(6) Ein blutroter Feiertag
Eleonora
Der Schlüssel. Der Schlüssel. Der Schlüssel. Der Schlüssel. Der Schlüssel. Der Schlüssel, hallte es durch meinen Kopf.
Es war Ed's Stimme. Warum hatte ich das unerklärbare Gefühl, dass es irgendwie mit meinen Träumen zu tun hatte?
Doch es war egal, denn jetzt stand ich schon hier.
Ich ignorierte den kleinen, aber frechen Kürbis auf der Veranda. Allerdings konnte ich den Tag nicht gänzlich ausblenden. Denn es war der 31. Oktober 2021. Es war Halloween.
Orange. Blut. Orange. Etwas Tiefsinnigeres stellte es für mich nicht dar. Und ich fragte mich, ob das Komitee unserer Schule all ihre Feiern mit denselben Klischee-Stempeln versah.
Ich hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, dass der mickrige Kürbis auf der Veranda mindestens ein Dutzend jüngerer Cousinchen und Cousins hatte. Sie alle tummelten sich auf den Fensterbänken unserer Turnhalle. Hier und da hatte man die kreideweiße Wand mit bröckeligem Rot besudelt (es sah aus wie alter Ketchup) und mit massenhaft billiger Gummispinnen beklebt. Und vor dem Eingang warteten so etwas, wie zwei lebendige Bettlaken, die ich als „geisterhafte Türsteher" ausmachte.
Für mich hatte all das hier jedoch nichts Reizvolles. Nein, das Einzige was mich gruselte waren die strahlenden Gesichter, trotz dieser viel zu langen Schlange.
„The Greenville College's Halloween" stand in zerlaufener Schrift auf dem Banner über dem Eingang. Das hieß, soweit ich es entziffern und vermuten konnte, denn ich befand mich noch immer so ziemlich am Ende der Wartereihe. Ich hatte also auch weiterhin Zeit diese total „realistische" Horror-Dekoration zu begutachten. Und mir blieb genug Raum um mir vorzustellen, wo ich stattdessen heute, hätte überall sein können.
Nein, ich konnte mir die Party wirklich noch nicht einmal schön reden.
Halloween. Ich hasste diesen "Zirkus" und noch mehr hasste ich Partys. Eine weitere Steigerungsform war dazu noch eine "Studenten-Party". Diese hier hatte also mein persönlich höchstes "No-Go-Level" erreicht.
Es war also nur zu skurril, dass es mich tatsächlich hier her verschlagen hatte.
Zugegeben war das Ganze nur die Sahne auf dem Eis, denn die Kirsche darauf, war gänzlich die Schlange „der unabsehbaren Unendlichkeit", in welcher ich wartete. Und an ihrem Ende hieß das noch nicht einmal, dass mich die Türsteher auch schließlich reinließen...
Die Musik dröhnte mir gerade heftig um die Ohren. Es drang selbst durch die geschlossenen Fenster der Halle und ließ beinahe mein Trommelfell zerplatzen.
Dann gab es tatsächlich eine erleichternde Pause. - Dachte ich. Denn im nächsten Augenblick spielte der DJ den Kinder-Sing-Sang "Eins, zwei, Freddy kommt vorbei..."
Zwei Mädels hinter mir stimmten mit ein.
Ich muss hier weg...
Das hier, war keine Motto-Party.
Hier lebten alle das Motto.
Und wer das, trotz des Lärmes und all der Deko hier nicht kapierte, der musste gänzlich blind sein oder gar aus einem fremden Jahrhundert kommen.
Innerlich lachte ich mich plötzlich schlapp, denn auf die Klopapier-Mumie, vor mir, schien direkt Beides zu zutreffen. Mein direkter Vordermann besaß nämlich keinerlei erkennbare Ausguck-Löcher, die ich ausfindig machen konnte. Der war also womöglich wirklich "blind".
»Heeeey, du bist heiß. Wollen wir zusammen reingehen?« unterbrach der Typ daneben mein inneres Geläster.
Er war ziemlich groß und breitschultrig. Ein echt strammer Kerl mit dunkler Maske und Cape.
