~37~
Wir sitzen noch eine ganze Zeit lang auf der Bank. Sascha erzählt mir nicht mehr viel von seiner Nichte, dafür aber umso mehr über die Eigenarten und Interessen seiner Schwester. Er spricht von ihren Plänen und Zielen und davon, wie er versucht, sie in Erinnerung zu behalten. Obwohl er sich bemüht zu lächeln, merke ich, dass es ihm schwerfällt — und ich kann ihm nur zuhören. Ich wünschte, ich könnte seinen Schmerz irgendwie lindern. Ich möchte für ihn da sein, so wie er es für mich ist.
Nach einer Weile des Schweigens räuspert er sich schließlich. »Ich glaube, jetzt reicht's mit der Trauerstimmung.« Mit seinem typischen Grinsen zieht er mich in seine Arme. Bevor ich protestieren kann, drückt er mir sanft einen Kuss auf die Schläfe. »Außerdem müssen wir sowieso langsam los.«
»Stimmt ...«, antworte ich leise und bewundere ihn dafür, dass er so einfach in den Arbeitsmodus wechseln kann, als wäre nichts passiert. Er ist echt stark, obwohl er so viel mit sich herumträgt.
Während Sascha aufsteht, hält er mir seine Hand entgegen. Ich greife danach und lasse mir von ihm hochhelfen. Mit einem Schmunzeln hakt er sich bei mir ein und zieht mich zum Parkausgang. Den Weg bis zum Auto gehen wir schweigend, aber es ist nicht unangenehm. Wahrscheinlich braucht er einfach Zeit, um seine Gedanken zu sortieren – ich würde das auf jeden Fall auch brauchen.
Als wir vor meiner Wohnung ankommen, schaue ich unwillkürlich nach oben und ein Schauer überläuft mich. Die Vorstellung, heute Nacht wieder allein zu sein, fühlt sich komisch an – fast beängstigend.
Sascha bemerkt meinen Blick und atmet tief aus. »Wie sieht's aus? Hast du Lust, noch ein paar Tage bei mir zu bleiben?«
Verwundert schaue ich ihn an und finde keine Worte. Fragt er nur aus Höflichkeit oder war ich etwa schon wieder zu offensichtlich? Will er vielleicht selbst nicht allein sein?
»Jam ...?«
»Ähm ... klar.«
»Na dann ...«, murmelt er und deutet zum Eingang. »Lass uns ein paar Sachen von dir holen.«
~~~~~~
Es ist erstaunlich, wie schnell eine Woche vergehen kann, ohne dass man es richtig merkt.
»Also?«, fragt Mandy, die mir gegenübersitzt und ihr Kinn auf die Hände stützt. »Was läuft wirklich zwischen euch?«
»Nichts ...«, antworte ich zum gefühlt tausendsten Mal und seufze resigniert.
»Als ob!«, brummt Kim laut und schüttelt energisch den Kopf. »Wil sehen euch ständig zusammen kommen und gehen!«
»Das passiert schon mal, wenn man ... befreundet ist.«
Beide heben skeptisch eine Augenbraue, und mir wird klar, dass mein Zögern die Gerüchte nur weiter anheizt. Es fällt mir jedoch schwer, offen auszusprechen, dass wir tatsächlich Freunde sind. Daran muss ich mich erst gewöhnen.
Das größte Problem ist allerdings Sascha selbst. Anstatt mich dabei zu unterstützen, die Situation klarzustellen, hat er sichtlich Spaß daran, unsere Kollegen zu verarschen. Immer wenn eine von ihnen in unserer Nähe ist, zieht er mich in seine Arme und drückt mir einen Kuss auf die Stirn oder sogar auf die Wange. Vero, die ohnehin schon schlecht gelaunt war, scheint jetzt dauerhaft auf hundertachtzig zu sein.
Als ich ihn ›zu Hause‹ darauf angesprochen habe, meinte er nur, der Alltag sei schon langweilig genug. Außerdem wäre es für mich eine gute Übung, um mich zur Wehr zu setzen – entweder gegen unsere Kollegen oder gegen ihn. Manchmal verstehe ich diesen komischen Vogel einfach nicht.
»Fleunde ... natüllich ...«
Auch Mandy schüttelt den Kopf und sieht mich leicht beleidigt an. Oh Mann! Es ist wirklich nicht einfach, niemanden zu verärgern. Besonders, weil sie mir nicht glauben, obwohl ich die Wahrheit sage. Die ganze Wahrheit – die mit Felix – kann ich ihnen jedoch nicht anvertrauen. Das war schon bei Sascha schwierig genug, und sie haben sicher genug eigene Probleme, da möchte ich ihnen nicht noch mehr aufladen.
