~25~
Seit Sascha den Motor ausgestellt hat, kaue ich nervös auf meiner Unterlippe und starre auf das Gebäude vor uns.
Während der ganzen Fahrt haben wir kaum miteinander gesprochen. Er hat ein paar Mal versucht, ein Gespräch anzufangen, doch meine Gedanken sind woanders gewesen. Nachdem er sich zum dritten Mal für das Verhalten seiner Oma entschuldigt hat, obwohl er das nicht müsste, ist auch er still geworden. Und jetzt, hier angekommen, ist die Situation nicht viel besser. Wie soll ich meinen Kollegen gegenübertreten und ...
»Hey, Pchela. Das wird schon. Ich bin sicher, die Mädels sehen es ähnlich wie ich«, sagt er aufmunternd und lächelt mich an, während er seine Hand auf mein Knie legt und leicht drückt.
Langsam nicke ich und erwidere sein Lächeln. Seine Geste ist wirklich nett. Auch der Spitzname, den er mir verpasst hat, gefällt mir irgendwie. Biene auf Russisch. Was für ein Zufall ...
»Und wenn nicht?«, murmele ich dennoch und frage mich gleichzeitig, warum ich das von ›ihm‹ wissen will. Nur weil er mir gestern geholfen hat, sind wir keine Freunde, oder? Sicher, er hat meine Sachen gewaschen und getrocknet — zum Glück habe ich sie wieder an — und mich aufgenommen, aber was definiert eigentlich eine Freundschaft? Nur bei Felix wusste ich es irgendwann. Bei jedem anderen fällt es mir schwer, das einzuschätzen.
Felix ... Ich will nicht an ihn denken. Seine Worte tun so verdammt weh. Hat er recht? Habe ich versucht, eine ›heile Familie‹ vorzuspielen?
»Jam.«
Bin ich es, die Felix schadet? Diejenige, wegen der er so unglücklich ist?
»Jam!«
Als Sascha erneut mein Bein drückt, zucke ich zusammen und treffe auf seinen Blick. Seine Augen durchdringen mich praktisch, weshalb ich nervös den Kopf senke.
»Hab' ich jetzt deine Aufmerksamkeit?«
»Ja ...«
»Gut, dann hör mir zu«, brummt er und atmet tief ein. »Ich hab' es dir zwar schon gesagt, aber ich betone es gern nochmal: Wir mögen dich. Egal ob du blaue oder braune Augen hast, das macht dich nicht zu einer anderen Person.« Sofort taucht David in meinem Kopf auf, der behauptet hat, dass es sehr wohl einen Unterschied macht. Doch mein Kollege ist noch nicht fertig. »Zeig den Mädels die Biene. Sie werden sie lieben.«
»Ich bin mir da nicht so sicher. Niemand mag es, belogen zu werden ...«
Plötzlich streicht Sascha mir wieder über den Kopf. »Mag sein. Aber mit dieser süßen Brille können sie dir gar nicht lange böse sein.« Er grinst mich breit an, sodass ich all seine Zähne sehen kann.
Ich lächele nur zaghaft zurück. Bevor wir losgefahren sind, wollte ich ihm die Brille zurückgeben, aber er hat darauf bestanden, dass ich sie behalte und das trotz der Proteste seiner Oma. Wohl fühle ich mich damit nicht, denn beide scheinen an ihr zu hängen – oder besser gesagt an der Person, der sie einmal gehört hat.
Mit einem Mal springt er aus dem Wagen, umrundet ihn und zieht meine Tür auf. Ganz Gentleman hält er mir seine Hand entgegen, die ich nach kurzem Zögern ergreife.
»So ist es gut, kleine Pchela«, sagt er lächelnd.
Vor ihm stehend, muss ich doch grinsen. »Dir ist schon klar, dass wir gleich groß sind?«
Lachend tätschelt Sascha abermals meinen Kopf und schließt mich einmal fest in die Arme. So langsam frage ich mich, ob so viel Körpernähe in seiner Kultur normal ist, oder ob es einfach mein Kollege ist, der gern alle umarmt.
