~12~
Mit geballten Fäusten steht er vor mir und senkt die Lider. Sein Geständnis ist ihm sichtbar unangenehm, dabei kann ich ihn sogar verstehen. Hass ist zumindest irgendeine Form von Aufmerksamkeit. Vergessen hingegen ...
»Mir ist schon klar, wie dämlich das war.« Seufzend fährt David sich durch die Haare und schüttelt den Kopf. »Und es hat ewig gedauert, bis ich geschnallt habe, dass ich aus Eifersucht gehandelt habe.«
»Du warst eifersüchtig auf mich?« Jetzt bin ich doch verwirrt, aber er schüttelt sofort seinen Kopf.
»Nicht auf dich, Jamie.« Sein Blick wandert zu mir und ich sehe eine Mischung aus Emotionen, die schwer zu deuten sind. »Du warst der Engel, den ich unbewusst auf ein Podest gestellt habe ... und genau das war das Problem. Alle durften bei dir sein, nur ich nicht. Also war ich wütend auf meinen Vater, neidisch auf die anderen und enttäuscht ... von dir.«
»Von mir?«
»Du hast es einfach hingenommen, als ich mich von dir abgewandt habe. Als wäre ich dir egal.«
»Ich kann mich nicht mal daran erinnern, dass wir überhaupt Zeit zusammen verbracht haben«, murmele ich leise, obwohl das natürlich nichts besser macht. Kurz schließe ich die Augen und versuche abermals, etwas zu finden, doch meine Erinnerungen bleiben leer.
»Das ist mir jetzt auch klar geworden, genauso wie die Tatsache, dass es falsch war. Aber als Kind war mir das nicht bewusst und als Teenager war es bereits zu spät. Alle dachten, dass ich dich hasse und du hattest solche Angst vor mir, dass ich nicht mehr wusste, was ich tun sollte. Ich kam nicht mehr an dich ran, ohne ...«
Er unterbricht sich und atmet laut ein. Jetzt sieht man die Wut in seinen Augen.
»Am Anfang wollte ich meinem Vater nicht glauben. Ich hab' seine Worte lange ignoriert ... Aber irgendwann war es einfacher, sie zu akzeptieren. Du warst der perfekte Sündenbock für meine Wut, mit der ich nicht wusste wohin. Ich wollte dich hassen, damit die Gefühle endlich verschwinden ...«
»Entschuldige ...«, flüstere ich und sehe zu Boden.
Plötzlich kniet David vor mir und legt seine Hände auf meine. »Wofür entschuldigst du dich, Jamie? Du wusstest nichts davon, hast mit deinen eigenen Problemen gekämpft und ich ... war das Größte.«
Schmerz liegt in jedem seiner Worte und auch mich durchfährt er. Aber aus einem anderen Grund. Schnell schließe ich die Augen und atme tief ein.
»Warst du nicht ...«, flüstere ich, beiße mir auf die Lippe und schüttele den Kopf. Diesmal sehe ich die Bilder klar vor mir und eine ungewollte Gänsehaut breitet sich aus. Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich Davids skeptischen Blick. Er glaubt mir nicht, weil er sich selbst verurteilt, also muss ich deutlicher werden.
Seufzend betrachte ich unsere Hände. »In der Schule vielleicht, ja ... aber meine größten Probleme lagen wirklich ganz woanders.«
»Du meinst deine Pflegefamilien?«
Ich nicke zögernd, obwohl es nicht ganz stimmt. Also schon, aber eigentlich war nur eine die Hölle auf Erden und dort habe ich am längsten gelebt. Ganze vier Jahre lang. Trotzdem schaffe ich es nicht, darüber zu reden. Bisher habe ich es nur einmal geschafft, und das auch nur betrunken.
»Hast du jemals eine Familie gefunden, bei der du glücklich warst?«
Wieder nicke ich und bin dankbar für seine Frage. Sie hilft mir, die Erinnerungen und die Angst zu verdrängen. »Glücklich ist in dem Zusammenhang ein schwieriges Wort. Aber die letzte Pflegefamilie war nett.«
»Die, wegen der du die Schule gewechselt hast?«
»Genau.«
Er erhebt sich langsam, lächelt verständnisvoll, lässt mich los und setzt sich wieder neben mich. Unsere Beine berühren sich und er legt seine Hand auf meinen Oberschenkel. Eine Weile lang schweigen wir, was angenehm ist. Ich konzentriere mich auf meine Atmung und das Zwitschern der Vögel. Auch die Sonne ist inzwischen vollständig aufgegangen. Ihr helles Licht lässt die ganze Umgebung funkeln wie tausende Diamanten.
