(14) Das abgef*ckteste Jubiläum aller Zeiten
Eleonora
Smaragdgrüne Augen. Augen, welche direkt in die Seele blicken können, ich konnte sie nicht vergessen.
Der träumerische Gedanke ließ mich leicht aufseufzen. Ich kaute an meinem Stift, in welchem die Aufschrift unseres Colleges gestanzt war. Bildlich hatte ich ihn vor Augen.
„Ihn", den mysteriösen Fremden aus meinem letzten Traum. Er füllte fast jeden einzelnen Raum meines Denkens.
Der namenlose Schönling mit diesem breiten Oberkörper und diesem undurchdringlichen Blick. Nicht nur das Aussehen hatte mich vollkommen fasziniert, sondern viel mehr noch diese wohltuende, aber dennoch gefährliche Aura, welche er ausgestrahlt hatte.
"Er" war nur ein Traum, tadelte ich mich selbst, "er" existiert nicht, du Traumtänzer.
Doch ich konnte nicht anders und so ersehnte ich ihn weiter vor mich hin.
»Ah,« hallten plötzlich mehrere Stimmen voller Erkenntnis durch den Hörsaal.
Und erst jetzt wurde mir klar, dass ich wieder einmal in meinen Gedanken vertieft war und nun überhaupt keine Ahnung hatte von dem, was der Professor am Pult ein paar Meter vor mir gesprochen hatte.
Es musste etwas Klausurrelevantes gewesen sein, denn die meisten Absolventen zückten nun ihre Stifte und schrieben konzentriert etwas auf.
Mist, da habe ich wohl was Wichtiges verpasst.
Ich sank zurück in meinen Stuhl und ermahnte mich mehrfach, von jetzt an besser aufzupassen. Durch den Saal blickend erkannte ich, dass Victoria Blake „wieder unter uns" war.
„Unter uns" - Himmel, bin ich heute witzig, und ich schmunzelte über meinen unausgesprochenen Wortwitz.
Sie schien eine von der Sorte zu sein, welche extrem laaaange ihren Kopf in den Notizblock steckten. Nicht nur besonders schön, sondern auch besonders klug.
Sie hörte sogar gar nicht mehr auf zu schreiben. Doch. Da. Jetzt.
Nein. Immer noch nicht.
Um Himmelswillen, was schreibt sie da nur?!
Anders als ihres, triefte mein Blatt geradezu vor vollkommener Reinheit. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen.
Ein Gedankenblitz durchfuhr mich. Auf einmal erkannte ich, weswegen alle Studenten um mich herum so vertieft waren. Plötzlich ergab es sogar Sinn, weswegen Victoria so lange schrieb.
Also griff auch ich nach meinem Kugelschreiber, bevor der plötzliche Einfall zu erlöschen drohte.
Woher ich auf einmal diese Idee hatte?
Keine Ahnung. Albert Einstein hatte man ja schließlich auch nicht gefragt, woher seine geistreichen Einfälle kamen.
Vor meinem geistigen Auge ergab sich mir ein Schaubild. Es mussten die Worte des Professors gewesen sein, welche ich doch unbewusst aufgeschnappt hatte.
Zuversichtlich zeichnete ich es auf.
Meine Rechte bewegte sich intuitiv wie durch Geisterhand, ich brauchte nicht einmal wirklich hinzusehen, so sicher war ich mir über das, was ich vor mich hin skizzierte.
Die Antwort auf meine Frage,
fast so einfach wie „Malen-Nach-Zahlen".
Ich verknüpfte mehrere Linien miteinander, so dass es für mich noch mehr Sinn ergab. Es sollte damit im Großen und Ganzen noch anschaulicher wirken. So. Fertig.
Erstarrt blickte ich auf das Blatt vor mir. Mehrmals musste ich blinzeln.
Es war ein Pentagramm.
Nein das Pentagramm.
Das Symbol, das Abbild dessen, welches im Auge der unbekannten Frau im Stadtpark erschienen war.
Tatsächlich handelte es sich um das Pentagramm aus meinem Thriller.