»So ist es«, bestätige ich also erneut, was beide Mädels mit einem lauten Schnauben quittieren. Im selben Moment kommt Jamie zu unserem Tisch und lacht leise.
»Walum lachst du?«, fragt Kim grummelig und bläst ihre Wangen auf. Das sieht so süß aus, dass ich ebenfalls grinsen muss.
»Weil es Spaß macht, euch zuzuhören«, antwortet er und stellt die Auflagenplatte auf den Tisch. Wie schon beim letzten Mal fällt es mir schwer, mich bei dieser Auswahl zu entscheiden. Also beobachte ich meine beiden Kolleginnen, die sich bedienen, und leere meinen Kaffee.
»Noch einen?«, fragt Jamie mich und ich nicke zustimmend.
Als er sich wieder in Richtung Tresen begibt, versuche ich das Thema zu wechseln. »Wie läuft's inzwischen mit BWL? Wird's besser?«
Anscheinend habe ich damit Erfolg, denn Mandy schaut von ihrem Brötchen auf und sieht mich an. »Das, was du mir vor ein paar Tagen erklärt hast, hab' ich verstanden.«
»Aber?«, frage ich neugierig.
»Aber ...«, setzt sie an und fuchtelt wild mit ihrem Messer durch die Luft. »Das neue Thema sieht so ähnlich aus und ist trotzdem total anders. Was soll der Mist?«
Lachend schüttele ich den Kopf und ernte dafür einen bösen Blick von ihr. »›Der Mist‹ soll dafür sorgen, dass du es Schritt für Schritt verstehst und dann immer tiefer in die Materie einsteigen kannst.«
»Wozu? Gibt's dafür nicht genau solche Personen wie dich?«
»Wie mich?«
»Na ja, solche, die Spaß an Zahlen und dem ganzen Kram haben.«
Ich zucke mit den Schultern und greife nach einem Croissant. Woher soll ich wissen, warum ihr Studiengang sich mit BWL beschäftigt?
Plötzlich flucht Kim laut auf, was Mandy und mich zusammenzucken lässt. Bevor wir fragen können, was passiert ist, springt sie mit ihrem Handy in der Hand auf und verschwindet durch die Tür nach draußen.
»Alles in Ordnung mit Kim?«, fragt Jamie, als er an unseren Tisch kommt und mein Glas absetzt. Mandy nickt, während ich nur mit den Schultern zucke. Gemeinsam richten wir unseren Blick auf das Fenster, wo unsere Kollegin aufgeregt hin und her läuft und telefoniert – fast wie ein tasmanischer Teufel.
»Kimi hat Probleme mit ihrem WG-Partner.«
»Das kenne ich, ist wirklich eine miese Situation.« Jamie fährt sich durch seine schwarzen Haare, während er sich schüttelt.
Mein Blick wandert zurück zur Glastür, die Kim gerade ruckartig aufreißt. Sie schimpft lautstark, vermutlich auf Japanisch, denn ich kann kein Wort verstehen. Nachdem sie sich gesetzt hat, greift sie wortlos nach ihrem Brötchen und beißt hinein. Wir alle schauen sie an, doch sie schweigt weiterhin.
»Und?«, fragt Mandy nach einer gefühlten Ewigkeit. »Was hat er diesmal angestellt?«
»Das Gleiche wie immel!«
»Na dann ...«
»Was genau ist ›das Gleiche‹?«, wage ich zu fragen, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das der richtige Zeitpunkt ist. Kim sieht nicht so aus, als würde sie darüber reden wollen. Stattdessen ersticht sie lieber die Butter.
»Del Alsch feielt ständig Paltys!«, faucht Kim und hämmert mit der Faust auf den Tisch. Jamies »Sachte!« geht fast in ihrem Ausbruch unter. »Unsele Nachbaln sind außel sich! El hat mir velsplochen, das zu lassen und tut es tlotzdem immel wiedel – und ich habe ständig die Diskussionen und den Älgel mit den Andelen!«
»Ich habe dir schon mal gesagt, dass du ihn rauswerfen kannst.«
Beide blicken wir zu dem Rotschopf, der sich grinsend eine Tomate in den Mund schiebt. Schnaubend greift Kim nach einer Weiteren und wirft sie in Mandys Richtung, die sie lachend fängt.
Gleichzeitig läutet die Türklingel und Jamie zuckt unsicher, verlässt unseren Tisch dann aber doch. Wahrscheinlich hat er Angst, dass die Einrichtung den beiden Mädels nicht standhält.
»Du weißt doch, dass das nicht so einfach ist!« Die kleine Japanerin sieht wirklich unglücklich aus und schüttelt energisch ihre braune Mähne.
