(17) Fremde Vertraute
Eleonora
Das Ladenglöckchen hinter mir bimmelte zum Abschied und ich stieg in den bereits voranschreitenden Abend.
Die kleinen, leuchtenden Himmelskörper traten hinter der dunklen Wolkendecke hervor und tauchten den städtischen Teil von Greenville in leichtes Sternenlicht.
Es war inzwischen spät geworden.
Obendrein sogar viel später, als ich geahnt hatte.
Ein kurzer Blick auf mein Handgelenk reichte, um festzustellen, dass meine Vermutung sich zudem bewahrheitet hatte. Die Zeiger meiner Armbanduhr zeigten nun 19:30 Uhr.
Meine Schicht im ‚Frenzie's Flowers' war schon längst vorüber gewesen.
Doch im Laufe meines heutigen Dienstes, war meine To-Do-Liste bis zum „Jetzt" immer länger geworden.
Zunächst war mir blöderweise ein Fehler in der Kassenabrechnung aufgefallen, welcher dazu führte, dass ich jede bereits verkaufte Ware nochmals kontrollierte. Als ich diesen schließlich ausfindig machen konnte und mich dem Ende meiner Arbeit näherte, hatte sich Francine immer eindringlicher über die schmutzigen Fenster beschwert. Immer wieder betonte sie, dass dies wohl einen wichtigen Grund darstellen könnte, warum viele Straßenbummler ihren Fuß nicht in den Laden setzten. Natürlich war sie nicht darauf erpicht gewesen, dass ich daraufhin sofort einen Lappen in die Hand nahm. Frenzie war nämlich jemand, der Gedanken offenkundig aussprach. Jedoch hatte ich mich schließlich als ihre treue Hand verpflichtetet gefühlt und mich somit direkt ans Werk gemacht und das Putzmittel zur Hand genommen.
Noch einmal hinter mich blickend, stellte ich gerade fest, dass nun die Fensterscheiben, im Glanze des Abends, endlich wieder klarer waren.
Ich dachte an Francine und wie sehr sie sich am nächsten Morgen darüber freuen würde und es erfüllte mich mit wohltuender Wärme.
Doch die innere Wohle wurde erstickt, durch die Kälte der hereinbrechenden Nacht, welche sich gnadenlos um mich wickelte, mich zurückdrängte, in die Wirklichkeit. Sie umfasste mich vollkommen, wie ein festes Tuch und ließ mich erzittern.
Zurückblickend waren der heutige Tag und die damit verbundenen, vergangenen Geschehnisse so sonderbar gewesen. Mithin so unerklärbar, dass ich dankbar über jede Ablenkung war, die sich mir innerhalb meiner Ladenschicht, aufgedrängt hatte.
Nun eröffnete sich ein neuer Abend und die befürchtete Ruhe kehrte ein. Stille, welche mir zu viel Raum für weitere, schleierhafte Gedanken ließ. Zu viele Fragen kamen mir in den Sinn und niemand konnte mir auf diese Antworten geben, die ich brauchte.
...
Alles begann mit einer Münze, die sich hatte nicht „hergeben" lassen. Ein Schmuckstück, dass jedes Mal auf der Haut brannte, wenn... wenn irgendwelche skurrilen Dinge in mein Leben traten? - Keine Ahnung, ich wusste nicht warum es geschah. Ich wusste nur, dass es passierte.
Als wäre ein Albtraum, der sich jede Nacht aufs Neue wiederholte noch nicht genug...
Sofort dachte ich an die tote Erscheinung von Victoria Blake. Die verknotete Schlange auf ihrem Handgelenk. Es war das gleiche Bild, wie das, was an Madame Couture's Wand gehangen hatte. Diese Hypnotiseurin, die auch noch als Barista in der Universität aufgetaucht war, (fast hatte ich dieses wichtige Detail vergessen).
Fragen über Fragen...
Dann war Victoria tatsächlich aufgetaucht. Lebendig, doch ohne Schlangen-Tattoo.
