(13) Der Traummann
Eleonora
Ein atemberaubender Nachthimmel.
Meine Füße führten mich dieses Mal nicht durch einen langen, kalten Flur.
Ein anderes Bild. Es blitzte im Dunkel.
Unzählbar viele Sterne zeigten sich in einem außergewöhnlich hellen Strahlen. Große und leuchtende Bälle aus Licht fluteten die Decke aus unendlichem Schwarz. Das Funkeln erschien plötzlich zum Greifen nah.
Dunkelheit. Von Kindesbeinen an hatte ich mich vor ihr gefürchtet. Über mein Kopf jedoch, zeigte sie sich nun von ihrer schönsten Seite.
Sie machte mich zu ihrem stillen Bewunderer. Einem skeptischen Beobachter.
Da stand ich nun. - Heimlich wartend auf den gewöhnlichen Stich der Angst, welchen sie mir versetzte.
Doch er blieb aus. Denn das Bild der Nacht war viel zu wunderschön. So wundervoll, dass ich noch näher herantreten wollte.
Allerdings befand ich mich zu weit weg vom Geländer. Ich stand nämlich auf einer Terrasse, welche sich nach Rechts und Links in eine scheinbare Unendlichkeit erstreckte.
Skepsis. Die Verzückung trieb mich dennoch nach vorn und ich wagte den ersten Schritt.
Erst jetzt bemerkte ich die Schwere eines Kleides. Fester schwarzer Stoff umgab mich bis zur Taille und ließ den Rest davon, in Tüll fließend an mir herabfallen. Das Licht der Sterne reflektierte an den glitzernden Stellen und ließ es aufleuchten.
Ich staunte. Das Kleid spiegelte den Sternenhimmel wider. Begeisterung versetzte meinen Kopf in ein Auf und ab.
Bis sich mein Blick verfing und ich plötzlich die Kehrseite eines Mannes bemerkte.
Ein mir zu gewandter Rücken mit breiten Schultern. Nur wenige Schritte vor mir stand er und schien auch den Horizont und dessen Schönheit zu betrachten. Worte steckten mir im Halse, denn mit ihm ergab es das perfektes Bild in einem Meer voller Anmut und Glanz.
Wer ist das?
Die Neugier packte mich.
Ich drängte meinen Körper also weitere Schritte vorwärts. Beinahe hätte ich ihn berühren können. Doch nur beinahe.
Dreh dich um, befahl ich in Gedanken.
Als hätte er meine unausgesprochenen Worte gehört, wandte er sich vollends mir zu und ich erblickte sein Antlitz.
Und es bestätigte sich mir: Vor mir stand der schönste Mann, den ich je gesehen hatte.
Seine Augen blickten direkt in die meinen.
Grüne Augen. Sie ließen meinen Atem automatisch schwerer werden.
Ein schmales Gesicht mit leicht gebräunten Teint, umrahmt von herben Gesichtszügen, einen viel zu schönen, vollen Mund mit sinnlichen Konturen und prägnanten Wangenknochen.
Dazu trug er einen schwarzen Anzug, der sich perfekt an die männliche Form schmiegte und die darunter sitzenden Muskeln mehr als nur vermuten ließ. Seine Verbeugung überraschte mich jedoch und weckte mich aus einer Trance.
Jedoch drang nichts aus meiner Kehle.
Mein Herz sprang stattdessen in alle Höhen.
Er ist atemberaubend.
»Wunderschön-,« kam es unkontrolliert aus mir heraus.
Ein unbeschreiblich attraktives Lächeln stahl sich auf seine Lippen. »Ich weiß,« seine melodische Stimme erklang und hallte noch mehrmals in meinem Kopf.
Er sprach mit einem etwas raueren Klang, aber ließ die Worte dennoch so sanft klingen, so angenehm, dass ich mir vorstellen könnte, ihm die ganze Nacht lang zu zuhören.
Der Fremde senkte nun den Kopf, um mir noch tiefer in die Augen zu sehen. Eine schwarze Strähne seines seidigen Haares lockerte sich und fiel ihm in die Stirn.
Ich widerstand dem Drang diese ihm unmittelbar aus dem viel zu schönen Gesicht streichen zu wollen. Doch geradezu unmöglich war es, ihm seine Friseur nicht zu ruinieren.
Oh mein Gott, was denke ich denn da?!
Da bemerkte ich erst spät, dass sein Blick noch immer auf mir ruhte. Er begutachtete mich. Ausgiebig, als könnte er viel mehr sehen.
Als könnte er direkt in mich sehen.
Es war ein Ausdruck, welcher mir die Sinne zu rauben schien. Seine Augen machten den Eindruck, als wollten mich diese verzehren.
Diese grünen Edelstein-Augen.
»Aber der Nachthimmel ist noch lange nicht so schön wie du,« erfüllte er mich mit rauem Klang.
Mir stockte das Herz. Ich zog lebensnotwendige Luft in meine Lungen. Okay, Atmen.
Nun pumpte es schnell und wollte einfach nicht mehr damit aufhören.
Er ignorierte meine Sprachlosigkeit und hielt mir die Hand hin: »Komm.«
Mein Körper wollte gehorchen, wollte diese starke Hand ergreifen und noch den einzigen kurzen Schritt vorwärts gehen. Doch stattdessen, fiel ich schnurstracks aus dem Bett.
Oh mein Gott, das war ein Traum,
ich rieb mir die Augen, aber ausnahmsweise mal ein echt attraktiver Traum!
Dieses Mal hatte ich nicht von demselben, langen Flur geträumt, nicht von Victoria, der Leiche.
Diesmal war es anders gewesen.