Es ist komisch, aber heute mit David hier zu sein, fühlt sich so unglaublich richtig an. Auch wenn ich ihm jetzt nicht sagen kann, was damals außerhalb seines Sichtfeldes passiert ist, hoffe ich, es irgendwann zu können. Ich will mich ihm genauso anvertrauen, wie er es gerade tut.
Plötzlich dreht er sich mir ruckartig zu, wodurch ich überrascht aufsehe. Sein Blick wirkt eindringlich, aber irgendwie auch verunsichert.
»Weißt du ...« Mit der freien Hand fährt er sich mal wieder durch die Haare. »Ich habe mir unendlich oft gewünscht, so wie jetzt neben dir zu sitzen und deine Hand zu halten.« Er greift nach ihr und schiebt seine Finger zwischen meine, wodurch mir warm wird. »Oder dein Lachen zu hören, das mir gilt.«
Schlagartig werde ich rot, was ihn breiter lächeln lässt. »Zu sehen, dass du meinetwegen verlegen bist, ist immer noch unglaublich für mich ...« Bedächtig hebt er unsere Hände an und küsst meinen Handrücken, was meine Wangen noch röter werden lässt.
»Als wir uns durch Taylor wiedergetroffen haben, dachte ich, es sei eine Illusion. Ich hatte schon damit abgeschlossen, dich nie wiederzusehen. Immerhin hatte ich dich einfach nicht verdient. Aber dann ... war da diese Frau ... die dir zum Verwechseln ähnlich sah und doch wieder nicht ...«
»Du wusstest es also von Anfang an?«
»Nein, aber ich habe es gehofft. Deine Augenfarbe hat mich allerdings ziemlich verwirrt ... und dein Verhalten ... diese taffe Art. Immer wieder wollte ich dich darauf ansprechen, aber ich wusste nicht wie. Was hätte ich tun sollen, wenn du es nicht gewesen wärst und was, wenn doch?«
»Klingt ziemlich anstrengend ...«
»Das war es auch. Besonders, da du am Anfang so glücklich gewirkt hast. Ich wollte keine alten Wunden aufreißen, die du scheinbar überwunden hattest ...«
»Also ich erinnere mich an einen ziemlich aufdringlichen Kerl, der kein ›Nein‹ akzeptiert hat.« Trotz meiner Rüge muss ich schmunzeln. Rückblickend betrachtet ist es wohl genau diese Hartnäckigkeit gewesen, die uns letztendlich hierher gebracht hat.
»Ja ... ich war wohl trotzdem ein Arschloch. Dabei wollte ich dir eigentlich beweisen, dass ich mich geändert habe.« David senkt seine Lider und seufzt leise.
Erschüttert von dem plötzlichen Frust in seiner Stimme, greife ich an seine Wange, damit er mich wieder ansieht. Als er es tut, steigen mir fast Tränen in die Augen. Der Hass, den ich in ihnen sehe, erinnert mich an früher und doch erkenne ich endlich den Unterschied. Er richtet sich gegen ihn selbst. Das wollte ich mit meinen Worten nicht auslösen!
»Nein«, sage ich entschieden und schüttele meinen Kopf. »Du warst kein Arschloch mehr! Ja, vielleicht warst du anstrengend und auch ein bisschen nervig, aber genauso fürsorglich und hilfsbereit. Du hast jede meiner Launen ertragen, selbst dann, wenn ich unausstehlich zu dir war!«
»Musstest du früher doch auch. Mich ein bisschen von dir anfauchen zu lassen, ist da nur gerecht ...«
Erneut schüttele ich meinen Kopf, diesmal mit mehr Nachdruck. Wie kann ich ihm nur klarmachen, dass er mehr verdient hat, nach allem, was er durchmachen musste? Ist das überhaupt möglich?
In meiner Überforderung lasse ich seine Hand und Wange los, lege meine Arme um seinen Nacken und ziehe ihn in eine Umarmung. Ich drücke ihn so fest an mich, wie es im Sitzen eben geht.