Auf den ersten Blick sah es aus, als könnte er Teil eines perversen Rollenspielchen-Films sein.
Doch Moment. Er war die dunkle Fledermaus. Der Superheld aus dem Fernsehen. Es war Bruce. Es war... Bad Man.
»Nein, danke,« winkte ich trotzdem ab.
Das ist nicht wirklich Bad Man, beruhigte ich mein inneres Fangirl-Gejaule, (obwohl er tatsächlich so aussah.)
Er trat näher. »Du bekommst auch reichlich Drinks spendiert, Süße.« Okay, der Typ war echt hartnäckig.
Und als wäre das noch nicht genug gewesen, mischte sich jetzt sein Freund, der vermummte Klopapier-Pharao ein: »Ach' komm schon. Gib meinem Kumpel doch jetzt nicht einen Korb. Du bist schließlich unsere erste Auserwählte heute.«
Wow. Die Erste? - Geheiligt werde mein Name.
»Genau, unsere Taschen sind auch voll mit den süßesten Leckereien.«
»Sowas würde Bruce nie sagen.« Er war definitiv die billigste Kopie dessen.
»Willst du nicht mal in unsere Schnuckeltasche gucken?«
Was sollte das? Ich war verdammt nochmal nicht Cat Woman. »Sorry aber, ich bin Lady GaGa. Meine Handtasche ist bereits voll,« und umfasste das quietschende Rot, dass ich mir umgehängt hatte.
Und wenn ich sagte „Lady Gaga", dann meinte ich es auch so. Auffälliges Make-Up, eine schneeweiße, glatte Perücke bis zur Taille.
Von meinem stundenlangen Make-Over ganz zu schweigen. Ich würde höchstwahrscheinlich noch meinen späteren Enkelkindern davon erzählen können. Es hatte mir ein ganzes Gemenge aus Blut, Schweiß und Tränen geraubt. Mindestens zehn YouTube-Tutorials hatten kostbare Zeit meines Lebens verschwendet. Aber jetzt stand sie vor ihnen: eine neue „Mrs. Bad Romance".
»Kein Thema. Ich bin zur Hälfte auch "GaGa",« und die menschliche Fledermaus zwinkerte mir zu. Ekelhaft der Kerl.
»Sie gehört zu mir,« eine Stimme hinterrücks.
Mein Herz klopfte.
Da gab es nur zwei Möglichkeiten:
Entweder handelte es sich um Rys, oder „Patrick Swayze". Wobei ich echt gerne „Baby" gewesen wäre.
Doch ich traute meinen Augen nicht. Es war der Drogendealer vom Schulhof. Die zwielichtige Grinsekatze in Jeans. Nur dieses Mal trug er einen dunkelblauen Smoking und dazu auch noch ziemlich auffällige... Hasenohren? Ein Smoking-Häschen? Echt jetzt?
Halloween ist definitiv nichts für schwache Nerven...
Doch ich konnte keinerlei Fragen stellen, denn da packte er mich auch schon bei der Hand und zog mich mit sich. Einen Blick konnte ich noch schnell zurückwerfen und erkennen, wie uns zwei Augenpaare heftig hinterher starrten. Auffällig und lange. (Obwohl ich mir bei der Mumie immer noch ziemlich unschlüssig war.)
Zunächst vermutete ich, der Hase wollte mich an die erste Reihen-Front stellen, doch dann überraschte er mich, denn er zog geradewegs daran vorbei. Auch an den zwei geisterhaften Türstehern.
Die Pforten zur Hölle öffneten sich.
Und da fand ich mich wieder. Im Diskolicht.
Auf einer Party, auf der ich eigentlich gar nicht sein wollte. Verdammt.
»Punsch?« harkte er nach, ganz das Klischee.
Hier war es stockdunkel, bis auf die Disko-Atmosphäre. Noch immer fand seine Rechte, meine Hand. Ich wollte sie lösen, doch er hielt mich fest. Er wartete wohl noch auf eine Antwort.
Sein Gesicht leuchtete bunt im Neonlicht. Erst jetzt erkannte ich das glänzende Piercing-Steinchen über seiner rechten Augenbraue.