Als wäre ihre Erscheinung nicht merkwürdig genug gewesen, hatte sie auch noch meinem besten Freund alias „Der krasseste Herzensbrecher aller Zeiten" den Kopf verdreht.
Kopfschmerzen bereitete mir auch noch die Erwähnung dieses Schlüssels.
Ein Schlüssel, von dem ich glaubte, ich hatte dessen Metall in meinen eigenen Händen spüren können. Damals im Stadtpark. Doch dies war auch scheinbar nur Einbildung gewesen...
Ich erinnerte mich an das grauenhafte Schattenszenario im Park. Dort war ich auf diese seltsame Frau getroffen, welche darum flehte, dass ich endlich irgendetwas „sehen" sollte.
Da waren diese Kreaturen in den Schatten...
Und nicht zu vergessen war, das Pentagramm, welches ich in einer Vorlesung völlig selbstlos gemalt hatte.
Oder diese Drogenabhängigen hier und da, die aus dem Nichts auf der Bildfläche aufgetaucht waren... Standen sie in irgendeiner Verbindung zu meinen absurden Erscheinungen? Oder diese rauchigen Augen, die teerartigen Tränen - waren sie die Symptome einer neuartigen Droge?
Manchmal fühlte ich mich selbst, als stünde ich unter Einfluss irgendeines Rauschgiftes...
Vielleicht war es auch genau diese Droge, die mir Edmond Hobbs an Halloween in Getränk gemischt hatte?
...
Gedanklich lief ich noch einmal auf den Fluren unserer Universität und mir erschienen die vernebelten Augen des Professors, danach eine tote, aber dennoch lebendige Victoria Blake. Abschließend verkaufte ich Blumen an einen mysteriösen Kunden, welcher zugegebenermaßen auch eine ziemliche Sahneschnitte gewesen war. Bei Letzterem hatte wohl mein Verstand versucht seine beste Karte gegen mich auszuspielen, denn er passte so ganz und gar nicht in meine Albtraumerscheinungen.
Oder vielleicht doch, denn im Laden hatte es tatsächlich so gewirkt als würde er in Sekundenschnelle durch Wände gehen.
Okay, das alles war mir eindeutig zu viel gewesen.
Mein Kopf schüttelte sich. Da gab es so Vieles, was ich nicht verstand. Da war mehr. Viel mehr.
Auch wusste ich, dass ich nicht verrückt war. Mein Inneres raste plötzlich. Unverblümt gab mein Verstand es zu: Ich war nicht verrückt.
Doch bedeutete es nicht auch im Umkehrschluss, dass alles andere in meinem Umfeld auch Wirklichkeit war?
Bevor Francine sich selbst in den Feierabend entlassen hatte, hatte sie das Schild auf der Innenseite der glasigen Eingangstür von „Herzlich Willkommen", auf die Seite „Wir haben geschlossen" gewendet.
Dies war vor etwa einer Stunde geschehen.
Abwinkend hatte sie mir auch versichert, dass die schmutzigen Fenster auch noch am nächsten Morgen gewischt werden konnten.
Doch das war nun erledigt gewesen.
Mit einem Blick nach draußen, hatte sie betont, dass es schon dunkel wurde und sie sich vergewissern wollte, dass mir auf einem späten Heimweg nichts passierte.
Aber mein Wille, die Angst vor dem Alleinsein und mein Unmut waren größer gewesen als ihre Sorge. Und nun war es spät geworden und die Dunkelheit schon längst hereingebrochen.
Ob Riley sich daheim auch schon fragte, wo ich blieb?
Immerhin war es unser unverwechselbarer und sagenhafter Freitagabend. Der Tag, welchen wir meistens damit verbrachten die ungesündesten Snacks zu verspachteln und irgendwelche Blockbuster im Fernsehen zu sehen.
Ich dachte daran, wie mein bester Freund sich bereits allein, auf unserer viel zu kleinen Couch, Käseflipps und Nachos hineinschaufelte und darauf wartete, dass ich endlich heimkehrte.
Die Vorstellung ließ mich schmunzeln und den Wunsch den Weg nach Hause anzutreten, neu aufkeimen.
