CHAPTER ONE ━ ECHOES
BEAUTIFUL TRAGEDY.
( PART EINS ━ LOST GIRL ! )
( CHAPTER ONE ━ ECHOES )
❝I DO NOT KNOW WHO I AM.❞
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SANFT WIRBELTEN DIE STAUBFLOCKEN DURCH DIE LUFT, das Sonnenlicht, das durch die verschmierten Fenster hineinfiel, beleuchtete die einzelnen Partikel, tauchte den kleinen Raum in ein weiches Licht, und warf seine Strahlen auf das Mädchen, das auf der Fensterbank saß, ein kupferner Schimmer auf ihrem hellbraunen Haar.
Anne seufzte leise.
Ihre Hände über den Knien verschränkt, wirbelten ihre schlanken Finger den goldenen Ring - den Ring mit dem rosafarbenen Diamanten und den winzig kleinen Juwelen - schneller und schneller zwischen sich umher.
Draußen war es eiskalt, ein weiterer, endloser Wintertag in der Einöde Sibiriens.
Anne war dies gewohnt - die eiserne Kälte, die Temperaturen, die oft unter minus zwanzig Grad fielen - die harte Arbeit, nahe des Hauses, das Hacken von Holz für den verklinkerten Kamin - die Langeweile, wenn das Esszimmer geschlossen, und der Unterricht zu Ende war - die endlosen Weiten, stumm und unheilvoll, der düstere Wald mit den verzuckerten Tannen, die gefährlichen Abhänge, verbogen unter einer zentimeterdicken Schneeschicht - und die spärlichen einfachen Häuser aus morschem Holz und kaltem Stein.
Schneller und schneller rauschte der Ring zwischen ihren Händen hin und her, von einem Finger zum anderen.
Er war das Einzige, das sicher war. Das Einzige, das Bestand hatte. Das Einzige, das sie besaß - das ihr gehörte. Sonst nichts. Nicht die Kleider, die sie trug, nicht das Essen, das sie zu sich nahm, und auch nicht die spärlichen Habseligkeiten, die man ihr zugestand - nichts davon gehörte ihr.
Nichts außer diesem Ring. Diesem einfachen, schmalen Band, geschmückt mit kostbaren Juwelen. Sie wusste nicht, woher er kam - hatte sie ihn geschenkt bekommen? Sie konnte ihn doch wohl nicht gestohlen haben - oder? Sie war nicht diese Art von Person - jemand, der es übers Herz bringen würde, anderen etwas wegzunehmen - sie war zu sanft, zu gut - Sie konnte - nein, wollte - nicht glauben, dass sie zu so etwas Grausamem fähig war -
»Anne?«
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, ihr Körper machte einen Satz, als die Stimme ihrer Mitbewohnerin, ihrer Freundin, ihrer Schwester an ihre Ohren drang.
Anne blickte auf. Das Sonnenlicht fing sich in ihren Augen, saphirblau, mit türkisfarbenem Schimmer, wie der Ozean an einem warmen Sommertag.
Nadia stand im Türrahmen, der zum Badezimmer führte, die braun gelockten Haare feucht vom Duschen, eine Wolke aus Orangenduft hinter sich herziehend. Sie trug ein rosafarbenes, langärmeliges Shirt und eine dunkelblaue Jeans mit halbhohen, braunen Schnürstiefeln.
»Du bist ja noch nicht einmal angezogen. Wo warst du nur wieder mit deinen Gedanken?«
Nadias Stimme war härter als Annes - durchsetzungsfähiger, stärker, während Annes Worte stets sanft und zaghaft klangen, wie ein schwacher Windhauch inmitten eines wütenden Sturms.
Nadia war realistisch, stets auf der Hut, ihre dunkelbraunen Augen ernst und wachsam, während Anne den Großteil des Tages am Fenster saß und vor sich hin träumte, in ihren Händen eine heiße Tasse Kakao.
Nadia war es gewohnt, immer ein Auge auf das ältere Mädchen zu haben - sie zu beschützen, sie vor jeglichen Gefahren zu bewahren - auch vor den Albträumen, die Anne des Nachts plagten, in einer Welt aus Feuer und Eis.
Anne hatte keinerlei Erinnerungen an ihre Kindheit. Hin und wieder hörte sie etwas an ihre Ohren dringen - das Geräusch von Wasser auf Stein, das glockenhelle Lachen einer Frau, das Gekreische von Kindern. Hin und wieder sah sie etwas vor ihrem inneren Auge aufblitzen - weiße Laken im leichten Wind, frisches, nasses Gras, ein blumenbesticktes Kleid, Mädchen, die sich an den Händen hielten, und in einem prachtvollen Garten im Kreis drehten, lachend, unbeschwert, ein Meer aus Blumen, ein prunkvoller Saal - doch so schnell, wie diese Erscheinungen auftauchten, so schnell waren sie auch wieder verschwunden.
Anne räusperte sich und mied Nadias Blick, als sie das schmale goldene Band über ihren Zeigefinger schob, und vorsichtig von der Fensterbank hinunterstieg.
»Wir kommen zu spät zum ersten Kurs«, meinte Nadia nur - mit ungewohnt sanfter Stimme, und schob Anne vor den Kleiderschrank aus Kiefernholz. Am Rahmen musste sie aufpassen - wenn nicht, blieben kleine Splitter an der Haut haften, und es konnte Stunden dauern, diese wieder zu entfernen.
Eilig streifte Anne den locker fallenden Morgenmantel ab, den sie sich nach dem Duschen übergeworfen hatte, und griff wahllos nach einem Set Kleidung für den Tag.
»Weißt du, vielleicht ... solltest du aufhören, dich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Was geschehen ist, ist geschehen - und du kannst nichts daran ändern.«
»Nicht das schon wieder«, stöhnte Anne, doch es kam gedämpft, denn sie kämpfte soeben mit einem hellbraunen Flanellblusenkleid.
»Doch, das schon wieder.«
Helfende Arme zogen ihren Kopf durch den Halsausschnitt. Nadia lehnte an der Zimmertür und sah zu, wie Anne hastig in ihre braunen Schnürstiefeletten schlüpfte.
»Du wirst bald achtzehn«, sagte Nadia, und ihre Stimme nahm einen anderen Tonfall an - leiser, bedrückter, mitfühlender. »Du weißt, was das bedeutet.«
( Achtzehn. )
Das bedeutete, keine Unterrichtsstunden im Südzimmer mehr, keine unbeschwerten morgendlichen Gespräche - achtzehn bedeutete Arbeit, wenn sie denn einen Beruf fand, der zu ihr passte. Achtzehn bedeutete, erwachsen zu werden, eine Heimat zu finden - und eine Familie zu gründen. Ihre Familie. Aber wie konnte sie jetzt an eine Familie denken, wenn sie sich noch nicht einmal an ihre Familie erinnerte? Wie konnte sie eine Mutter für ihre Kinder sein, wenn sie keine Ahnung hatte, wie es war, eine Mutter zu haben? Ihre Vergangenheit behinderte sie - sie war wie ein schwarzes Loch in ihrem Geist, das sie nicht abschütteln konnte - das ihr im Weg stand, wieder und wieder, je schneller sie auch rannte, um es hinter sich zu lassen - es ließ sich nicht abschütteln.
»Ich weiß«, murmelte sie.
Der Gedanke, tagtäglich dort hinauszugehen, die unendlichen Weiten aus Schnee und Eis zu durchqueren, der Gedanke, regelmäßig unter Menschen zu kommen, jeden Tag schrecklichen Gefahren ausgesetzt zu sein - die Kriminalitätsrate der Stadt hatte sich während der letzten Monate drastisch erhöht, immer mehr Diebstähle und Entführungen zogen das Licht der Öffentlichkeit auf sich - der Gedanke, einen fremden Mann zu treffen, überhaupt an eine Familie zu denken - all das bereitete ihr Unbehagen.
Sie wollte nichts von all dem - dort draußen fühlte sie sich stets klein und unvorbereitet und hilflos - viel lieber verkroch sie sich im Haus, im alten Bibliothekszimmer, in der Hand ein spannendes Buch - oder auf dem Dachboden, wo sie die Staubflocken zählte und Muster auf die vereisten Scheiben malte. Sie wollte lernen und lesen, und ihr Leben weiterführen wie bisher - sie würde mit Freuden alles tun, was die Aufseherinnen von ihr verlangten - aber sie wollte nicht dort hinaus, sie wollte die kleine, schützende Hülle, die das Waisenhauses für sie darstellte, nicht verlassen.
War das Heimat?
Fühlte sich so ein Zuhause an?
( Sollte es nicht mehr sein, als nur eine Ausrede, um nicht sein Leben vorantreiben zu müssen? )
Anne schüttelte den Kopf und hob den Blick. Aus dem zerkratzten Spiegel, der nachlässig in die Schranktür eingearbeitet worden war, starrte ihr ihr Spiegelbild entgegen - müde und nachdenklich, der Ausdruck ihrer Augen schwankend zwischen blanker Furcht und beklemmender Sehnsucht.