Einer Einbildung mitten am Tag.
Es war ein bedeutungsloses Hirngespinst gewesen. - Doch in dem Moment als „es" geschah, war es mir so real vorgekommen.
Die unbekannte, brünette Frau. Ich spürte wieder die Wärme ihrer Hand.
Ein Klappern ertönte. Mir sackte der Stift aus den zittrigen Fingern. Mein Körper bebte unausweichlich, als mich der Aufschluss packte und es mir mit einem Ruck, wie Schuppen von den Augen fiel: Oder war es doch kein Thriller gewesen?
𖥸
Die Uhr über dem Torbogen der Greenville Universität läutete und zündete damit meinen Startschuss. Völlig entgeistert packte ich zusammen, schnappte mir den Rucksack und raste an den Studenten vorbei, welche nun in den Hörsaal traten.
Wobei ich in meiner Hektik mit so manchem Entgegenkommenden zusammenstieß.
»Verdammt. Pass doch... du...hinläufst!«
sie fluchten irgendetwas vor sich hin.
Doch ich verstand es kaum. Es interessierte mich nicht einmal. Ich wusste noch nicht einmal, wohin ich wollte.
Rys hatte sich direkt nach seiner Vorlesung aus dem Staub gemacht. Ich erinnerte mich an die Worte: „Ich muss dringend weg. Ich habe noch etwas zu erledigen," oder so ähnlich.
Also blieb mir nichts anderes übrig. So marschierte ich nun alleine auf dem Kiesweg. Nein, ich sprintete fast.
An der nächsten Laterne machte ich jedoch kurzen Stopp und atmete aus. Schnappatmung.
Beruhig dich. Bloß nicht durchdrehen.
Du zeichnest nur, was du gesehen hast.
Ob es nun ein Traum war oder nicht...
Immerhin studierte ich ja Psychologie und wusste, dass Dinge, welche einen unterbewusst beschäftigten, sich durch solche "körperlichen Reaktionen" äußern konnten.
»Eine ganz natürliche Reaktion des Körpers, um ein Trauma zu verarbeiten,« zitierte ich einen Professor.
Bloß ein Trauma, wiederholte die innere Stimme. Es half.
Und der Fakt, dass sich meine Thriller wohl immer realer anfühlten, gar "echt" wurden, rückte in den geistigen Hintergrund.
Plötzlich war ich mir wieder sicher, dass es sich nur um einen „harmlosen Tagtraum" gehandelt haben musste.
Beruhigend zog ich neue Luft in meine Lungen und atmete sie wieder aus. Genau, reiß dich zusammen.
Schon in der Grundschule klagte ich über Schlafmangel und Albträume. Schlecht hatte ich mich konzentrieren können. Es fiel mir sogar schwer einen Stift zu halten und wenn es nicht das war, woran man es bemerkte, äußerte es sich durch mein Auftreten.
Zitternde Glieder. Blutunterlaufenden Augen. Eine kreidebleiche Haut.
Ein besorgter Lehrer hatte damals meine Eltern zu einem Gespräch eingeladen, nachdem ich das erste Mal in einen plötzlichen Sekundenschlaf gefallen war. Und das mitten am Morgen.
Mom und Dad zogen daraus Konsequenz. Sie verfrachteten mich früher ins Bett.
Nichts davon half. Natürlich nicht.
Zunächst hatte man es für einen schlechten Scherz meinerseits, dann für die Trotzphase eines Kindes gehalten.
Die Ärzte verschrieben "Doxylamin".
Doch das Beruhigungsmittel wirkte nicht.
Meine Noten wurden weitestgehend schlechter und die Ärzte, sowie auch viele Lehrer wussten nicht mehr weiter. Das Zu-Bett-Gehen wurde zu einem Kampf und damit stand ich nachts vor meinem größten Gegner. Unbedingt wollte ich diesen schlagen, denn ich wollte NIE WIEDER schlafen. Nie wieder.
