufze ich, schaue ihn an und gebe mir einen Ruck, nachdem ich abgebissen habe. »Deine Aktion war wirklich daneben ... aber du hast uns trotzdem geholfen. Also ja: Wir haben miteinander gesprochen.«
»Gesprochen oder geschlafen?«
»Sascha!«, fauche ich und kneife die Augen zusammen. So viel dazu. Grummelnd sehe ich in sein Gesicht, doch er zeigt kein Anzeichen von Reue. Als er dann auch noch unschuldig mit den Schultern zuckt, werde ich rot und wende den Blick ab.
Nein, David und ich haben nicht schon wieder miteinander geschlafen. Obwohl es mehr als schwer gewesen ist, haben wir uns an meiner Haustür voneinander verabschiedet. Er hat gesagt, er will es diesmal richtig machen, was auch immer das genau bedeutet.
»Deine aktuelle Hautfarbe lässt nur eine Antwort zu ...«
»Du bist einfach nur blöd, weißt du das?«
»Solange du dadurch glücklich bist, bin ich gerne blöd.« Wieder zuckt er mit den Schultern, greift über den Tisch hinweg nach meiner Hand und drückt sie leicht. »Dich so leiden zu sehen, war echt hart. Bei Angie war ich zu spät und das wird mir nicht noch einmal passieren. Wenn du mich deswegen hassen willst, bitte.«
Erschrocken zucke ich zusammen und schließe die Lider. Niemals wollte ich ihn durch mein Verhalten an seine Schwester erinnern. Es reicht schon aus, dass er sie anscheinend ständig durch mich sieht. Vielleicht sollte ich mir wirklich ein neues Brillengestell besorgen.
»Es ... es tut mir leid ... und ... ich hasse dich nicht ...«
Er drückt erneut meine Hand. »Ich weiß und es muss dir nicht leid tun, Pchela. Jeder geht mit Schmerz anders um. Du kannst nur nicht von mir verlangen, dass ich tatenlos zusehe.«
»Tu' ich auch ni...«
»Hättest du mit D gesprochen, wenn ich euch nicht gezwungen hätte?«
»Vermutlich nicht«, antworte ich kleinlaut. »Aber das lag eher an unserer ... ähm ... Vorgeschichte.«
Da Sascha nur eine Augenbraue hochzieht, seufze ich ebenfalls, lasse ihn los und greife nach meinem Handy. Wie soll ich ihm etwas sagen, wenn ich nicht weiß, wie viel David ihm erzählt hat? Ich will immer noch nicht der Grund dafür sein, dass die beiden streiten. Jetzt noch viel weniger als vorher, denn sie sind mir beide wichtig.
Einen Moment halte ich inne. Hat sich Sascha etwa so gefühlt, als er praktisch zwischen uns gestanden hat? Das ist ja furchtbar! Schnell suche ich nach Davids Nummer und rufe ihn an.
Direkt beim ersten Klingeln hebt er ab. »Hey, Jamie. Schön, dass du anrufst.« Wieder muss ich lächeln, weil seine Stimme irgendwas in mir auslöst.
Dann besinne ich mich auf das, was ich wollte. Auch wenn es jetzt vielleicht überstürzt ist. »Hast du gerade Zeit?«, frage ich und schiele zu Sascha, der mich stumm beobachtet. Seine Augenbraue wandert noch höher.
»Ja, klar. Alles okay bei dir?« Prompt klingt David unsicher, weshalb ich mir auf die Lippe beiße.
Ich bin so dumm! Wieso habe ich ihm nicht anders geantwortet? Ihn irgendwie vorbereitet? Aber wie macht man das? Mann!
Zerknirscht reibe ich mir übers Gesicht. »Ich hab' gerade Sascha bei mir sitzen und ...« Warum auch immer, verstumme ich wieder. Wie soll ich ihm sagen, dass wir uns erklären müssen? Zumindest so, dass Sascha unser vorheriges Verhalten nachvollziehen kann.
»Und er quetscht dich aus?«, fragt David und lacht dabei leise, was sich wahnsinnig gut anfühlt. Langsam nicke ich, bis mir bewusst wird, dass er mich nicht sehen kann.