»Und warum nicht?«, harke ich leise nach.
»Ja genau! Erklär Jam mal wieso.«
Jetzt verschränkt Kim ihre Arme und senkt den Kopf. Mist ... Ich wollte sie nicht dazu bringen, etwas zu sagen, was sie nicht will.
»Es ist ... komplizielt ...«, flüstert sie traurig, weshalb ich ihr die Hand auf die Schulter lege.
»Ja, ich weiß, Kimi – aber mein Angebot steht nach wie vor.«
Bevor Kim eine Antwort geben oder ich nachfragen kann, welches Angebot Mandy meint – langsam fühle ich mich, als würden sie mich absichtlich im Dunkeln lassen – steht plötzlich wieder jemand neben uns. Eine Gänsehaut überzieht meine Arme. Ich muss meinen Blick nicht heben, um zu wissen, wer es ist.
»Hey, Jam.«
»David«, antworte ich, ohne ihn anzusehen und nicke zur Begrüßung. Ich wusste ja, dass er unter der Woche Joggen ist ... aber auch heute?!
Seit unserem letzten Treffen hat er mir mehrfach geschrieben, doch ich habe nicht geantwortet. Ich wusste einfach nicht, was. Wie schreibt man mit jemandem, der Dinge in einem auslöst, die man nicht will? Erstmal muss ich mir darüber klar werden, wie das überhaupt weitergehen soll. Leider spüre ich seinen Blick förmlich auf meinem Rücken und auch meine beiden Kolleginnen sehen mich fragend an.
»Kann ich kurz mit dir reden?«
»Ähm ...« Langsam hebe ich doch den Kopf. David zieht eine Augenbraue hoch und öffnet den Mund, wird jedoch von Kims Grummeln unterbrochen.
»Du bist doch del Typ, del öftel mal bei uns in del Bal wal.«
»Richtig«, antwortet er, ohne den Blick von mir abzuwenden. Seine Augen bohren sich regelrecht in meine und machen mich nervös.
»Was willst du denn von unselel Jam?« Kim klammert sich an meinen Arm, was Mandy zum Lachen bringt.
»Lass die beiden reden, Kimi. Es ist schon interessant zu sehen, wie viele Kerle Jam so umgeben. Was sagt Sascha wohl dazu?«
»Sehr witzig, Mandy ...« Ein böser Blick hilft hier wenig; sie grinst schelmisch vor sich hin. »Wir sind wirklich nur befreundet!«, betone ich erneut.
»So wie ihr?«, fragt sie und deutet zwischen David und mir hin und her. Kurz schaue ich zu ihm, der inzwischen ebenfalls grinst, bevor ich zurück zum Rotschopf blicke.
»David und ich sind ...« Verdammt! Jetzt haben wir den Salat! Ich weiß nicht, was wir sind und ehrlich gesagt will ich gar nicht darüber nachdenken.
»Gerade dabei, es herauszufinden«, beendet er meinen Satz mit einem Lächeln.
»Weiß Felix davon?«, fragt Kim und ich zucke zusammen. Damit habe ich nicht gerechnet.
»Das geht ihn nichts an!«, fauche ich etwas zu energisch, springe auf und mache mich auf den Weg zum Ausgang. Je schneller ich das Gespräch mit David hinter mich bringe, desto eher lässt er mich in Ruhe. Danach bleibt mir allerdings nichts anderes übrig, als mich meinen Kolleginnen zu erklären. Mann, warum habe ich immer so ein Pech?
Ich höre noch, wie David den beiden einen schönen Tag wünscht, dann knallt die Glastür hinter mir zu. Während ich draußen bin, kann ich nicht stillstehen – genau wie Kim eben. Dabei weiß ich, dass die Mädels uns sicher beobachten werden.
»Sorry für den Überfall.«
»Du brauchst dich nicht entschuldigen, wenn es dir offensichtlich nicht leidtut«, murmele ich und verschränke die Arme vor der Brust, während ich zu ihm hochsehe. Verdammt, das sollte ich mir wirklich abgewöhnen. Seine Augen bringen mich jetzt noch mehr aus dem Konzept.
»Na ja ... wenn du mir geantwortet hättest ...«
»Ist dir vielleicht mal in den Sinn gekommen, dass ich nicht antworten wollte?«, unterbreche ich ihn, doch das scheint ihn nicht zu stören.
»Nein. Ich habe mir eher Sorgen um dich gemacht.«
Mir klappt der Mund auf. Diese Worte habe ich ganz sicher nicht erwartet – und sie machen keinen Sinn. Warum macht er sich Gedanken um mich? Falls das überhaupt stimmt. Vielleicht ist es auch nur sein verletzter Stolz und er will es nicht zugeben.