Nachdem ich die Tür hinter mir abgeschlossen hatte, wandte ich mich der Dunkelheit zu.
Ich hatte das Gefühl, dass sie bereits auf mich wartete. Als würde sie lauern.
Die Luft des Abends liebkoste meine Wangen und wehte mir kühl durchs Gesicht. Es fühlte sich unerwartet gut an.
Ich schloss die Augen und ließ meinen Hinterkopf gegen die Ladentür sinken.
Ein tiefer Seufzer entfuhr mir. Ein Seufzer, welcher die große Belastung, welche auf meinen Schultern lag, nicht ansatzweise ausdrücken konnte.
»Das hatte dann wohl doch länger gedauert...
Länger als gedacht.«
Ich fuhr zusammen.
Eine vertraute rauchige Stimme.
Und plötzlich stand er vor mir.
Es war der Schaufenster-Typ, gekleidet in kühlem Leder und lässigen Jeans.
Er blickte mich mit undurchdringbarer Miene an. Die Augen voller grüner Smaragde.
»Du-?« hauchte ich. 'Cause I knew you were trouble when you walked in.
Tatsächlich brauchte ich noch ein wenig, um mich zu besinnen. »Was machst du noch hier!?«
Keine Antwort.
»Du wolltest gar nicht wirklich Rosen kaufen. Ich wusste es.« Eine Befürchtung. Keine Vermutung.
Stille. Dann bedachte er meine Feststellung mit einem Lächeln. Ein breites Grinsen. Es wirkte fast unheimlich.
Mein innerer Notfallsensor ging auf Alarmbereitschaft. Ich rechnete.
Schlagartig wurde mir klar, dass der Typ mindestens zwei Stunden auf mich gewartet haben musste.
Angst wickelte sich um meine Glieder und ließ das Blut in meinen Adern pulsieren.
Blinzelnd starrte ich in die Schwärze.
Um uns herum erstreckte sich die leergefegte Straße von Greenville. Keine Menschenseele.
Vor etwa 30 Minuten war Francine in den Feierabend gegangen und somit nicht mehr einzuholen. Wir waren allein.
Ich stand also mit diesem mysteriösen Fremden auf offener Straße und war wirklich völlig wehrlos.
Das Herz hämmerte mir in der Brust und intuitiv griff ich in meine Hosentasche. Nichts.
Mein Handy steckte in meiner Handtasche und diese hatte ich wohl im Laden vergessen. Mist.
Mein Kopf erschuf also einen neuen Plan, wie ich es eventuell zurück in das Geschäft schaffen würde, wenn ich mich beeilte.
Aber ich musste wirklich schnell sein.
Ich musste also Rennen.
Die Straßenlaternen von Greenville leuchteten nur schwach, aber hinterließen einen schmalen Streifen hellen Lichtes auf dem Gesicht des Fremden.
Es verlieh ihm einen unheimlichen Schein. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dir nichts tun.«
»Was willst du von mir?« knurrte ich trotzdem.
»Vertrauen,« ein so einfaches Wort hallte durch die sternklare Nacht. »Doch ich konnte nicht riskieren, dass deine Chefin, ein weiterer... Mensch, etwas so streng Vertrauliches mitkriegt.«
Ich verstand nicht.
»Also habe ich lieber auf dich gewartet. Bis wir ungestört und allein sind,« er trat nun noch näher und die Dunkelheit ließ das Grün seiner Augen zu dunkler Schlangenhaut werden.
Eiskalt durchliefen seine Worte meinen Körper. Dies war mein Startschuss. Jetzt oder nie.
Blitzschnell drehte ich mich um, Richtung häuslicher Sicherheit.
Mein Herz drohte zu Zerspringen.
Der erste Fuß tat sich nach vorn. Ein Schritt, welcher mich meiner Rettung nahebrachte.
Doch dann. Plötzlich.
Ein kräftiger Ruck durchzog meine beiden Schultern.
Vor Schreck glitt mein Schlüsselbund durch die Hand, zu Boden. Es klirrte.
Und ich starrte dem gefallenen Missgeschick hinterher. Angststarre.
Es war ein unerwarteter, aber doch lockere Griff. Der Unbekannte hielt mich fest, aber nur so fest, dass ich keinen Schritt weiter nach vorn gehen konnte. Es schmerzte nicht und er tat es, ohne dass mehr als seine Fingerspitzen mich berührten.
Auf seltsamste Weise wurde mir durch seine Berührung wärmer. Ich wandte mich dennoch aus seinem Griff: »Lass mich los!«
Er hob beschwichtigend beide Hände und befolgte meinem Befehl. »Ich möchte wirklich nur mit dir reden,« es war fast ein Flüstern.
Leise Worte, welche jedoch eine erstaunlich beruhigende Wirkung auf mich hatten.
Völlig verblüfft starrte ich ihn an.
»Vielleicht hätte ich mich erstmal vorstellen sollen,« er räusperte sich, »ich bin Aiden.«
Er hielt mir die Hand hin. Während er dies tat, blickte sein Augenpaar tief in meins.
Es war von einem so beachtlichen Grün.
Erst jetzt viel mir auf, dass so bedrohlich es mir vorher auch erschien, es jetzt doch gar nicht war. Viel mehr war es der besorgte Blick eines Freundes, nicht der eines Fremden.
Plötzlich stellte ich fest, dass ich ihn unbegründeter Weise traute. Doch warum?
»Nora Davis,« antwortete ich und erklärte meinem Inneren, die Vorstellung sei nur ein Akt purer Höflichkeit.
Ich ergriff seine Hand und schüttelte diese.
Eine kurze Gesprächspause entstand.
»Ich weiß was dir widerfahren ist.«
unheimlich durchdrang seine Stimme die Nacht.
Ein Luftzug wehte entgegen der scheinbaren Windstille. Ein Ausspruch, welcher kraftvoll auf seiner Zunge gelegen hatte und mir nun den Atem raubte.
Doch seine Augen versprühten wahre Funken.
»Ich kenne deine Geschichte. Deine Träume, - du hast Angst vor ihnen. Sie werden realer und schlimmer. Doch ich weiß was mit dir geschieht und kann es dir erklären... wenn du es möchtest.«
»Woher...?«
»Woher ich das weiß? Ich weiß so Einiges. Aber zunächst benötige ich dein Vertrauen.«
Einem "Fremden vertrauen".
Einem Unbekannten, in welchem der Ausdruck eines Freundes innewohnte. Innere Unruhe kämpfte mit dem Gemüt klaren Menschenverstandes.
»Lass es zu und lass mich dir helfen, Nora.«
Jetzt hielt er mir erneut die Hand hin, aber diesmal bedeutete sie, mit ihm mitzukommen, nicht diese zu schütteln, »Aber wir sollten zunächst irgendwo anders hingehen. Irgendwohin, - wo du dich wohler fühlst.«
Er bemerkte wohl meine Unsicherheit: »Donuts & Friends?« Jetzt lächelte er.
Es war ein so friedvolles, natürliches Lächeln. So einladend und wunderschön. Beinahe fühlte ich mich verzaubert.
Es brach dem logischen Menschenverstand vollends das Genick.
Unerwartet musste ich Auflachen. So laut und ich konnte kaum wieder damit aufhören. Die Einsicht packte mich nahtlos, denn in Erwägung zu ziehen, mit einem Fremden, nachts, Donuts essen zu gehen, war mithin das Dämlichste, was mir je in den Sinn gekommen war.
Mit verwirrter Miene betrachtete er das sich darbietende Schauspiel. Auch ich blickte in das Gesicht meiner neuen Bekanntschaft: Aiden.
Der mysteriöse Typ aus dem Schaufenster, welcher unheimlich und vertrauensvoll zugleich war.
Unerklärbarer Weise war die Angst längst verflogen.
»Okay. Donuts & Friends,« bestätigte ich immer noch lauthalslachend.
Noch immer streckte er mir die Hand entgegen. Ohne zu zögern ergriff ich die freundliche Wärme und es fühlte sich plötzlich an, als könnte er sie mir tatsächlich geben: Die Antworten auf alle meine Fragen.
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