»Stell mich mal auf laut.« Er sagt das so sanft, dass mein Herz schneller schlägt.
»Okay ...« Ich nehme das Handy vom Ohr, drücke auf die Taste und lege es zurück auf den Tisch.
Mein Kollege sieht aufs Display und grinst leicht. »Hey, D. Wenn Jam dich freiwillig anruft, scheint ja alles geklärt zu sein.«
»Richtig und deshalb wäre ich dir sehr dankbar, wenn du meine Freundin mit deinen Fragen nicht so nervös machen würdest.«
Während die Worte aus meinem Handy dringen, überkommt mich plötzlich eine Hitze, die mir die Luft raubt. Sascha hebt seinen Blick, trifft meinen und bricht in schallendes Gelächter aus. Ich hingegen vergrabe mein Gesicht in den Händen und bin sprachlos. Wie kann David das nur so locker raushauen? Mich hätte es nicht gestört, mich erstmal an diesen neuen Gedanken zu gewöhnen, bevor jemand anders davon weiß.
»Ja ... das macht es bestimmt besser ...«, murmelt David, woraufhin Saschas Lachen abrupt verstummt.
»Sorry, aber gestern Abend hätte Jam mir noch die Augen ausgekratzt, wenn ich auch nur deinen Namen erwähnt hätte.«
»Tja, in der Zwischenzeit konnte ich sie wohl von mir überzeugen.«
»Ich seh's. Abgesehen von ihrem tomatenroten Teint könnte sie jedes Honigkuchenpferd neidisch machen.«
»Gut zu wissen.«
»Und mit welchen Qualitäten hast du sie überzeugt?«
»Mit der Wahrheit«, antwortet er so beiläufig, als wäre unser Gespräch ein Kinderspiel gewesen. »Also, frag mich statt sie. Du weißt, dass ich immer ehrlich antworte.«
»Sicher. Aber dafür müsste ich erstmal wissen, was sie denkt, dass ich nicht weiß.«
Ein Schweigen legt sich über uns und Sascha blickt mich abwartend an. Hier sind wir also wieder am Anfang angelangt. Aber wie frage ich David, ohne dass Sascha falsche Schlüsse zieht? Dieser Anruf ist wirklich keine gute Idee gewesen. In Zukunft sollte ich besser über meine Entscheidungen nachdenken und impulsives Handeln vermeiden.
»Jamie?«
Nervös beiße ich mir auf die Lippe. Es führt kein Weg daran vorbei. Dafür habe ich ihn schließlich angerufen. »Hast du jemals mit Sascha über ›früher‹ gesprochen?«
Nach einer weiteren kurzen Stille und einem leisen Knacken im Hintergrund räuspert sich David. »Ja, über das meiste. Sascha kennt meine dunkle Vergangenheit«, mein Kollege nickt zustimmend und ich atme erleichtert aus. »Aber ich habe nie erwähnt, wer unter mir gelitten hat.«
Es vergehen einige Sekunden, in denen nichts passiert. Plötzlich springt Sascha auf, sein Stuhl kracht nach hinten. »Das kann doch nicht wahr sein ...«, sagt er fassungslos und starrt abwechselnd mich, mein Handy und dann wieder mich an. »Ihr verarscht mich, oder?«
Ich schüttele zögerlich den Kopf, woraufhin Sascha sich die Haare rauft und auf den Tisch schlägt. Mein Handy hüpft in die Luft und landet auf einer Tüte. Schnell greife ich danach und halte es fest, damit es nicht kaputtgeht.
»Ich hab' mich immer gefragt, warum Jam so distanziert zu dir war, obwohl man eure Anziehung förmlich spüren konnte. Wie kann man jemanden so abgrundtief hassen, den man gar nicht richtig kennt ... Fuck, jetzt ergibt alles einen Sinn ...« Plötzlich schnaubt er auf. »Und ich habe euch beide eingesperrt und dich damit deiner Angst ausgesetzt ... Scheiße.«
»David hat sich geändert ...«, flüstere ich zur Verteidigung und weil ich nicht sicher bin, ob Sascha wütend oder nur schockiert ist. »Du hast selbst gesagt, er gehört zu den Guten.«
Mein Kollege nickt langsam, hebt den Stuhl auf und setzt sich wieder hin. Seufzend lehnt er sich zurück. »Ich fasse es einfach nicht ... es tut mir leid, Pchela.«
»Muss es nicht.«
»Nicht mehr ...«, ergänzt David.
