~21~
Die Gläser fallen in Zeitlupe. Millimeterweise kommen sie dem Boden näher, während ich regungslos verharre und nur zuschaue. Mit einem lauten Klirren zerspringen sie in tausende Teilchen.
Ein »Fuck!« erklingt vor mir, gefolgt von meinem Namen irgendwo, der mich aus meinen Gedanken reißt. Sascha eilt auf mich zu, sein Gesicht ist besorgt.
»Alles okay? Was ist passiert?«, fragt mein Kollege, als er mich erreicht.
Der Typ vor mir gestikuliert wild und entschuldigt sich mehrfach. »Ich habe sie wirklich nicht gesehen«, beteuert er, obwohl es nicht seine Schuld war. Sascha spricht mich erneut an, doch ich kann immer noch nicht antworten. Mein Blick bleibt auf das Bier gerichtet, das sich über den Boden verteilt.
Langsam setzt mein Verstand ein. ›Aufräumen!‹, flüstert er mir wie durch Watte zu. Wortlos bücke ich mich und beginne damit, jeden Splitter einzeln aufzusammeln – zuerst die größeren, dann ...
»Kim, hol mal den Mopp«, sagt der Russe, der sich neben mich kniet und meine Hand festhält. »Und du, lass das!«
Ich hebe meinen Blick und treffe auf seinen. Vielleicht hätte ich das besser gelassen, denn er sieht enttäuscht oder sogar sauer aus – beides Emotionen, die mich gerade überfordern. Ich will meinen Fehler doch wiedergutmachen!
Plötzlich zieht er mich hoch. Kurz darauf taucht Kim auf und schaut mich genauso komisch an. Oder bilde ich mir das nur ein? Beschämt senke ich meinen Kopf.
»Lass mich das machen.« Ich versuche nach dem Wischmopp zu greifen, aber Sascha lässt mich nicht los und Kim zieht den Stiel blitzschnell außer Reichweite. Ich kann nur zusehen, wie sie meinen Mist beseitigt.
»Komm mit«, brummt er und zieht mich hinter sich her. Ich leiste keinen Widerstand. Warum auch? Heute hat er das Sagen, da muss ich es ihm nicht noch schwerer machen als ohnehin schon.
Gemeinsam betreten wir die Küche durch die Schwingtür, in der Vero steht und uns ignoriert. Seit ihrer Rückkehr trägt sie oft Kopfhörer bei der Arbeit, so auch jetzt. Sascha führt mich nach hinten, dreht das Wasser im Becken auf und hält meine Hand darunter.
»Kalt ...«, jammere ich sofort, doch ihn stört es nicht.
»Stell dich nicht so an. Wer ist so blöd und packt direkt in Scherben?«
Wie gebannt starre ich auf unsere Hände und das Wasser, das rötlich im Abfluss verschwindet – ebenso wie zahlreiche Splitter.
Nach einer gefühlten Ewigkeit dreht mein Kollege endlich den Hahn zu und betrachtet meine Handinnenfläche. »O Mann ...«, murmelt er kopfschüttelnd, lässt mich los und geht zum Erste-Hilfe-Kasten.
»Ist doch nichts ...«, flüstere ich. Leider quillt dennoch neues Blut nach. Es ist nicht viel, aber ich kann so nicht arbeiten, da ich die Gläser verschmutzen würde.
Sascha antwortet nicht, kehrt mit einer Pinzette und einem Pflaster zurück und nimmt erneut meine Hand. »Stillhalten!«, brummt er, und genau das tue ich in den nächsten Minuten. Dabei kann ich nicht verhindern, das Gesicht zu verziehen, während er einen Splitter nach dem anderen herausfischt.
Nachdem er das Pflaster großzügig über die Wunde geklebt hat, wendet er sich unserer Kollegin zu. »Vero, gehst du bitte Kim vorne helfen?«
Sie hebt abrupt den Kopf und tippt auf ihre Ohren, als ob sie ihn nicht gehört hätte. Für wie blöd hält sie ihn?
Während Sascha sichtlich genervt die Augen verdreht, atme ich tief ein. Die Spannung zwischen ihnen ist spürbar. Wie schaffen sie es, zusammen in der Küche zu arbeiten, ohne aneinander zu geraten?
»Veronika!«
Schnaubend knallt sie den Löffel auf die Arbeitsfläche. »Alles nur, weil Piet nicht da ist!« flucht sie und verlässt stampfend ihren Platz.