»Vielleicht. Aber ich bin älter.«
»Und was hat das mit der Körpergröße zu tun?«
Er übergeht meine Frage, schiebt mich ein Stück von sich und dreht mich in Richtung Eingangstür. »Hör jetzt auf zu diskutieren und geh rein, du Schisser. Ich will schließlich heute noch nach Hause.«
Ergeben nicke ich, schnaube leise und sehe zum Gebäude. Eine Wahl bleibt mir eh nicht. Immerhin gehts hier um meinen Job. Meine Unabhängigkeit ... und trotzdem habe ich solche Angst, wie schon lange nicht mehr.
Was mache ich, wenn Piet mir nicht verzeiht? Ich habe meine Kollegen alleine gelassen. Ich habe mich gestern seinem Lebenswerk gegenüber nicht respektvoll verhalten. Ich ...
»Los gehts«, flüstert er sanft und knufft mich leicht.
»Jaja, ›Chef‹«, erwidere ich, strecke ihm die Zunge heraus und setze mich in Bewegung.
Jeder Schritt fühlt sich an, als würde ich zu meiner eigenen Hinrichtung gehen. Mit zitternden Fingern greife ich nach der Türklinke, die mit einem knarrenden Geräusch nachgibt. Noch vor knapp vierundzwanzig Stunden ist hier alles wie immer gewesen. Zumindest fast – doch jetzt ist nicht die Zeit, darüber nachzudenken.
Als ich im Flur stehe, steigt mir der vertraute Duft von Bier, Tabak und Leder in die Nase und versetzt mich dennoch in Unruhe. Und als ich die Tür oben im Flur höre, die zu Piets Wohnung gehört, werde ich richtig hibbelig. Soll ich warten oder hinuntergehen, um die Standpauke entgegenzunehmen?
Während ich noch überlege, ist Piet plötzlich vor mir und überrascht mich eiskalt. Nicht seinetwegen, sondern weil sein Sohn sofort vor meinem inneren Auge erscheint.
»Jam«, brummt er nickend und geht weiter. Ich starre perplex hinterher. Was war das gerade? Müsste er nicht ... aber ...
Plötzlich vibriert mein Handy. Schnell ziehe ich es aus meiner Tasche und sehe eine Nachricht von meinem Kollegen.
Sascha: ›Ach so! Ich habe Piet nichts gesagt.‹ Der Smiley mit Sonnenbrille scheint mich regelrecht zu verspotten.
Erleichtert atme ich auf, aber mein schlechtes Gewissen verstärkt sich nur noch mehr. Ich muss es ihm sagen. Aber wie, ohne ihm zu erklären, was in den letzten Tagen passiert ist? Immerhin liegt es nicht an mir, ihm mitzuteilen, dass er Opa wird.
Ich antworte mit einem einfachen ›Danke‹ an Sascha, stecke das Handy weg und folge meinem Chef nach unten.
Er hievt gerade eine Box auf die Anrichte und scheint in Gedanken versunken zu sein. Während ich überlege, wie ich am besten vorgehen soll, wird die Tür zum Flur aufgerissen und Vero steht plötzlich vor mir. Bevor ich etwas sagen kann, schnaubt sie laut und wirft mir einen abfälligen Blick zu.
»Was willst du hier?«, fragt sie scharf.
»Arbeiten?«, antworte ich leise in der Hoffnung, mit unserem Chef sprechen zu können, bevor sie eine Szene macht.
Sie schnaubt erneut und verschränkt die Arme vor der Brust. »Gehst du heute dann auch wieder früher, ohne Bescheid zu sagen?«
Ihr abfälliger Tonfall ärgert mich, doch ich erwidere nichts. Verständlicherweise ist sie immer noch sauer. »Hatte ich nicht vor«, antworte ich daher knapp.
»Oh, wow. Schön, dass du dann auch ein wenig kollegiale Stärke beweist.«
Jetzt schaffe ich es doch nicht mehr, selbst ein Schnauben zu unterdrücken. Seit ich hier arbeite, bin ich bis auf letzte Woche nie ausgefallen, während Vero in dieser Zeit so oft gefehlt hat, dass es kaum zu zählen ist. Das hat uns schon oft Probleme bereitet.
»Und was hast du da überhaupt im Gesicht?«, fragt sie plötzlich und kommt näher, um mich genauer zu betrachten.
»Das nennt man eine Brille«, entfährt es mir genervt, woraufhin sie zischend reagiert. Super. So viel zu ›Nett sein‹.
Um die Situation noch irgendwie zu retten, räuspere ich mich und schlucke meinen Sarkasmus runter, während ich versuche, sie anzulächeln. »Ich möchte mich übrigens entschuldigen.«
»Aha. Und wofür?«
»Gestern? Ich hatte zwar einen wichtigen Grund, aber es war trotzdem nicht okay, euch alleine zu lassen.«
Sie sieht mich einen Moment lang an, dann zuckt sie mit den Schultern. »Ist mir egal.«
»Was genau?«, hake ich nach, weshalb sie abermals mit ihren braunen Rehaugen rollt.
»Deine Entschuldigung. Du hast den Job hier eh nur wegen Felix, also bilde dir nicht ein, ins Team zu gehören.« Sie seufzt und wirft ihre Haare über die Schulter. »Ach, und ... ›das Ding‹ würde ich von der Nase nehmen. Damit siehst du echt hässlich aus.« Danach dreht sie sich um und lässt mich stehen.
Schockiert von so viel Gehässigkeit stehe ich sprachlos da. Jedes ihrer Worte tut so weh, dass ich nicht mal antworten könnte, wenn ich wollte.
Sofort sind die Zweifel zurück, denn sie hat recht. Ich gehöre nicht hierhin. Über kurz oder lang wird Piet mich wegschicken. Spätestens dann, wenn er weiß, wie ich mich gestern benommen habe.
»Jam!«
Das plötzliche Rufen meines Namens lässt mich aufsehen. Piet schaut mich an und winkt mich zu sich, weshalb ich mich langsam in Bewegung setze und unmittelbar vorm Tresen stehenbleibe. Doch anstatt mit mir zu sprechen, wühlt er weiter in dieser ominösen Box, schließt sie schlussendlich und stellt sie wieder auf den Boden. Nachdem er gehustet hat, wendet er sich mir erneut zu.
»Gehts dir gut?«, frage ich ihn leise, doch er macht eine wegwerfende Handbewegung.
»Bei dir alles okay?«, fragt er stattdessen. »Was war das eben mit Vero?«
»Nichts Wichtiges.«
»Sicher?« Sein eindringlicher Blick jagt mir eine Gänsehaut über die Arme. Schnell nicke ich, damit er nicht weiter nachbohrt. So wenig ich mich auch mit ihr verstehe, ich werde sie nicht bei unserem Chef anschwärzen.
Kurz kneift er die Augen zusammen und brummt etwas, das ich nicht ganz verstehe. Dann lächelt er mich jedoch an. »Also, wenn nichts ist, dann geh dich mal umziehen ...«
Wieder nicke ich, bin aber hin- und hergerissen. Vielleicht sollte ich ihm jetzt beichten, was passiert ist? Wie bei einem Pflaster, kurz und schmerzlos ... und wenn er mich dann rauswirft, muss ich mich zumindest nicht zweimal umziehen.
Sein brummendes Handy macht mir jedoch einen Strich durch die Rechnung. Ohne mich weiter zu beachten, sieht er drauf und seufzt laut. »Was gibt's, Sohn?«
»Hey Paps.« Als ich Felix' Stimme aus Piets Telefon höre, wird mir gleichzeitig heiß und kalt.
Augenblicklich drehe ich mich um und eile fast schon in Richtung Abstellkammer. Als ich die Tür allerdings öffne, stolpert mir Kim entgegen.
»Hui!«, ruft sie überrascht aus, als sie mich sieht. Im nächsten Moment steht sie wie ein Racheengel vor mir, mit schmalen Augen, die zu noch kleineren Schlitzen werden. »Ich bin echt sauel auf dich!«
Ich öffne den Mund, um zu antworten, aber sie lässt mir keine Chance. Ihr Gesichtsausdruck wechselt von Wut zu Verwunderung und sie greift nach meinem Kinn. Mit einem festen Ruck zieht sie mich näher zu sich ran. »Wow! Was hast du mit deinen Augen gemacht?«
Noch immer bringe ich keinen Ton heraus. Ohne Vorwarnung nimmt sie mir die Brille von der Nase und reibt an meinen Wangen rum, als ob sich meine Augenfarbe dadurch wieder ändern würde.