Kastanienbraunes Haar umrahmte ein weiches, rundes Gesicht, eine niedliche Stupsnase bildete einen scharfen Kontrast zu anmutig geschwungenen Augenbrauen. Das Flanellblusenkleid hing lose um ihren Körper - eine blickdichte Strumpfhose und dunkelgraue Wollstulpen sorgten für die nötige Wärme, da das Waisenhaus kaum über funktionstüchtige Heizungen verfügte, und es Tage gab, da sah man seinen eigenen Atem in weißen Wölkchen vor sich in der Luft aufziehen.
Das Sonnenlicht fing sich im Band des Ringes, brannte auf ihrer Haut und reflektierende Strahlen in sanftem Rosa überzogen die Wände. Anne senkte den Blick.
»Na komm«, hörte sie Nadias Stimme, und ergriff deren Hand. »Noch ist Zeit. Lass uns frühstücken gehen.«
Anne drückte Nadias Finger und wandte sich vom Spiegel ab.
Die Tür fiel ins Schloss, während die Staubflocken unbeeindruckt im Zimmer umherwirbelten - wilder und unkontrollierter, als der Schnee, der vor dem Fenster den seichten Boden berührte, und Sekunden später mit dem restlichen Weiß Sibiriens verschmolz.
☆
»DU HAST RECHT. Ich muss damit aufhören«, meinte Anne, als die beiden Mädchen die Haupttreppe hinunterpolterten, die mahnenden Blicke der Aufseherinnen ignorierend. Sie drängten sich an einem Strom junger Frauen vorbei, die schwatzend in das Foyer des Hauses strömten, und eilten einen holzvertäfelten Gang entlang, ins Frühstückszimmer.
Das Frühstückszimmer war ein kleinerer Raum in der Nähe des Ostflügels, viereckig, und gut fünf Minuten entfernt vom Speisesaal, in welchem sie gewöhnlich sämtliche Mahlzeiten mit den anderen Hausbewohnerinnen einnahmen - es sei denn, sie kamen, wie heute, zu spät.
Die Wände waren in monotonem Weiß gestrichen und die Dielenbretter knarrten, wann immer man darauftrat. Im hinteren Bereich befand sich eine altmodische Kücheninsel samt Holzvertäfelung, dahinter erstreckten sich Holzschränke und Abtropfanlagen.
Kaum, dass die zwei Mädchen den Raum betreten hatten, umgab sie der vertraute Geruch von geschmolzenem Karamell, heißer Schokolade und kandiertem Vanillezucker.
Vorsichtig ließ Anne sich auf einen der sechs gepolsterten Stühle sinken, die um den kreisrunden Küchentisch verteilt waren, und zog die Knie an die Brust, während Nadia in den Eichenholzregalen nach Frühstücksflocken kramte.
Spärlich fiel das Sonnenlicht durch die zerkratzten Fenster, hüllte Annes Gestalt in einen sanften Schimmer und flackerte auf ihrem Gesicht, eine kaum versteckte Warnung.
»Ich meine das übrigens nicht, weil ich dich davon abbringen möchte«, merkte Nadia an, als sie schließlich eine Schachtel Cornflakes gefunden hatte, und deren Inhalt großzügig auf zwei Schalen verteilte. »Nun - eigentlich will ich dich schon davon abbringen - aber nur, weil es am Ende ja doch nichts bringt. Du wurdest, wie viele andere Kinder auch, an diesem schicksalshaften Tag im Schnee gefunden, ohne eine Ahnung, was passiert ist. Und du hast keinen Schimmer, wie du dich erinnern sollst, ob du es denn überhaupt kannst. Weder wird dir dieser Ring dabei helfen, noch kennst du irgendjemanden, der dir sagen kann, wo du herkommst - wer du bist«, stellte Nadia nüchtern fest, und schob Anne eine der zwei pastellblauen Schüsseln hinüber. »Hier, iss.«
Nachdenklich schlang Anne die Hände um das Porzellan.
»Vielleicht haben sie gelogen«, bemerkte sie und schob sich einen Löffel Cornflakes in den Mund, nur um gleich darauf das Gesicht zu verziehen. Wie immer hatte Nadia zu viel Zucker hineingetan.
»Wer? Die Aufseherinnen?«
Anne nickte zögernd, doch Nadia verdrehte die Augen.
»Das hatten wir doch schon. Selbst wenn dies der Fall wäre - und ich sage bestimmt nicht, dass es so ist - sind wir bereits letztes Jahr in sämtliche Büros eingebrochen und haben deine Akten durchwühlt. Es steht nichts darin, nichts, das uns weiterhelfen könnte.«
»Ich weiß«, murmelte Anne, und senkte den Blick entmutigt auf die Cornflakes, die traurig zermanscht in einem See aus Milch schwammen.