»Und jetzt zu dir«, sagt Sascha mit einem Blick, der mehr als nur Ärger ausdrückt. »Was zum Teufel ist los mit dir?«
Ertappt beiße ich mir auf die Lippen. »Ich muss zurück ...«
»Du musst jetzt gar nichts«, unterbricht er mich grummelnd und versperrt mir mit verschränkten Armen den Weg. »Nimms mir nicht übel, Jam, aber heute bist du untragbar.«
»Ich weiß ...« Dass ich den Kunden übersehen habe und dadurch mehrere Gläser zerbrochen sind, war nur das Sahnehäubchen auf dem Ganzen. »Es tut mir wirklich leid.«
»Mir ist schon klar, dass du das nicht mit Absicht machst«, sagt er leise und hält inne. Will er, dass ich mich erkläre? Aber wie soll ich das machen? Ich kann ihm doch nicht einfach sagen, dass ich mir um Felix Sorgen mache. Und erst recht nicht, warum!
Sascha seufzt und reibt sich über das Gesicht. »Du weißt, dass ich normalerweise nicht der Chef-Typ bin, aber heute brauche ich dich wirklich bei der Sache, besonders weil Mandy freihat.«
Verdammt! Er hat ja recht!
Warum musste Felix auch vor Schichtbeginn auf die Idee kommen, heute Abend noch mit Ivy zu reden? Nicht, dass ich gegen das Gespräch wäre – im Gegenteil! Aber diese Spontanaktion treibt mich echt in den Wahnsinn!
»Ich geb' mir Mühe«, verspreche ich meinem Kollegen mit gesenktem Kopf.
»Das reicht mir nicht. Beim nächsten Mal könntest du nicht nur dich selbst gefährden, sondern auch andere.«
Ich beiße erneut auf meine Lippe und spüre die Wut in mir hochkochen. Auf Sascha, weil er weiterbohrt, obwohl es ihn nichts angeht. Auf Felix, weil er mich immer in solche Situationen bringt und vor allem ... auf mich selbst. Warum kann ich einfach nicht arbeiten, obwohl Felix versprochen hat, sich zu melden, sobald alles geklärt ist? Warum nagt dieses miese Gefühl an mir und blockiert jeden klaren Gedanken?
»Ich ...« Was will ich Sascha überhaupt sagen? Solange keine Nachricht von Felix kommt, kann ich mich einfach nicht konzentrieren. Verdammt nochmal! Ich bin schon seit über zwei Stunden hier – so lange kann ein Gespräch doch gar nicht dauern! In meinem Körper kribbelt es unangenehm und kleine Blitze durchzucken ihn. Auch meine Atmung wird schneller. Was mache ich bloß, wenn Ivy ...
Plötzlich nimmt Sascha mich in den Arm. »Beruhig dich«, flüstert er und streicht mir sanft über den Rücken. Er sagt weitere Worte, die ich nicht verstehe. Ist das Russisch? Der Klang ist jedenfalls beruhigend genug, damit ich tief Luft holen kann.
»So ist es gut.« Genauso abrupt lässt er mich wieder los. »Was auch immer dein Problem ist, reden hilft. Außenstehende Ohren können wahre Wunder bewirken.«
»Eine Weisheit deiner Babuschka?«
Endlich huscht ein Grinsen über sein Gesicht. »Nee, einfach 'ne Lektion, die mir selbst den Arsch gerettet hat.«
Ich nicke langsam und atme erneut tief ein. Sein Angebot ist nett und eine leise Stimme in mir möchte sich ihm anvertrauen. Doch die lautere Stimme der Unsicherheit hält mich zurück.
Er legt seine Hand auf meine Schulter. »Mein Angebot steht. Aber jetzt müssen wir zurück an die Arbeit. Schaffst du es am Tresen?«
Dankbar nicke ich erneut und lächele ihn an. »Vielleicht komm' ich darauf zurück.«
»Hoffentlich«, sagt er und schiebt mich sanft zur Tür.
Kaum stehe ich am Tresen, wirft Vero den Lappen weg und mustert mich argwöhnisch. »Seit wann verstehst du dich so gut mit Sascha?«
Bevor ich antworten kann, lenkt eine Person hinter ihr meine Aufmerksamkeit auf sich. Das gibts doch wohl nicht! Wo kommt denn der schon wieder her? Und als wäre er mein Stammgast, hebt er die Hand und winkt mir zu.
Vero dreht sich um, als ich leise »David« murmele. Zumindest schaffe ich es, ihm zuzunicken.
»Was darf es sein?«, fragt sie mit einer zuckersüßen Stimme, die mich zum Schnauben bringt. Aber gut, wenn sie ihn bedient, muss ich es nicht tun.
»Nichts, danke. Ich bin nur wegen Jam hier.«
Moment mal, was? Seine Augen treffen auf meine, funkeln amüsiert und lassen mich erstarren.
»Jam?«, wiederholt Vero, sieht zwischen uns hin und her und schüttelt resigniert den Kopf. »Was ist hier passiert, als ich nicht da war?«
Einiges ... Aber das werde ich ihr wohl kaum alles erzählen.
