~16~
Überforderung durchflutet mich, während ich neben Felix in diesem riesigen Laden stehe und mich an ihn klammere. Ihn stört das jedoch kein bisschen. Viel eher amüsiert er sich köstlich darüber, dass ich ihm so auf die Pelle rücke.
Es ist seine Idee gewesen, vor meiner Schicht noch schnell einkaufen zu gehen und dafür hat er ausgerechnet dieses Mega-Monster ausgewählt. Normalerweise gehe ich immer in die gleiche Filiale meiner Lieblings-Discounterkette, wo ich alles schnell finde und wieder rauskomme. Mein bester Freund hingegen betrachtet Einkaufen als eine Art Wellnessurlaub.
»Vielleicht sollten wir das öfter machen, wenn du dich dann immer so süß verhältst.«
Ich schnaube und blase meine Wangen auf, lasse ihn aber dennoch nicht los. Diese großen Läden wecken in mir unangenehme Erinnerungen.
»Du weißt aber schon, dass wir wie ein total verliebtes Pärchen aussehen, oder?«
»Mir egal. Sieh zu, dass du deine blöde Liste abgearbeitet bekommst!«
»Jawohl, ›Sweetie‹.«
»Arschkeks.«
Felix legt mir seinen Arm um die Taille, gibt mir einen Kuss auf die Wange und führt uns durch die Gänge.
Diese Aufteilung macht für mich absolut keinen Sinn. Welcher Vollhonk hat sich bitte ein Konzept überlegt, bei dem ganz vorne die schnell verderblichen Kühlsachen liegen? Bis zur Kasse ist der Scheiß doch unbrauchbar!
In der Gemüseabteilung betrachtet Felix verschiedene Sorten, füllt den Korb und streicht penibel alles auf seiner Liste durch. Ordnungsfanatiker können so anstrengend sein. Einfach drüber kritzeln würde doch auch reichen!
»Welches Grünzeug bevorzugst du, Sweetie?« Er deutet auf zwei verschiedene Sorten Kohl, weshalb ich genervt die Augen verdrehe.
»Ich schwör' dir, wenn du mich weiterhin ärgerst, schläfst du heute Nacht auf der Couch!«
Er lacht laut, was einige Blicke auf uns zieht und mir die Röte ins Gesicht treibt. Während ich mich am liebsten verstecken würde, hebt er mein Kinn an und küsst mich, wodurch eine Frau in der Nähe entzückt seufzt.
»Wirst du das wohl lassen?«, flüstere ich an seinen Lippen, doch er schüttelt nur den Kopf und küsst mich erneut.
Das gibt Rache! Als er sich von mir löst, schiebe ich meine Unterlippe vor, öffne die Augen etwas weiter und sehe ihm leicht blinzelnd entgegen – mein Hundeblick.
Sofort beißt Felix sich auf die Lippe. Ich kann den Blick nicht lange aufrechterhalten, weil ich grinsen muss, aber es reicht, um meinen besten Freund dazu zu bringen, sich etwas zu beeilen. Aus einem anderen Beweggrund, aber dennoch.
»Das ist nicht fair, Jam«, murmelt er, hält den Korb auf Hüfthöhe vor sich und sieht mich strafend an, doch ich kichere nur.
»Selbst Schuld. Frag doch das ›Grünzeug‹, ob es Mitleid mit dir hat.«
Für einen Moment lasse ich ihn los, damit ich keine Retoure bekomme und werfe ihm mit ausreichend Abstand einen Luftkuss zu. Aber es ist Felix, mit dem ich mich angelegt habe. Ohne mit der Wimper zu zucken, schnappt er sich einen Apfel und wirft ihn nach mir.
Was er dabei immer vergisst, ist die Kraft in seinen Armen. Das blöde Obst fliegt so weit, dass ich mehrere Schritte nach hinten stolpere, um es aufzufangen und dabei mit jemandem zusammenstoße. Während ich hinter mir ein »Uff« höre, quieke ich »Verzeihung!«, drehe mich um und stehe vor ... David.
Fuck! Wieso ist der denn hier? So was kann auch echt nur mir passieren!
Ich senke panisch den Kopf, reiße meine Brille vom Gesicht und spüre, wie meine Hände feucht werden. Ausgerechnet jetzt, wo ich einmal auf Felix gehört habe und nicht meine Kontaktlinsen trage, treffe ich auf ihn! Verdammte Scheiße! Dumm nur, dass ich jetzt nichts mehr erkenne. Ich bin blind wie ein Maulwurf.