Sascha schüttelt seinen Kopf und senkt die Lider. Er sieht so wütend und enttäuscht aus, dass ich mir über die Arme reibe, um die aufkommende Gänsehaut zu vertreiben.
»Ich wollte dir das nicht verschweigen. Aber als ich es dir damals erzählt habe, kanntest du Jamie noch gar nicht und ich dachte sowieso, ich würde sie nie wieder sehen.«
»Wohl wahr«, brummt Sascha nickend. »Aber wenn wir schon dabei sind: Gibts noch etwas, das ich wissen sollte?«
»Von meiner Seite aus nicht. Was denkst du, Jamie?«
»Ähm ... ich denke auch nicht ... und entschuldige, David. Ich war ... überfordert mit der Situation ...«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Mir war klar, dass es früher oder später zur Sprache kommt«, unterbricht David mich sanft.
»Aber sicher nicht so ...«
»Das macht wirklich nichts. Für dich würde ich auch in Kauf nehmen, dass mein bester Freund mir eine runterhaut.«
Schockiert blicke ich zu Sascha, der noch immer schweigt. Ein nervöses Lachen steigt mir die Kehle hoch. Er wird doch nicht wirklich ...? Als er jedoch grinst und den Kopf leicht schüttelt, ist es, als würden Gewichte von mir abfallen.
»Gerade nochmal Glück gehabt, D. Aber von jetzt an erwarte ich, dass du Jam wie eine Königin behandelst.«
»Das habe ich sowieso vor. Dafür brauche ich keinen Arschtritt von dir.«
»Ihr seid unmöglich ... alle beide«, murmele ich, während ich schon wieder rot anlaufe.
»Du solltest sie mal sehen«, murmelt Sascha lachend und kneift mir in die Wange. »Sie sieht aus wie ein Hummer.«
»Arschloch!«
»Ey«, knurrt David gespielt böse. »Hör auf, meine Freundin zu ärgern.«
Während wir alle drei lachen, greift Sascha erneut nach meiner Hand und drückt sie sanft. »Versprecht mir bloß eins: keine Geheimnisse mehr. Mein altes Herz verkraftet das nicht.«
Grinsend nicke ich. David hingegen schnaubt lautstark. »Geht klar. Aber übertreib' mal nicht. Du bist nur fünf Jahre älter.«
Wir alle lachen erneut und ich fühle tiefe Erleichterung. Es ist schön zu sehen, wie die beiden miteinander umgehen, so ehrlich und offen. Ihre Freundschaft scheint wirklich etwas Besonderes zu sein, und ich bin dankbar, dass ich sie nicht zerstört habe. Ich kann noch viel von ihnen lernen.
»Okay ...« Sascha steht wieder auf, diesmal ohne den Stuhl oder den Tisch in Mitleidenschaft zu ziehen. »Da wir jetzt alles geklärt haben, müssen ›deine Freundin‹ und ich langsam los. Wir haben da nämlich noch ein Mitarbeiterproblem.«
»Klingt spannend. Ich wünsche euch trotzdem eine ruhige Schicht.«
»Du kannst ruhig später rumkommen. Ich geb' dir ein Bier aus.«
»Nein, danke. Wenn ich Jamie das nächste Mal sehe, möchte ich sie für mich alleine haben und nicht mit dir teilen müssen.«
»Hast du das gehört? ›Dein Schatz‹ erhebt gleich Besitzansprüche ...«, sagt Sascha und wirft mir einen vielsagenden Blick zu, wodurch ich mit den Augen rolle, aber auch kichern muss.
»Also?«, kommt es aus meinem Handy. »Haben wir morgen ein Date, Jamie?«
O Mann! Ich frage mich, ob meine Hautfarbe jemals wieder einen normalen Ton annehmen wird. Aber irgendwie ist es mir auch egal.
»Auf jeden Fall. Ich freu' mich schon!« Und das meine ich auch genau so, denn ich glaube, so fühlt sich Glücklichsein an.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro