(3) Die Büchse öffnet sich
Eleonora
Ich sah sie.
Da war sie wieder. Die Frau mit ihren kalten, blauen Augen. Ein Raum. Nur sie und ich.
Ich und die Todesbläue. Ganz allein.
Ein unsichtbarer Faden spannte sich um meine Kehle und schnürte sich unbarmherzig zu.
Wurde noch fester. Quetschte mein Fleisch, ganz langsam, bis die Haut darunter zerriss.
Sekunde für Sekunde.
Panik.
Sie war wieder da.
Sie war wieder da. Sie war wieder da.
Wieder. Wieder. Wieder.
Doch viel zu früh. Viel zu früh...
-
Halt... nein.
Dort. Ein Licht. Klein und hell.
1. Neue Wände,
2. Ich bin nicht allein,
3. Es sind mehr als nur elf Schritte.
Langsam bewegte ich mich vorwärts. Erneut schritt ich durch den Korridor. Allerdings empfingen mich diesmal nicht die schaurig kalten Wände eines vergangenen Traumes.
Nein, - dieses Mal stolzierte ich durch die Flure einer Universität.
Hier tanzte das Leben auf dem graumarmorierten Gestein, denn Licht schien durch die hohen Fenster des wohl begehrtesten Raumes Englands. Die Realität erreichte mich dennoch nur langsam. Schnell konnte ich mich zudem nicht bewegen, da ein Stapel Bücher zu meinen Händen, es nicht erlaubte.
Hier war ich nun.
Zu meiner Linken und zu meiner Rechten ergaben sich die Räumlichkeiten des Lehrgebäudes.
Ja, hier bin ich. Hier studiere ich.
Und zu meinem Glück befand ich mich nicht mehr in meinem Albtraum.
Nein, - dies hier war ein anderer Traum.
Ein Schöner. Einer, welcher nach jahrelanger, harter Arbeit, Wirklichkeit geworden war.
Ich wiederholte es im Geiste immer und immer wieder.
Doch College-Traum bei Seite.
Schon wieder war es passiert. Schon wieder hatte ich die Normalität mit einem Nachtgespinst verwechselt.
Also startete ich meine gewohnte Aufzählung erneut. Ich musste einfach hundertprozentig sicher sein und verglich den Albtraum mit dem "Jetzt und Hier":
1. die Umgebung war anders,
2. dieses Mal war ich auch nicht allein -
Ich blickte auf die weißen Nike Jordans, welche mit mir Schritt hielten und erkannte, dass
3. wir mehr als nur elf Schritte gegangen waren.
Ein Tor führte uns nach draußen. Erleichtert atmete ich auf, als es uns auf die vertrauten, weiten Wiesen brachte. Schließlich fand ich mich vollends im Jetzt und auf einer ausgebreiteten Wolldecke wieder. Endlich.
»Man siehst du Scheiße aus,« riss mich eine Stimme aus meinem Grübeln. Sie empfing mich wie ein Vorschlaghammer und passte nur zu gut zu meinem besten Freund.
»Na vielen Dank auch, Rys,« genervt blickte ich in dessen amüsierte Augen.
„Rys" war meine Abkürzung für „Riley".
Als sensibel galt er wohl nur, wenn es um die neusten Nikies ging. Sein getragenes Exemplar strahlte nur so vor Pflege und weißer Reinheit.
»Nein ehrlich, Nora,« sein kehliges Lachen erfüllte den Campus.
Ein Lachen, welches mich in den vergangenen Jahren unserer bereits sechzehn-jährigen Freundschaft immer angesteckt hatte und es wohl auch in den kommenden Jahrzehnten noch tun würde.
»Du siehst wirklich aus, als hättest du die komplette Nacht kein Auge zu getan.«
Ein Volltreffer, direkt ins Schwarze, antwortete ihm meine innere Stimme sofort.
Nachdem die Sitzung bei Madame Couture gestern fehlgeschlagen war, hatte es tatsächlich eine Ewigkeit gedauert, bis meine Augen Ruhe gefunden hatten. Noch dazu kam, dass ich mich besonders über dieses Blechding namens „Münze" geärgert hatte.