»Jep.« Einen Drink, den würde ich definitiv heute Abend brauchen.
»Alles klar. Ich bin gleich wieder da.«
Bucks Bunny schlenderte zum Buffet. Dieses erstreckte sich kerzengrade an der Tanzfläche entlang. Es waren mehrere längliche Tische, darauf die wahrscheinlich größte, gläserne Punsch-Schüssel der Welt.
Ich sah mich weiter um.
Die Musik dröhnte, fernab der Tanzfläche, aus zwei mächtigen Boxen, welche beinahe so groß waren wie ich selbst. Dort stand das DJ-Pult.
»Bitte sehr, Mrs. GaGa,« da war er wieder. Monsieur „Hoppel-Hase".
»Danke,« und ich nippte. Allerdings musste ich mich zusammenreißen, das Getränk nicht sofort und in einem Stück hinunterzukippen.
»Wie findest du die Party?«
»Gut.« Ich hatte natürlich nicht vergessen, dass er diesen „Zirkus" hier organisiert hatte.
Und da standen wir. Allein. Zu zweit.
Lächeln, die hin und her geworfen wurden.
Zeit verstrich. Es wurde immer unangenehmer.
»Was stellst du eigentlich genau dar?« und ich meinte die Frage ernst.
Die Kreuzung zwischen Gentleman und Hase war für einen Studenten, der auf dem Schulhof Drogen verkaufte, mehr als nur „grotesk".
»Ich bin das weiße Kaninchen aus Alice im Wonderland. Ist doch wohl klar?«
Alice im Wonderland. Natürlich doch. »Achso.«
Ich inspizierte sein Gesicht genauer. Erst jetzt erkannte ich, dass er geschminkt war. Doch es waren keine aufgemalten Schnurrhaare. Er trug schlichtweg dunklen Kajal und etwas Glitzer um die Schläfen. War der Kerl hetero?
»An was oder wen hattest du denn gedacht, Süße?« unterbrach er meine Gedanken und grinste schief.
Ich erkannte wie er sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, während er mich ansah.
Nein, er war nicht schwul. Im Leben nicht.
Ich nahm noch einen großen Schluck von meinem Punsch, als weiße Zahnreihen mich anstrahlten. Sie waren das einzig Helle in diesem fast zwielichtigen Gesicht. Es schimmerte im Diskolicht, halb bedeckt von den Schatten.
Er war mit Abstand der Gruseligste hier.
»Eher an die Grinsekatze,« platzte es tatsächlich aus mir heraus.
Oh shit. Das Getränk war wirklich ein „Horror-Gebräu". Das hatte es wirklich in sich.
»Entschuldigung, darf ich sie mir einmal kurz ausborgen?« diese Tiefe kannte ich viel zu gut.
Die Kreation aus Alice im Wonderland schloss genervt die Augen, antwortete aber mit: »Klar.«
Mein bester Freund streckte bereits einen Arm nach mir aus. »Na, Lust auf einen Tanz?«
Muskeln waren von dichtem Stoff umwickelt. Da stand Rys plötzlich. Im Smoking. Und dieser stand ihm beachtlich gut.
Auch hier fragte ich mich wieder: »Und was sollst du darstellen?«
»Ein unglaublich gut aussehender Maskierter.«
Auch mir war die Maske, die seine Augenpartie bedeckte nicht entgangen. Im Neonlicht strahlte sie metallisch und war verziert mit mehreren geschwungenen Schnörkeln.
Rys starrte mich an, sein Arm schwebte noch immer in der Luft. »Was? Verwehrt Lady GaGa jetzt etwa einen Tanz?«
Wir waren auf einer Party.
Einer Party, die ich hasste.
Er war meine bessere Hälfte und kannte mich fast schon mein ganzes Leben. Natürlich war ihm klar, dass ich mich hier nicht wohl fühlte.
Mir ist also sowas von nicht nach „Tanzen". »Von mir aus,« log ich trotzdem.
Doch das wusste er, denn er lächelte.
Und im nächsten stillen Moment packte er mich.