Meine Eltern befreiten mich irgendwann aus dem Unterricht. Womöglich, weil ich ausgehen hatte, wie eine auferstandene Kindesleiche, ähnlich wie in "Friedhof der Kuscheltiere".
Doch als wäre das nicht die Spitze des Eisberges gewesen, machte mir mein Immunsystem im Laufe der Zeit, auch noch einen Strich durch die Rechnung. Dauerhaft war ich krank. Dauerhaft bettlägerig. Ziemlich unvorteilhaft für jemanden, der nicht einschlafen wollte.
Ein schlimmer Kreislauf.
Gelandet war ich schließlich bei einem Psychologen. Fast vier Mal die Woche führte ich intensive Gespräche mit Professor Dr. Lincoln, meinem persönlichen Therapeuten und zufälligerweise gleichzeitigen Englischlehrer der Grundschule.
Er stellte mir viele Fragen. Meinen Eltern erstattete er ausführlichen Bericht.
Heute wusste ich, dass es an unangenehmen Erfahrungen und vor allem an unterbewussten Ängsten gelegen haben musste. Es musste etwas sein, mit dem ich wohl tagtäglich zu kämpfen hatte. Sowas wie „tägliche Schockimpulse", welche ich bewusst nicht wahrnahm, da ich sie mir selbst nicht eingestehen wollte oder konnte.
Ich pflegte lange Zeit zu meinem Vertrauenslehrer Kontakt. Doch dieser verlief sich im Laufe der Jahre. Allerdings bewahrte ich noch heute seine E-Mail Adresse und Handynummer auf, als wären sie mein größter Geheimschatz. Es war wie eine Art "Notfall-Knopf", den ich drücken konnte.
Um genauer zu sein hatte ich seit Anfang meines Studiums sogar eine sehr lange E-Mail verfasst, bei welcher ich bisher noch keine Überwindung gefunden hatte, sie abzuschicken.
Doch noch nie war mein Verlangen größer danach gewesen, wie gerade jetzt.
Allerdings wollte ich mir nicht ausmalen, wie er reagieren würde, was es verändern würde.
Was würde wohl passieren, wenn Lincoln davon erfuhr? Wenn er wüsste, dass nach jahrelangem Stillstand, meine Hölle auf Erden zurückgekehrt war? Würde er auf direktem Wege Mom kontaktieren?
- Das konnte und wollte ich ihr einfach nicht antun. In ihren Gedanken existierte jetzt das „geheilte Mädchen". Dieses wollte ich ihr um keinen Preis entreißen.
Wenn ich nur daran denke, wie viel Mühe sie sich früher immer gegeben hatten. Damals.
Der 31. Oktober, 2006.
Ich war auf die Idee gekommen, unbedingt draußen bei den Sternen schlafen zu wollen. Mich beruhigte das Glitzern dieser unerreichbaren Himmelskörper und da ich ja sowieso kaum den Schlaf fand, war es eine gewonnene Ablenkung.
Mein Dad war einfach der Beste, denn er hatte, im Garten für Rys und mich ein Zelt aufgebaut. Noch ganz genau, erinnerte ich mich an unsere erste Übernachtung im Garten.
Die erste und einzige Übernachtung...
In dieser einen Nacht überkam mich ein Thriller, der so real war, dass selbst Rys ihn hatte spüren können. Es war der Höhepunkt aller meiner Albträume gewesen, doch mithin auch der Letzte.
...Der Letzte bis ich, sechzehn Jahre später, mein Psychologie Studium begonnen hatte.
Damals waren sie einfach verschwunden.
Mit dem Anbruch des nächsten Tages träumte ich wieder, wie eine normale Sechsjährige.
Doch Rys hingegen hatte man aus dem Baumhaus der Nachbarn evakuieren müssen.
Er erfuhr wohl den Schock seines Lebens.
Bis heute verloren mein bester Freund und ich kein Wort mehr über diese eine Nacht.
Vielleicht hatte er sie auch vergessen?
Im Laufe der weiteren Jahre fing ich an, mich eindringlicher für Psychologie zu interessieren.