»Was macht ihr da?«, fragt Mandy, die plötzlich hinter Kim auftaucht und uns amüsiert betrachtet. Oder genauer gesagt Kim, die immer noch an mir rumfummelt.
»Schau mal, schau mal!«, ruft Kim laut und winkt unsere rothaarige Kollegin herbei, die näher kommt.
»Was ist denn los?«
»Jam kann zaubeln!«
Mandy betrachtet mich einen Moment lang und fängt dann so laut an zu lachen, dass Kim sie empört ansieht. »Das sind farbige Kontaktlinsen, Kimi. Die kann man ganz normal kaufen.«
»Wozu das denn?«, will Kim wissen und betrachtet mein Gesicht erneut.
»Als Sehhilfe, wie eine Brille«, erklärt Mandy weiter und nimmt das Gestell aus Kims Hand. Sie hält es mir vors Gesicht und blinzelt ein paar Mal. »Sag mir nicht, dass das Blau deine Sehhilfe war.«
»War es«, bestätige ich und schäme mich zutiefst. Wieso habe ich sie nur angelogen? Natürlich ist es meine Entscheidung, was ich mit meinem Körper mache, aber dennoch ...
»Hmm ...« Mandy setzt mir die Brille auf, wiederholt den Laut und macht mich damit nervös. »Sieht echt süß aus«, sagt sie schließlich und stupst mich gegen die Schulter. »Zum Glück hast du Felix, sonst würdest du jetzt in mein Beuteschema passen.«
»Ähm ...«
»Nur ein Scherz, Jam. Aber sie steht dir wirklich gut. Du solltest es so lassen.«
»Tlotzdem bin ich enttäuscht!«, knurrt Kim und verschränkt ihre Arme vor der Brust.
»Ich weiß ...«, flüstere ich, beiße mir auf die Lippe und atme tief ein. »Ich wollte euch nicht im Stich lassen. Es war nur ...«
»Was ist denn passiert?« Mandy, die nichts von alldem mitbekommen hat, schaut uns verwundert an.
»Jam hat unsele eiselne Legel geblochen!«
»Oh ...« Der Rotschopf nickt langsam, zuckt dann aber mit den Schultern. »Aber wahrscheinlich hattest du keine andere Wahl.« Ihre Worte klingen eher wie eine Frage, also nicke auch ich zustimmend. »Dann gibts wohl nur eine angemessene Strafe, oder Kimi?«
»Lichtig!« Die kleine Japanerin zeigt sofort ein breites Grinsen, wodurch sie kein bisschen sauer mehr aussieht.
»Okay ...?«, flüstere ich überwältigt von der Schadenfreude in den Gesichtern der beiden. »Und was für eine Strafe ist das?«
»Fül die geklaute Zeit, musst du Zeit mit uns velblingen.«
»Soll heißen?«
»Soll heißen ...«, wiederholt Mandy. »Du wirst ab jetzt jeden Samstagmorgen nach Schichtende mit uns frühstücken gehen und das nächste Mal gibst du aus.«
Verwirrt ziehe ich eine Augenbraue hoch. Dass ich ein Frühstück ausgeben soll, kann ich verstehen, aber warum wollen sie, dass ich ›jeden‹ Samstagmorgen dabei bin? Immerhin machen die beiden das schon seit Beginn meiner Zeit hier nur zu zweit.
»Also?«, fragt Kim erwartungsvoll. »Nimmst du die Stlafe an?«
Ich weiß nicht warum, aber irgendwie durchströmt mich ein Hauch von Wärme. Deshalb nicke ich zustimmend und beide Mädels haken sich bei mir unter, was diese Wärme noch weiter verstärkt.
»Na dann«, flötet Mandy gut gelaunt und tätschelt meinen Arm, während Kim den anderen fast schmerzhaft umklammert. »Lasst uns den Laden rocken!«
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