Ich war so sauer gewesen, dass ich mir diese, noch am selben Abend, an ihrer Öse um den Hals gebunden hatte. Es war blanker Trotz gewesen. Los wurde ich sie ja ohnehin nicht und das machte noch lange nicht den Fakt zu Nichte, dass diese trotzdem wunderschön war.
Wie von selbst griff ich unter meinen Pullover, nach ihren tiefen Randgravuren. Ohne sie gerade zu sehen, wusste ich, dass diese einen Kreis um den winzigen, roten Stein in ihrer Mitte zogen. Die goldene Kette samt ihrem Anhänger würde sicherlich herrlich in der Sonne funkeln.
Doch irgendein Gefühl ließ mich glauben, dass es besser war sie auch weiterhin unter dem Stoff zu bewahren.
Mein Kopf brummte geradezu vor inneren Eingebungen und sinnfreien Instinkten, als Rys mich einfach packte und mir einen Kuss auf die Lippen drückte.
»Du verziehst schon wieder die Stirn. Das gibt Falten. Außerdem machst du wieder diesen... einen Gesichtsausdruck, der mir nicht gefällt," raunte er und zog mich erneut an sich.
Er küsste mich nochmal. Dieses Mal richtig. Dieses Mal leidenschaftlicher.
Ich stieß ihn von mir: »Rys, nicht... Ich habe doch schon gesagt, dass du das nicht auf dem Campus machen sollst.« Immerhin waren wir nicht einmal zusammen.
Jetzt verschränkte er die Arme ineinander.
»Ach, würde es nur an mir liegen, dass du so wenig Schlaf abbekommst... Doch leider sieht die Realität wohl anders aus, hm?« sein Blick war sanft, doch ich bemerkte das gefährliche Schimmern darin.
Nachdem ich mich gestern schon früh ins Bett gequält hatte und schließlich wieder durch diese dämlichen, gleichen Traumwände gegangen war, hatte ich wieder Stunden lang wachgelegen.
»Ich schlafe in letzter Zeit tatsächlich nicht so... super,« gab ich zu, »aber alles ist gut.«
„Alles ist gut." - war eine Lüge.
Ich schlief schon einen viel längeren Zeitraum nicht gut. Unzählbar oft war ich bereits durch diesen einen Korridor gelaufen. Auswendig kannte ich den Gang, welcher mich bis in das dunkle Zimmer und schließlich zu diesem untoten Etwas führte.
»Träumst du schon wieder von diesem irren Zeug? Gibt's was Neues?«
»Nein,« dies war lediglich meine Antwort auf seine zweite Frage. Zumindest wollte ich daran glauben, dass alles „beim Alten" war.
Dieser Apollon...
Warum hatte mir Madame Couture bloß damit einen Schrecken einjagen wollen? - Keine Ahnung, aber sie hatte es geschafft! Und damit auch selbst aus meiner potenziellen „Lösungsliste" katapultiert. Denn ich hatte geglaubt, sie hätte mir helfen können.
Aber dieser "Apollon" hatte definitiv nicht zu dem gewöhnlichen Prozedere gehört, meiner ständigen „Unendlichkeits-Wiederholung".
Jede Nacht war es dasselbe.
Derselbe, lebhafte Traum. Dasselbe Zimmer. Dieselbe untote Blondine, welche nach irgendeinem „Schlüssel" verlangte.
Es war zum Verrückt werden.
»Nein?« wiederholte er, »Nein... was?«
»Nein, Rys. Es gibt nichts Neues. Ich träume so schlecht wie immer. Bin müde wie immer. Habe schlechte Laune wie immer,« wobei ich die letzten Silben sehr langsam betonte und ihm den Rest davon schließlich ins Ohr flüsterte, »alles ist wie immer...«
Er erwiderte meinen lüsternen Blick und ich konnte direkt spüren, was genau wir beide unter dem Resultat meiner „schlechten Laune" verstanden.
Rys räusperte sich. »Also, alles wie immer,« es verwandelte sich in ein Hauchen.
»Ja.«
Denn nur zu gut konnte ich meinen Albtraum von einem gewöhnlichen Traum unterscheiden. Abgesehen davon, dass sich mein tägliches Umfeld schon schien in diesen zu verwandeln.
Vielleicht driftete ich ja in eine Art „Sekundenschlaf"? - Keine Ahnung.