»Es tut mir so unendlich leid, Jamie«, flüstert er an meinem Hals und legt seine Arme um meinen Rücken.
Plötzlich spielt alles in mir verrückt. Mein Herz schreit bei dem Gedanken daran, dass er vielleicht nie aufhören wird, sich für seine Taten zu geißeln.
»Ich weiß und ich verzeihe dir. Das ... habe ich schon länger.«
Es mag absurd klingen, aber es ist wahr. Irgendwann ist es einfach passiert, und obwohl es bestimmt Momente geben wird, in denen die Angst wieder hochkommt, ist es letztendlich der Gedanke an die Wette gewesen, der mich gequält hat. Deshalb möchte ich nicht, dass er weiterhin meinetwegen leidet. Wir haben beide genug Schmerz durch einander erfahren.
»Und ich weiß auch, dass du dich geändert hast. Du bist nicht mehr so. Andernfalls hättest du keinen so wundervollen Sohn.« Ich lasse ihn langsam los und schaue ihm ins Gesicht. »An ihm müsstest du doch sehen, wie viel Mühe du dir gibst. Dass du an dir gearbeitet hast und darauf kannst du stolz sein!«
Seine Miene ist unergründlich, doch seine Augen können die Emotionen nicht verstecken. Sie glitzern verdächtig, weshalb ich erneut seine Wange berühre. »Du verdienst es, endlich glücklich zu sein.«
»Genauso wie du«, kontert er und lächelt sanft.
Ich erwidere es und streichele ihn vorsichtig. Als er sich gegen meine Hand lehnt, fühle ich mich mit einem Mal unglaublich wohl. Wärme, beginnend in meinen Fingern, fließt durch mich hindurch und gibt mir in diesem Moment das Gefühl, genau das zu sein: glücklich.
Und so entschließe ich mich, über meinen Schatten zu springen und mich vorzulehnen.
Seine Augen weiten sich, bevor er sanft mein Gesicht umfasst und unsere Lippen sich treffen. Zuerst zögerlich, als ob wir beide unsicher sind. Doch dann lodert ein Feuer in mir auf, das seine Berührungen wiedererkennt. Meine Hände suchen nach ihm und ziehen ihn näher an mich heran. Jeder Kuss sendet elektrisierende Schauer durch meinen Körper und lässt mich erbeben.
Als seine Zunge meine Lippen streift, öffne ich meinen Mund und ein unkontrollierter Laut entweicht mir. Ich will mich zurückziehen, aber er hält mich fest, streichelt mich und gibt mir das Gefühl von Sicherheit.
Also öffne ich erneut meinen Mund und unsere Zungen erkunden sich behutsam. Schnell finden sie einen gemeinsamen Rhythmus, als würden sie miteinander tanzen und verschmelzen zu einem sinnlichen Spiel von Geben und Nehmen.
Ein wildes Verlangen erwacht in mir und lässt mich nach mehr sehnen. Für einen Moment vergesse ich alles um mich herum, dann ist es plötzlich vorbei.
Verwundert öffne ich meine Augen, ohne zu wissen, wann ich sie geschlossen habe.
David sieht genauso überrascht aus wie ich, obwohl ich mir sicher bin, dass er unseren Kuss beendet hat. Deshalb sehe ich ihm wortlos entgegen und werde mit jeder Sekunde die verstreicht nervöser. Habe ich etwas falsch gemacht?
Als er sich schließlich räuspert, zucke ich zusammen und werde gleichzeitig rot, weshalb ein Schmunzeln von ihm folgt. »Du bist so verdammt süß, wenn du überfordert bist.«
Ein wenig beleidigt puste ich meine Wangen auf, doch dann erinnere ich mich an unser Telefonat. »Das sagtest du bereits ...« Ich betrachte sein Gesicht und verstehe endlich, warum er sich selbst als ›Boxer‹ bezeichnet hat.
»Und ich sage es dir gerne immer wieder. So oft du willst. Genauso, wie ich dich gerne öfter küssen würde. Vorausgesetzt ... du möchtest das auch ...?« Seine Stimme wird zum Ende hin immer leiser und klingt irgendwie befangen.