»Ähm ...«, stammele ich und fühle mich selten dämlich. »Was kann ich für dich tun?« Mein Kopf schreit vehement ›Nein‹, doch ich setze mich in Bewegung und gehe auf ihn zu.
Statt direkt zu antworten, stützt er seine Hände aufs Kinn und sieht mich einfach nur an. Irritiert hebe ich eine Augenbraue, was ihn schmunzeln lässt und mich vollends verwirrt.
»Ich bin heute nur der Bote.« Seine Hand verschwindet kurz, dann legt er einen Zettel auf den Tisch.
Nervosität macht sich sofort in mir breit. »W-was ist das?« Verdammt! Nicht schon wieder!
David grinst breiter. »Ein Geschenk.«
Unwillkürlich verschränke ich die Arme vor der Brust und betrachte das Papier wie eine atomare Waffe.
»Es ist von DJ«, fährt er fort, weshalb ich mich am liebsten selbst ohrfeigen würde und meine Schutzhaltung aufgebe. Langsam hebe ich die Hand, um es vom Tresen zu ziehen. »Er wollte sich bedanken.«
Mechanisch nicke ich und entfalte das Blatt. Dort ist ein kleiner Junge abgebildet, der zwei größere Personen an den Händen hält – ein niedliches Bild von uns im Park, das mir kurzzeitig eine intakte Familie vor Augen führt. Irgendwie stolz bestaune ich die Bleistiftzeichnung. Für sein Alter malt er erstaunlich gut. Vor allem bei Felix' Locken hat er sich wahnsinnig viel Mühe gegeben. Ich bin so gerührt, dass mir die Worte fehlen.
»D-danke«, murmele ich überwältigt und sehe David an. Seine Augen fangen mich ein und blitzen plötzlich auf, was mich nervös schlucken lässt. Glücklicherweise ist dieser Moment schnell vorbei, denn er räuspert sich leise und zieht seine Lippen zu einem widerwärtigen Grinsen zusammen.
»Und ich will meinem Sohn ein gutes Vorbild sein und mich deshalb auch nochmal bei dir bedanken. Vielleicht bei einem Abendessen?«
Sofort höre ich Felix' Stimme in meinem Kopf, der mir wieder diesen absurden Vorschlag macht.
»Nein!«, platzt es aus mir heraus, was sicher ziemlich unhöflich klingt. Deshalb schiebe ich schnell »Ist echt nicht nötig« hinterher.
David nickt nur langsam, als ob ich ihm gerade keinen erneuten Korb gegeben hätte. Mann, ich muss hier echt weg! Doch bevor ich mich abwenden kann – er will ja eh nichts trinken – räuspert er sich wieder.
»Ist es wegen meines Sohns oder wegen deiner Freundschaft-Plus-Sache?«
Muss ich jetzt wirklich erklären, warum ich nicht mit ihm ausgehen will? Was für ein Idiot! Er scheint echt nicht damit klarzukommen, wenn er mal eine Abfuhr bekommt.
»Weder noch«, antworte ich knapp.
»Was dann?«
Ich öffne den Mund und schließe ihn wieder. Ihm zu sagen, dass ›er‹ das Problem ist, geht einfach nicht. Das wäre nicht nur unhöflich, es würde mich auch verraten. Schnaubend schüttele ich den Kopf, um mich zu beruhigen. »Akzeptier' es einfach.«
»Wenn du mir einen Grund nennst.«
»Echt jetzt, D-David? Ich brauche keinen Grund, um ›Nein‹ zu sagen. Das ist mein gutes Recht!«, fauche ich.
Unsere Blicke treffen sich wieder und abermals entdecke ich etwas in seinen Augen, das mich stört. Wie zur Hölle schafft er es nur, mich ständig mit seinem Blick einzuschüchtern?
»Weißt du, was mir aufgefallen ist?«, fragt er rhetorisch. »Wenn deine Augen braun sind, bist du schüchterner. Als ob die Farbe deine Persönlichkeit verändert.«
Verdattert starre ich ihn einen Moment lang mit offenem Mund an. »Quatsch ...«
David hingegen lacht nur. »Oh doch. Gestern hast du kein Wort gesagt und heute weist du mich eiskalt ab.«
»D-das hat nichts mit der Farbe zu tun ...«
»Ach nein?«
Bevor ich antworten kann, brummt mein Handy in meiner Gesäßtasche. Normalerweise finde ich es unhöflich, während eines Gesprächs auf das Smartphone zu schauen. Doch angesichts meines Gesprächspartners und der Nachricht, auf die ich warte, tue ich es dennoch. Als ich jedoch das Display entsperre, bin ich so schockiert, dass es mir fast aus den Händen gleitet.
Felix: ›Wir wollen es noch einmal versuchen. Es ist das Beste für unser Kind.‹
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