Da gab es eine Liste an zahlreichen Theorien, welche ich mir selbst zusammengestellt hatte. Auf jeden Fall hatte ich für diese „Realitätsverzerrungen" einen ganz persönlichen Begriff entwickelt. Ich nannte sie „die Thriller". Und heute hatte mich solch ein „Thriller" bis in den Tag hinein verfolgt.
So etwas geschah tatsächlich selten.
Aber es geschah.
Also hatte ich diese Notlüge ausgesprochen, woraufhin nicht mal mehr ein schlechtes Gewissen folgte. Ich war bereits darin geübt und mein schauspielerisches Können in "Alles ist gut" war meisterhaft. Es war nun reinste Perfektion.
»Aha. Also alles ist wie immer, okay. Aber gerade eben sahst du schon wieder aus als hättest du ein Gespenst gesehen.«
So war das eben, wenn man nicht nur miteinander schlief, sondern auch noch befreundet war. Man hatte Spaß und sorgte sich trotzdem gleichzeitig. Ich konnte es ihm also nicht ganz vorenthalten, dass ich Hin und Wieder eben etwas... schräg?... war.
Außerdem würden Augenringe wohl nie lügen.
»Dann wird das mit der Party also wieder nichts, hm?«
Wie konnte ich das Meer aus Plakaten nur vergessen, welches unseren wunderschönen Campus nahezu befleckte?
Bunt und grell. Das grauenvolle Kürbisgesicht zierte hier fast jede Wand und war Reklame für die diesjährige Halloween Party. Zu gerne hätte ich gewusst, wer die Idee für dieses hässliche Design gehabt hatte. Andererseits hatte ich auch so ziemlich die Schnauze voll was Studentenfeiern betraf.
Also schieben wir es einfach auf meinen Schlafmangel: »Genau. Ich muss erst einmal ein wenig Schlaf nachholen, bevor ich mir erlauben kann länger als Mitternacht wach zu bleiben.« (Den Fakt außer Acht gelassen, dass ich dies beinahe jede Nacht tat.)
Eine von Rys Augenbrauen schob sich in die Höhe.
»Jetzt sieh' mich nicht so an. Es ist alles in Ordnung. Mir fehlt nur der Schlaf. Ich werde es bis zu den nächsten Prüfungen wieder auf die Reihe bekommen. Versprochen.«
Tatsächlich musste ich das.
»Wenn du nur wüsstest, wie gerne ich der Grund für deine schlaflosen Nächte wäre...« er biss sich jetzt auf die volle Unterlippe.
Ich wusste er war ein Raubtier.
Und das Polo-Shirt, welches er trug nur das perfekte „Alibi".
Noch dazu war es besser, wenn ich mir nicht die Nächte mit Riley Summers ins Gedächtnis rief. Denn an ihn zu denken, vernebelte auch noch den letzten Rest meines Verstandes. Hinter dem Leckerbissen fürs Auge steckte nämlich ein unerbittlicher Dämon.
»Ich bekomme das hin,« wiederholte ich und meinte damit eigentlich viel mehr „das Verdrängen."
Ich blickte auf die dicken Wälzer, welche jetzt Platz bei uns im Grünen gefunden hatten.
Mein bester Freund und ich steckten beide mitten im dritten Semester unseres Psychologie Studiums und wichtige Klausuren standen bald an.
»Besser wäre es. Ich habe nämlich keine Lust dir Nachhilfe in biopsychologische Informationsverarbeitung zu geben.«
»Niemals. Dann wäre ich verloren.« Da würde ich garantiert nie etwas lernen...
»Obwohl,« jetzt hob er scherzhaft beide Hände, »eine Stipendiatin ja eher weniger Hilfe benötigt von einem ganz herkömmlichen Psychologie Studenten.«
Ich blickte ihn gespielt finster an, während mein inneres Ich lachte. »Du sagst es.«
Nicht umsonst nannte man unseren Ironie „staubtrocken". Trockene Scherzkekse - Ja, das sind wir.
»Genau. Ich gebe mich sowieso nur mit der Elite ab. Also hinfort mit dir, Sklave, - und hole mir einen Kaffee. Entkoffeiniert, mit einem Schuss Milch und zwei Stück Zucker. Danke!«
Schmunzelnd begab sich Rys in eine gespielte Verbeugung. Sein leicht gelocktes, hellbraunes Haar fiel ihm dabei in die Stirn und die Mittagssonne glänzte darin.