»Jam«, höre ich meinen Namen aus zwei Richtungen, doch ich starre stur zu Boden. Verzweiflung überrollt mich und für einen Moment fühle ich mich wieder wie das ängstliche kleine Mädchen, das nach seiner Bezugsperson sucht.
»Jam, hey, alles okay«, beruhigt mich Felix und legt mir wieder seinen Arm um die Taille. Sein unverwechselbarer Geruch verrät mir, dass er es ist. Trotzdem gelingt es mir kaum, meine zitternden Hände zu verbergen.
»So sieht man sich wieder«, sagt David mit monotoner Stimme. Es klingt, als wäre er genervt von der unerwarteten Begegnung.
»Die Welt ist eben klein«, antwortet Felix mit einem amüsierten Unterton. Doch dann breitet sich ein unangenehmes Schweigen aus, während ich das Gefühl habe, etwas Wichtiges zu verpassen, da ich ihre Gesichter nicht sehen kann.
Nach ein paar Sekunden räuspere ich mich leise und murmele: »Ähm ... wir müssen jetzt los. Ich muss später noch ...« Ich wollte eigentlich ›arbeiten‹ sagen, doch, bevor ich meinen Satz beenden kann, werde ich von einem lauten Schniefen unterbrochen. Neben mir sehe ich die Umrisse eines kleinen Kindes, das an meinem Shirt zupft.
»Hast du ... kannst du ...?«, fragt es schluchzend.
Ohne zu zögern, setze ich meine Brille auf und sehe ein kleines Mädchen mit Tränen in den Augen und Schnodder an der Nase. Sie klammert sich immer noch an mich, also gehe ich vor ihr in die Hocke.
»Wen suchst du?«
Das Mädchen wischt sich mit dem Ärmel über die Nase und verschmiert dabei Rotz über ihr Gesicht. Sie sieht aus wie sechs oder sieben Jahre alt, mit dichten dunklen Haaren und runden Pausbacken.
»Mein Papa ... ich ... ich hab ...« Der nächste Schluchzer schüttelt sie durch und ich weiß sofort, dass die Situation ein paar Nummern zu groß für mich ist. Ich kann doch nicht mit einem fremden Mädchen durch die Gänge laufen. Das könnte falsch verstanden werden und am Ende sehen wir aus wie Entführer. Was soll ich bloß tun?
»Wie sieht dein Papa denn aus?«, fragt David, der plötzlich neben mir kniet und mit einer ruhigen und melodischen Stimme spricht. Oder bilde ich mir das nur ein?
Die Kleine schaut ihn an, antwortet aber nicht. Ihre Tränen fließen immer stärker.
»Wir könnten sie zur Info bringen«, murmelt Felix, woraufhin ich sofort ein energisches »Nein!« ausstoße und überrascht feststelle, dass dieses Wort auch aus Davids Mund gekommen ist.
»Darf ich dich hochheben?«, fragt er an das Mädchen gewandt, das jedoch sofort ihren Kopf schüttelt. »Ich kann dich auf meine Schultern setzen. Dann bist du riesengroß und kannst über die Regale sehen. So finden wir deinen Papa bestimmt.«
Sie schaut mich an und ich bilde mir ein, eine stumme Frage in ihren Augen zu erkennen. Das überfordert mich jedoch völlig. Immerhin kann ich am allerwenigsten beantworten, ob man David vertrauen kann. Doch da es hier nicht um mich geht, unterdrücke ich meine Abneigung ihm gegenüber. Vorsichtig deute ich mit dem Daumen in seine Richtung, ohne ihn anzusehen. »Er ist echt groß. Einen Versuch ist es wert, meinst du nicht?«
Es dauert einen Moment, dann nickt sie zaghaft und hebt ihre kleinen Arme. David schenkt ihr ein Lächeln, greift unter ihre Achseln, setzt sie behutsam auf seine Schultern und richtet sich auf. »Wooow«, jauchzt sie und greift in seine Haare, was ihn gar nicht zu stören scheint.
Ich sehe zu ihr hoch und kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Es fühlt sich gut an, ihr helfen zu können. Auch wenn es nur ein bisschen ist.
»Wie heißt du?«, frage ich sie, während sie sich bereits eifrig umsieht.
»Maya. Maya Richter.«
»Okay, Maya. Das hier«, ich zeige auf meinen besten Freund, »ist Felix. Er geht jetzt zur Info und sagt Bescheid, dass wir dich gefunden haben.«
Sie strahlt mich an und ich sehe zu meinem Lockenkopf, der sofort nickt und sich in Bewegung setzt. Erst als er außer Sichtweite ist, wird mir klar, dass ich jetzt mit David alleine bin. Okay, mit David und Maya, aber trotzdem.
Unbeholfen deute ich in Richtung Mittelgang. »W-wir sollten ...« Meine Stimme versagt mir den Dienst, doch David nickt wortlos und geht voran. Sein federnder Gang sorgt dafür, dass Maya vergnügt quietscht und um nicht wie bestellt und nicht abgeholt dazustehen, folge ich ihnen.
Am Rand bleiben wir stehen, denn der Durchgang ist maßlos überfüllt. Kein Wunder, dass Maya ihren Papa verloren hat. Ein Blick in beide Richtungen und selbst mir bricht der Schweiß aus. Einkaufen an einem Samstagnachmittag ist eine absolut beschissene Idee!
»Du trägst 'ne Brille?«, fragt David plötzlich und ich zucke zusammen, als hätte er mich geohrfeigt. Verdammt, natürlich ist es ihm aufgefallen. Dieses ramponierte Modell in Übergröße ist ja auch nicht zu übersehen.
»Ähm ja ... immer, wenn ich nicht arbeite.«
»Aha.« Warum klingt er so genervt? Er hat doch die Frage gestellt!
»Achtung, Achtung. Die kleine Maya sucht ihren Papa auf Höhe der Gemüseabteilung.«
Na endlich! Ich dachte schon, Felix hätte sich verlaufen. Allerdings scheint niemand nach jemandem zu suchen. Die gehetzten Personen um uns herum beachten uns gar nicht.
»Und warum farbige Kontaktlinsen?«
Verblüfft schaue ich auf und damit genau in Davids Augen, die mich eingehend mustern. Fuck! Hat er jetzt herausgefunden, dass ich es bin?
»Ähm ...«
»Maya!« Ein Mann in seinen Vierzigern eilt auf uns zu, dabei rempelt er mehrere Personen an. David reagiert sofort und hebt die Kleine von seinen Schultern, hält sie aber fest, bis er bei uns ist.
»Papa ...«, schluchzt sie und fällt in seine Arme, als er sich vor sie kniet. Dieses Bild löst eine Vielzahl an Emotionen in mir aus. Vor allem Freude darüber, dass Maya nicht das Gleiche erleiden muss, wie ich damals.
Kurz flackern Bilder vor meinen Augen auf, wie ich stumm weinend mitten im Gang stehe und meine Pflegemutter nicht finden kann. Dabei war ich brav und bin am Wagen geblieben, aber mein Pflegebruder hat mich geschubst, ich bin gefallen und sie sind einfach weitergegangen.
Mehrfach atme ich tief ein, um die Erinnerung zu vertreiben, doch der Schmerz ist schon da und überrollt meinen Körper. Nervös schaue ich mich nach Felix um, der immer noch nicht aufgetaucht ist. Was macht er nur?
»Ich danke Ihnen vielmals. Wie kann ich mich nur erkenntlich zeigen?«, fragt der Mann und greift nach meiner Hand, die ich ruckartig hinter meinem Rücken verstecke. Das gibts doch nicht. Ich kann doch nicht ...
Mein Blick zuckt zu David, der mich erneut mustert, und für einen kurzen Moment sehe ich meinen Pflegebruder in ihm. Derjenige, der mir nach ich über zwei Stunden Wartezeit an der Info gesagt hat, dass alles meine Schuld sei. Ich wäre so still, da vergisst man schon mal, dass ich überhaupt existiere.
Plötzlich wendet sich David dem Mann zu, der noch immer erwartungsvoll vor uns steht. »Passen Sie einfach gut auf Ihre Tochter auf.«
Ihr Vater nickt sofort, der brünette Kerl neben mir tut es ihm gleich und ich stehe noch immer wie gelähmt da. Verdammte Scheiße!