Verwirrt hebe ich eine Augenbraue, dann dämmert es mir und ich beiße auf meine Lippe. Auch meinen Kopf senke ich. »Ich ... Ich weiß gar nicht, wie das geht.« Instinktiv ballen sich meine Hände zu Fäusten.
»Du meinst, eine Beziehung? Weil du noch keine geführt hast?«
Als ich langsam nicke, fühle ich mich irgendwie unbehaglich. Er weiß inzwischen erschreckend viel über mich und gleichzeitig auch noch sehr wenig.
»Das macht nichts. Ich würde mich jetzt auch nicht unbedingt als Experten bezeichnen ...«
»Trotzdem hast du mindestens eine geführt.«
»Oh ja ... eine lieblose Ehe als Referenz zu nehmen, schafft bestimmt hervorragende Grundlagen.«
Er sagt das mit so viel Sarkasmus, dass ich ungewollt lachen muss. Dabei ist die Aussage nicht mal witzig.
Sanft greift er unter mein Kinn und hebt es an, sodass ich ihm direkt ins Gesicht sehen muss. Ein Lächeln huscht über seine Lippen und ich versuche es zu erwidern, doch die Angst in mir ist stärker. Mein Herz rast.
»Ich kann das nicht, David ... was ist, wenn ich Fehler mache? Wenn ich dich verärgere oder enttäusche? Ich habe immer nur gesehen, wie Beziehungen scheitern. Wie soll ich jemals eine führen? Ich kann nicht lie...«
Meine Worte stocken und ich winde mich abrupt aus seinem Griff. Das Gefühlschaos der letzten Wochen tobt in mir, während ich unbeholfen aufstehe und mir über die Arme reibe. Selbst wenn das, was ich empfinde, ›Liebe‹ sein sollte, kann ich es nicht aussprechen. David wird mich verlassen, weil es ihm nicht genug sein wird. Weil ich ihm nicht genüge. Er wird bald erkennen, wie kaputt ich wirklich bin und gehen.
»Jamie ...« Plötzlich steht er hinter mir und legt seine Arme um meine Schultern. »Ich kann dir genauso wenig versprechen, keine Fehler zu machen. Was passiert, wenn ich aus irgendeinem Grund wütend werde und du Angst bekommst? Wenn ich dich unbeabsichtigt wieder verletze?«
»Wieso willst du das dann überhaupt versuchen? Hast du denn gar keine Angst davor?«
»Doch ... wahnsinnige sogar. Aber mein Wunsch nach deiner Nähe ist stärker. Ich möchte dich streicheln können, so wie jetzt«, sagt er sanft, während er seine Finger über meine Arme gleiten lässt. »Mit dir lachen, mich mit dir unterhalten und Zeit mit dir verbringen, die nicht dem Zufall überlassen ist ... und ich möchte dich küssen dürfen.« Sein Atem streift meine Wange und schickt einen Schauer über meinen Rücken.
»Ich verstehe dich, Jamie. Auch ich bin unsicher, ob es funktionieren wird. Aber ich möchte gemeinsam mit dir herausfinden, ob es das Richtige für uns ist und viele neue Erfahrungen mit dir sammeln.«
»Und wenn wir scheitern?«
»Und was, wenn nicht?«, antwortet er zaghaft und dreht mich behutsam zu sich um. In seinen Augen leuchtet Hoffnung.
»Glaubst du wirklich daran, dass wir es schaffen können?«
Er nickt entschlossen.
»Warum?«
»Weil wir den schwierigsten Teil bereits hinter uns haben ... und du selbst gesagt hast, dass wir es verdienen, glücklich zu sein.«
Das stimmt. Wir kennen schon viele Eigenheiten des anderen, aber bei weitem nicht alle. Trotzdem wächst auch in mir der Wunsch, dass wir zusammen stark genug sind. Denn letztendlich möchte ich genau das, was auch er möchte: in seiner Nähe sein.
Mit einem zögerlichen Nicken stimme ich zu und greife gehemmt in sein T-Shirt. »Darf ich dich jetzt schon um etwas bitten?«
»Natürlich.«
»Würdest du mich nochmal küssen?«
Sein Lächeln ist so warm, dass jede Pore meiner Haut davon erhitzt wird. Und als sich unsere Lippen dieses Mal treffen, ist es wie ein stummes Versprechen an uns beide.
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