»Aber natürlich wie konnte ich das nur vergessen? Also einen Kaffee. Wie immer. Kommt sofort,« er konnte dieses sexy Lächeln was mich immer schwach werden ließ, kaum unterdrücken.
Mein Blick folgte ihm nun über die Wiese.
Das Shirt, schmiegte sich eng um seine breiten Schultern. Das harte Training im Fitnessstudio zahlte sich wohl aus.
Vor dem Eingang der Universität blieb er jetzt stehen, um einem weiteren, riesigen Plakat auf vier Beinen Platz zu machen. Zwei Studentinnen hievten es durch den Torbogen. Partywerbung. Ich wusste genau, sie würden nicht vorher aufhörten, bis auch noch das letzte Fleckchen Campus damit zugekleistert war.
Oh man. War es nicht endlich mal genug?
Rys lief an ihnen vorbei. Nachdem er ihnen den Rücken gekehrt hatte, wurden beide rot.
Und das, mit sofortiger Wirkung.
Natürlich. Dieser kleine Casanova.
Sie alle standen auf den durchtrainierten, smarten Typ. Kaum zu glauben war es, dass dieser Kerl einmal im Kindesalter ein stolzes Übergewicht auf die Waage gebracht hatte. „Oldschool-Riley" hatte ich die alte Version meines Freundes getauft.
Vor ca. fünf Jahren geschah dann das Glow-Up. Und Zack - plötzlich war meinem besten Freund ein Astralbody gewachsen. Er hatte seinen Babyspeck in fünfzehn Kilo Muskelmasse umgewandelt und aus ihm war plötzlich „Casanova-Abschlepp-Riley" geworden.
Außerdem hatte er dieses Jahr die Eröffnungsrede für die Neuen des ersten Semesters gehalten. Ein wohl weiterer Pluspunkt, der ihn auf der Sexy-Skala nach oben beförderte.
Einen neuen Namen hatte er sich auf jeden Fall gemacht. Jetzt war er der neue „Casa-Riley" und dieser achtete stark auf sein Äußeres und verbrachte scheinbar mehr Zeit im Fitnessstudio, wie ich mit dem Schlafen.
Seine weibliche „Fans" fingen an zu kichern. Für Rys stellte es wohl ein normales Hintergrundgeräusch dar oder er bemerkte es nicht einmal.
Ein dumpfes Geräusch brachte mich aus der Fassung. Das Smartphone, welches er wohl vergessen hatte einzustecken, vibrierte im Stoff unserer Decke. Wie bestellt, ploppten mehrere Benachrichtigungen auf und so etwas wie:
"Hey Darling, warum antwortest du nicht?", "Wann hast du denn endlich Zeit, Honey? Ich muss dich wiedersehen :*", erschien.
Ich rollte mit den Augen. Aber es stimmte. Die meisten Mädels würden Riley Summers wohl als „wahnsinnig heiß" betiteln. Doch er war leider auch diese Art „Typ", von dem ich so manchem Mädchen abraten würde, denn er war noch nie an so etwas wie einer „festen Beziehung" interessiert gewesen.
Und was mir das Ganze ausmachte? - Gar nichts.
Das zwischen uns war nämlich mehr als nur locker. Und da war mir auch egal, dass meine Eltern schon seit einer gefühlten Ewigkeit behaupten, dass Riley, Hals über Kopf in mich verschossen wäre. Völliger Unsinn.
Rys war ein Typ, der sich Hals über Kopf in irgendwelche Bettgeschichten warf.
Da passte ich nicht ins Raster.
Eine hoffnungslose Romantikerin, deren Bücherregal von Nicholas Spark's Werken gesprengt wurde? - Niemals.
Und ich mochte es mir nicht ausmalen, wie es wohl wäre, wenn eine Liebe diese Freundschaft zerstören würde?
Plötzlich.
Mich erfasste ein brennender Schmerz. Glühend heiß pulsierte das Metall meiner Halskette.
Es war der Anhänger. Die Münze.
Sofort griff ich danach und löste sie von meiner Haut. Was war das?
Doch da bemerkte ich den fremden Schatten...
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