Auch sie war in einen See gefallen - ihre Kleider klamm und erfroren, als man sie auf der Schwelle des Waisenhauses gefunden hatte. Irgendjemand hatte sie dorthin geschafft. Hatte er sie aus dem See gezogen? Wer? Jemand. Irgendjemand. Niemand konnte sich an ein Gesicht erinnern, eine Gestalt. Niemand hatte etwas gesehen. Es war, als wäre sie plötzlich einfach dort aufgetaucht - ein Geist, eine Erscheinung, irgendetwas.
»Ich ... ich weiß, es beschäftigt dich noch immer. Aber ... es ist aussichtslos, jetzt noch irgendetwas in Erfahrung zu bringen. Zu viel Zeit ist bereits ... Anne, ich bitte dich, lass die Vergangenheit ruhen. Okay?«
Anne nickte schweigend.
»Gut.«
Nadia sah aus, als wollte sie noch etwas hinzufügen - doch sie begnügte sich stattdessen damit, ihnen kalten Kakao nachzuschenken.
Auf dem Flur knallte eine Tür.
Laute Stimmen, Stimmen, die miteinander stritten, schallten durch die verlassenen Korridore. Eine scharfe Stimme - eine Warnung. Dann, eine gemurmelte Entschuldigung.
Die Tür fiel ins Schloss. Wieder war es still.
Anne schob ihre Schüssel beiseite, umfasste die kalte Kakaotasse mit beiden Händen und sah nachdenklich zum Fenster, weit über ihren Köpfen.
»Was macht ihr Mädchen noch hier? Der Unterricht hat längst begonnen«, ertönte die Stimme von Mrs. Orlova, der Lehrerin für russische Geschichte von der Türschwelle her. Sie war eine ältere Dame Anfang sechzig, die jeden zweiten Tag das Waisenhaus aufsuchte - eine der insgesamt fünf Lehrkräfte, die eisern versuchten, den jungen Mädchen ein wenig von der Welt außerhalb des Kinderheims zu berichten.
Nadia schrak sogleich zusammen und schaufelte sich hastig den letzten Rest Frühstücksflocken in den Mund, während Anne stumm aufsah und den unbarmherzigen Blick der Lehrerin erwiderte.
Irgendetwas musste Mrs. Orlova in den Augen des älteren Mädchens gesehen haben, denn sie senkte den Kopf, und klopfte nicht existente Flusen von ihrem dunkelgrauen Leinenblusenkleid.
»Nun gut, kommt nach, wenn ihr hier fertig seid - und Anne, Liebes, vergiss bitte nicht, dass du heute um elf Uhr ein Gespräch in der Stadt hast.«
Anne nickte und schenkte der alten Frau ein kleines Lächeln. Zufrieden drehte Mrs. Orlova sich um, und verschwand wieder im Unterrichtszimmer, keine drei Türen entfernt.
»Das Vorstellungsgespräch hatte ich beinah vergessen«, murmelte Nadia, während sie die Schüsseln nachlässig mit Wasser abspülte.
»Ich nicht«, erwiderte Anne düster und stand seufzend auf, stellte ihre cremefarbene Tasse neben Nadias in das kleine Spülbecken.
»Wo ist es diesmal? Die Bäckerei?«
Anne nickte nur und wischte ihre nassen Hände an ihrem Kleid ab.
»Hoffentlich läuft es besser als in der Schneiderei. Wenn ich mich nicht bald für eine Arbeit entscheide, lande ich noch auf der Straße.«
Nadia und Anne tauschten einen bedeutungsschweren Blick - Anne war sich sicher, das jüngere Mädchen war insgeheim froh darüber, sich noch nicht mit der Frage nach einer Arbeit herumschlagen zu müssen - und liefen dann nacheinander aus dem Frühstückszimmer.
Als Anne noch einen Blick zurückwarf, sah sie Staubflocken umherschwirren, im Sonnenlicht funkeln, wie eine Aufforderung sich ... was? Zu erinnern?
Irgendetwas materialisierte sich in ihrem Hinterkopf, ein vertrautes Ziehen, das Aufkeimen einer weit entfernten Erinnerung ━ war es Schnee? Das leise Rieseln wattig weißer Flocken auf verschneiten Parkanlagen in einer dunklen Nacht? ━ Doch dann war das Gefühl, dieses vertraute Gefühl des Erinnerns, auch schon wieder verblasst.
Kopfschüttelnd machte sich das Mädchen auf den Weg ins Unterrichtszimmer.
Kurz ertönten Stimmen, dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss, und Stille kehrte ein.
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