»Jam!« Felix taucht neben mir auf und zieht mich in seine Arme. Ich will mich nicht vor David, dem Mädchen und ihrem Vater so zeigen, aber ich kann nichts dagegen tun, dass ich mich an meinem besten Freund festkralle wie an einem Rettungsring.
Ausgerechnet Mayas hohe Stimme reißt mich zurück ins Hier und Jetzt. »Hattest du auch Angst?« Nur langsam schaffe ich es, mich ein Stück von Felix zu lösen und blicke in ihr Gesicht. Ihre zwei großen Kulleraugen sehen mich erwartungsvoll an. »Er«, sie zeigt auf David, »hat doch auf uns aufgepasst.«
Es ist irgendwie niedlich, dass sie mich mit einschließt, auch wenn es frustrierend ist. Immerhin bin ich erwachsen und sollte mich entsprechend verhalten.
»Weißt du«, antwortet mein bester Freund für mich, »auch große Mädchen sind nicht gern allein in einem so großen Laden.« Er zwinkert ihr zu und Maya kichert.
Diese Situation wirkt für mich genauso surreal wie süß. Es ist das erste Mal, dass ich Felix in einer netten Interaktion mit einem Kind erlebe.
»Dann ...« Maya atmet tief ein, sieht zwischen David und Felix hin und her. »Pass gut auf sie auf«, sagt sie, während sie ihren Zeigefinger hebt, was alle zum Lachen bringt. Selbst ich lache mit, und es fühlt sich unglaublich befreiend an. Es ist, als ob eine unsichtbare Last von meinen Schultern genommen wird.
Obwohl meine Finger nach wie vor kribbeln und mein Herz bis zum Hals schlägt, fühle ich mich besser. Sie, ein kleines Mädchen, das vor Minuten noch selbst panische Angst gehabt hat, hat mir geholfen. Sie hat mir gezeigt, dass es gar nicht so schlimm ist und sie hat recht. Felix ist bei mir. Er lässt mich nicht allein.
»Also dann ... noch mal, danke«, sagt Mayas Papa, nickt uns zu und auch sie winkt uns. Sogar bis sie im nächsten Gang verschwinden, winkt sie weiter.
»Ich muss dann auch mal wieder«, meint David im Begriff sich abzuwenden, dreht sich jedoch noch einmal um und sieht mich an. »Aber vorher: Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Deine Frage?«
»Deine Augenfarbe?«
Verdammt. Ich dachte, er hätte es vergessen. Aber eigentlich ist es mir lieber, dass er das wissen will, als wenn er jetzt auf meiner Angst rumreiten würde. Ich bin sowieso überrascht, dass er noch keinen abfälligen Kommentar abgegeben hat.
»Blau mag ich lieber.«
»Aha.«
Wow, ich hasse dieses Wort eh schon, aber durch seinen abfälligen Ton fühle ich mich direkt wieder wie eine kleine Kakerlake.
»Braun steht dir wesentlich besser«, murmelt er, sieht mich intensiv an und dreht sich plötzlich weg. Anschließend geht er. Einfach so, ohne ein weiteres Wort. Perplex starre ich ihm hinterher. Was zum ... Felix fängt an zu lachen und legt einen Arm um meine Schulter.
»Was ist daran so witzig?«, frage ich genervt und sehe zu ihm.
Mit einem Schmunzeln stupst er mir gegen die Nase. »Lust auf 'ne Wette?«
»Mit dir bestimmt nicht.«
»Langweilerin.« Erst wirft er einen kurzen Blick auf seine Liste, nickt knapp und zwinkert mir zu. Dann schnappt er sich meine Hand und verflechtet unsere Finger miteinander »Aber ... weil du so tapfer warst, verrate ich dir ein Geheimnis.«
Irritiert hebe ich eine Augenbraue, was ihn wieder breit grinsen lässt. »Er steht auf dich. Aber so richtig.«
»Du hast sie nicht mehr alle«, brumme ich schnaubend.
»Und du solltest deine Brille mal wieder putzen.«
»Träum weiter, Arschkeks.«
Leider scheint ihn dieser Gedanke so sehr zu erheitern, dass er einen Witz nach dem anderen ablässt. Nebenbei arbeiten wir aber zumindest die letzten Punkte seiner überaus nervigen Liste ab, während wir gefühlt noch Stunden durch den Laden irren und ich ihm am liebsten den Kopf abreißen würde.
Er spinnt doch! Das macht überhaupt keinen Sinn!
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