Dann fand ich mich auf der Tanzfläche wieder.
Mit ihm. Mit Rys.
Er wiegte mich nach rechts.
Er wiegte mich nach links.
Sanfte Schritte im Takt. Doch dann forderte er den minimalsten Abstand.
Eng an eng. Stoff an Stoff.
Seine Hand fuhr plötzlich entlang meiner Hüfte, bis nach oben zu dem Saum meines Kleides. Ich wusste nicht genau wie mir geschah. Und dann fiel mir plötzlich auf, dass dieses „Kostüm" doch für diesen Anlass, viel zu kurz war.
Meine Gedanken konnten sich allerdings nicht länger damit aufhalten, denn seine Finger waren so unglaublich schnell. Seine Berührung so sinnlich und bekannt.
»Ich habe doch gesagt... Ich möchte das nicht in aller Öffentlichkeit,« aus meiner Kehle stieß ich ein Flüstern, es fiel direkt in sein Ohr.
»Ach' wirklich?« Meine Augen mussten wohl vor Lust und Aufregung gerade nur so funkeln, denn er grinste jetzt noch breiter.
Als der DJ wie bestellt plötzlich „Boyfriend" von Ariana Grande spielte. Da platzte die imaginäre Seifenblase um uns herum. Mein Körper wurde steif.
Wo hatte er diesen Hit plötzlich ausgegraben? - Aber ich musste zugeben, nicht zum ersten Mal am heutigen Abend durchströmte mich eine Gänsehaut.
Lenk dich ab, Nora. Lenk dich ab.
Über Rys Schulter hinweg erkannte ich Monsieur „Grinsekatze", wie er mit der Klopapier-Mumie und dieser ekelhaftesten Version eines „Batman" quatschte. Sie waren miteinander befreundet?
...und daneben stand direkt eine Lady mit Umhang. Ein weiblicher Graf Dracula.
Die Mumie verwickelte sie jetzt in ein Gespräch, während... während die anderen Beiden ihr irgendetwas in den Punsch einflößten.
Oh mein Gott!
»Warum bist du hier?« packte mein bester Freund plötzlich aus.
Es riss mich aus dem Film.
Eine Hand fuhr auf der Rückseite meines Halses entlang und ließ ihn mich vergessen.
Ich zog scharf die Luft ein. Meine Pupillen flogen nach links und rechts, denn wir waren immer noch auf der Tanzfläche. Verdammt, dass durfte ich nicht vergessen. Jeder hier konnte uns sehen!
»Es ist eine Party,« entgegnete ich, »für alle.«
Riley drückte mich in der nächsten Sekunde in eine Umdrehung. »Nein, das ist es nicht.«
Verwirrung machte sich in meinem Ausdruck breit. »Nicht?«
Er schüttelte den Kopf und blieb plötzlich abrupt stehen. Seine Handflächen waren warm: »Ach' Nora... Ich wünschte... Ich wünschte, ich könnte dir alles sagen. Doch-«
Was hatte das zu bedeuten?
Uns „alles" sagen? Genau das taten wir doch schon unser Leben lang?!
Doch dann. Ein Schrei.
Graf Dracula?!
Es kam aus der Richtung des Drogen-Trios.
Beinahe hatte ich sie vergessen.
Was war mit dem Mädchen?
Und dann war da plötzlich Blut, sehr viel Blut.
Ein Mann am Boden.
Doch ich konnte nichts mehr sehen, denn eine Menschentraube versperrte die Sicht.
»Was machen wir jetzt, Rys?« meine Augen rissen auf. »Rys?!«
Rys. Er war weg.
Und um mich herum spielte der nächste Amaggedon. Die Musik verstummte. Der DJ ächzte noch einen letzten, schrecklichen Ton. Dann verließ er das Misch-Pult. Mehrere Stühle und Tische kippten um. Glas zersprang. Kreischend liefen die Studenten ins Freie.
Und plötzlich begann ich zu glauben, dass die Dunkelheit um mich herum, sich verzerrte und noch trüber wurde.
Was zur Hölle... Was zur Hölle war hier nur passiert?
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