Irgendwann hatte ich für mögliche Heilungsmaßnahmen, Methoden, Hilfen und Therapien im Rahmen von Schlafstörungen gebrannt. Nun strebte ich sogar ein Studium an um Menschen, vielleicht auch anderen Kindern, welche genau unter den gleichen Problemen litten wie ich, helfen zu können.
Vielleicht könnte ich sogar herausfinden, was genau mir geholfen hatte, hatte ich gedacht.
Vielleicht könnte ich es ja irgendwann auf Andere anwenden?
Dies waren meine Beweggründe und nun sah ich an mir herunter und zweifelte nicht nur an meinem Leitfaden, sondern vor allem an mir.
Denn sie waren wieder zurück. Die Thriller.
Bis zum Beginn meines Studiums, hatte ich geglaubt, ich wäre „geheilt" gewesen.
Doch die erste Nacht in unseren neuen vier Wänden in Greenville, sollte eine Schlaflose sein.
Da war ein Thriller, der mich immer wieder durch die kalten Wände eines Flures zog, durch einen schmalen Gang und in die kalten, ausdruckslosen Augen einer Frau blicken ließ - Victoria Blake.
Ja, - Es war das abgefuckteste Jubiläum, dass ich mir je hätte erträumen können, (Achtung Wortwitz).
Die Nächte wiederholten sich.
Alles war wieder, wie damals.
Doch er hatte es verändert.
Der Mann, von dem ich letzte Nacht träumte.
Ein Unbekannter unter sternklaren Himmel.
Er hatte die Kette unterbrochen.
Mein namenloser Retter im Smoking.
Träumte ich demnächst also wieder von ihm? War er nun die neue Wiederholung?
Nichtsdestotrotz durfte niemand von der aktuellen Existenz meiner Thriller erfahren.
Lincoln hatte damals zwar seinen Job gemacht, doch er hatte mich nicht „geheilt".
Mit Sicherheit nicht. Ich spürte es.
Abgesehen davon, dass es wohl für viel Wirbel innerhalb des Colleges Sorgen würde, wenn an die Oberfläche trat, dass gerade ich auf eine Therapie angewiesen war.
„Die beste Stipendiaten des Jahrganges", hatten sie mich nämlich in der damaligen Zeitungsausgabe betitelt.
Es wäre wohl sehr imageschädigend für einer der anerkanntesten Universitäten Englands. Es sollte mein Geheimnis und eine ungeteilte Belastung sein. Demnach würde es auch kein Familiendrama geben und keine Therapie, welche wohl meine eigene Karriere zerstörte und wahrscheinlich auch den Ruf einer guten Universität.
"Solange die Thriller nicht noch schlimmer werden, brauche ich keine Hilfe", so war immer mein Mindset.
Die alte Nora hätte in diesem Moment wahrscheinlich „Don't stop believin' von Journey" hoch und runter laufen lassen. Solange, bis sie einen positiveren Gedanken gefasst hätte.
Doch diese Nora existierte nun nicht mehr.
Vieles hatte sie zu jemand anderen werden lassen. Die Thriller, der Tod meines Vaters.
Die Thriller.
Bislang hatte ich sie zwar einigermaßen „unter Kontrolle". Doch der fehlende Schlaf machte sich bemerkbar. Vor allem Rys kannte dieses müde Gesicht. Und ich hoffte, er würde die Wahrheit nicht schon längst ahnen.
Eine Träne kullerte mir über die Wange. Im gleichen Atemzug wischte ich sie mit dem Handrücken weg.
Doch mit einem Blick auf die Armbanduhr, stellte ich fest, dass ich keine Zeit mehr hatte.
Keine Zeit mehr hierfür.
Also trat ich den gewohnten Weg zum Blumenladen an, denn meine Schicht im „Frenzie's" würde bald beginnen.
Doch es änderte nichts daran, ich war traurig.
Und die Welt um mich herum, erschien mir dazu umso trauriger.
Die Häuser meines Weges, zogen nun noch tiefere Schatten, während ich mir ständig einbildete von dunklen Vögeln und Schatten umkreist zu werden...
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