»Mir geht's bestens.«
»Und wieso bist du dann abgehauen, als deine Kollegin Felix erwähnt hat?«
»Was willst du, David?« Das unkontrollierte Zittern überrollt mich erneut und lässt mich automatisch zurückweichen. Ich will nicht, dass er wieder auf die Idee kommt, mich zu umarmen. Alles, was mit Körperkontakt zu tun hat, sollten wir unbedingt vermeiden – vor allem, weil ich die Wärme spüre, die von ihm ausgeht.
»Du merkst gar nicht, wie du reagierst, wenn es um ihn geht, oder?«
»Und du merkst gar nicht, dass es dich nichts angeht!« Er ist einfach viel zu aufmerksam! Oder hat er vielleicht doch recht? In jedem Fall ist beides nicht ideal.
David seufzt laut und schüttelt mit geschlossenen Augen den Kopf. »Warum fangen wir eigentlich jedes Mal wieder bei null an?«
»Vermutlich, weil es kein ›Wir‹ geben sollte ...«, flüstere ich leise. Langsam reibe ich mir über die Arme, um das unangenehme Kribbeln in meinen Fingern zu vertreiben und beiße überfordert auf meine Unterlippe.
»Hör zu, David. Ich bin dir wirklich dankbar, dass du mich letzte Woche abgeholt hast ... und es tut mir leid, wie ich mich verhalten habe. Das hast du nicht verdient ... nur ...« Was will ich ihm eigentlich sagen? Ich habe ihm schon oft genug klargemacht, dass ich keine Beziehung will. Bei dem Gedanken daran wird mir schlagartig heiß. Verdammt!
»Du musst dich nicht erklären, Jam.«
»Aber dir antworten, wenn du mir schreibst ...?«
Erst zieht er eine Augenbraue hoch, dann lacht er plötzlich und schüttelt abermals den Kopf. »Du bist echt verwirrend.«
»Schau mal in den Spiegel. Wer umarmt bitte Personen, die sich wie Furien benehmen, obwohl er sie kaum kennt?«
»Nur eine Person — und der habe ich gesagt, dass ich sie mag.«
Wir sehen uns an, aber ich kann seinen Blick nicht deuten. Noch schlimmer ist, dass er einen Schritt auf mich zukommt. Seine Nähe wird mir plötzlich noch bewusster und mein Körper erinnert sich an seine Berührungen.
Scheiße! Nur eine falsche Bewegung und es könnte brenzlig werden! Warum ist er so schwer zu durchschauen? Und warum fühle ich mich schuldig? Ich kann wirklich nichts dafür, dass er mir hinterherläuft! Noch ätzender kann ich mich kaum benehmen! Schnell weiche ich einen weiteren Schritt zurück und senke den Kopf. Das muss aufhören! Sofort! »Ich muss zurück zu meinen Kolleginnen ...«
»Okay.« Verdammt, jetzt klingt er auch noch enttäuscht. Aber das sollte mir egal sein!
Im Begriff, ihn einfach zu umrunden, bleibe ich doch stehen und sehe ihn an. So herzlos kann ich nicht sein. »Es tut mir wirklich leid ...«
»Muss es nicht, ich habe dich ja gestört.« Er blinzelt einige Male, als würde er nachdenken. Dann lächelt er mich einfach an. »Schönes Wochenende.«
»Ja ... dir auch ...«, sage ich etwas unbeholfen und bin erleichtert, als ich die Tür erreiche, ohne mich umgedreht zu haben. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer sein würde, mich von ihm zu verabschieden. Das sollte es nicht sein. Verdammt! Wenn dieses Chaos nicht endlich aufhört, habe ich ein ernsthaftes Problem!
Noch ganz in Gedanken kehre ich zu Kim und Mandy zurück. Beide grinsen über das ganze Gesicht. Der Rotschopf hält mir sofort ihr Handy vor die Nase. »Guck mal, wie süß ihr euch angeschaut habt.«
»Das verstehst du wirklich falsch«, antworte ich und seufze, während ich mich setze. Warum wollen die beiden mich unbedingt mit jemandem verkuppeln?!
»Sichel?«
»Wollen wir das Gespräch von vorhin wirklich noch einmal aufwärmen, diesmal mit David?«
»Sascha haben wir abgehakt. Aber das eben ... Wow, ihr habt euch ja regelrecht angehimmelt!«
»Wie war das nochmal mit Kims WG-Problemen?« Diesmal bin ich wirklich nicht subtil. Aber langsam wird mein Gefühls-, Dating- und Partnerleben einfach nur nervig.
»Dafür haben wir eine Lösung!«
»Okay?!«
»Kimi hat endlich zugestimmt, bei mir einzuziehen.«
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