Vollkommen anders.
Verschlafen schielte ich nun auf den Wecker.
»Verdammt. Ich komm zu spät zu meiner Vorlesung,« und es fegte den neuen Ansturm aus Gedanken vorüber.
𖥸
Vogelgezwitscher lag in der Luft, sowie der zarte Duft frischer Brötchen. Diese waren in Papier verpackt worden, nachdem der Mann vom Kiosk sie an Rys und mich verkauft hatte. Doch der Hunger wollte mich einfach nicht mehr holen.
Riley wagte einen Griff in die Tüte.
Da sprudelten die Worte geradezu aus mir heraus: »Was hast du gerade gesagt?
Ein Date!? Das ging aber schnell!«
»Vic ist interessant,« gab Rys zwischen zwei Bissen seines Käse-Brötchens zu verstehen,
»und außerdem verdammt hübsch. Ich will sie unbedingt besser kennenlernen.«
„Vic" musste wohl die neue Abkürzung für „Victoria" sein. Aha.
Mit Roboter-Armen angelte auch ich nun mein verspätetes Mittagessen aus der Tüte.
Riley und ich hatten es uns, wie gewohnt, auf einer Wolldecke gemütlich gemacht. Wir lagen inmitten des Campus-Grünen.
Seine und meine Vorlesung hatten wieder einmal zeitlich dicht beieinander gelegen, so, dass wir auch den Nachmittag zusammen verbringen konnten. Doch diesmal war es... anders.
Da waren keine Hände gewesen, die mich in die nächste Dunkelheit zerrten.
Kein begieriger Blick.
Keine lüsternen Bemerkungen.
Ich kaute auf meinem Brötchen, während ich mir Victoria Blake's Erscheinung in den Kopf projizierte. Es schmeckte wie Pappe.
Ich konnte es meinem besten Freund nicht verdenken, denn es stimmte. Victoria war mit ihrem blonden Haar, ihrer nahezu perfekten Figur und dem Gesicht eines Models, tatsächlich eine Augenweide.
„Gesicht eines Models."
Ha! Wohl eher Model im Leichenschauhaus, kommentierte mein zynisches Ich.
Die Zahnräder in meinem Kopf ratterten unermüdlich, denn auch weiterhin fraß sich das Thema „Victoria" in mein Gehirn, wie ein lästiger Parasit.
Der Sonne jedoch, gab ich eine Chance. Diese streichelte beruhigend mein Gesicht.
Nein, - unsere heutige Pause würde ich mir nicht vermiesen lassen.
»Ist das so schwer zu glauben?« lachend schüttelte mein bester Freund den Kopf.
»Was meinst du?«
»Ich meine, dass ich mich für jemanden wirklich interessiere.«
Ja, eigentlich schon, hätte ich am liebsten von mir gegeben.
Aber aus meinem Mund kam lediglich ein: »Nein. Natürlich nicht.»
Er hatte meine zusammengezogene Stirn bemerkt. Mist.
»Ich meine,« versuchte ich es erneut, »ich freue mich für dich. Wirklich. Nur-«
»Es ist... unüblich für mich? Ich weiß,« fügte er zu meinem Überraschen an.
Ich habe von deinem toten Date geträumt! warf meine Gedanken-Stimme gnadenlos dazwischen.
»Aber Menschen ändern sich, Nora. Mich eingeschlossen. Meine wilden Zeiten sind auch irgendwann mal vorüber.«
Und das mit uns höchstwahrscheinlich auch.
Meinem Herzen versetzte es einen unbekannten Stich.
»...Ein richtiges Date also,« stellte ich fest.
Beim besten Willen konnte ich mir trotzdem nicht vorstellen, wie Rys einen romantischen Abend bei Kerzenschein verbrachte oder sich überwand einen schnulzigen Kinofilm zu sehen. Gerade er war doch eine Person, vor der man besser romantische „Gute-Nacht-Lektüren" unter dem Bett versteckte.
Mit gerade einmal vierzehn Jahren hatte er bereits den unüberwindbaren Drang entwickelt, Pärchen im Kinosaal mit Popkorn abzuwerfen. Und noch heute klaute er mir die Lesezeichen aus den Liebesromanen.
Also bitte, was hatte ihn da verzaubert?
»Wann geht's los?« warf ich anders ein.
»Haben wir noch nicht ausgemacht. Ich wollte erst auf Nummer sicher gehen, dass ich mich nicht total blamiere und sie am Ende doch überhaupt kein wirkliches Interesse an mir hat.«
»Ach so,« zu mehr war ich nicht fähig.
Nachdenklich ließ ich meinen Blick über den Campus schweifen. Ich konnte es nicht abstreiten, es gefiel mir einfach nicht, dass sie sich treffen würden.
Rys rückte absichtlich in mein Sichtfeld.
»Ach so? Bist du etwas eifersüchtig?«
»Äh... nein?!« flogen die Worte geradezu aus meinem Mund. Zu schnell. Zu gereizt.
Eifersüchtig... war ich das?
Ein warmleuchtendes, braunes Augenpaar.
Um seine Mundwinkel herum zuckte es ungewöhnlich.
Er meinte es wohl tatsächlich ernst mit ihr.
Hilfe. Er wurde sogar fast rot. Oder wurde ich es?
Eigentlich wäre jetzt der beste Zeitpunkt dafür gewesen, ihm mitzuteilen, dass ich von Victoria geträumt hatte. Und zwar nicht von einer Lebenden, sondern einer toten Victoria. Oben drauf auch noch von einer Version, welche sehr stark an „Chucky die Mörderpuppe" erinnerte.
Doch irgendetwas hielt mich davon ab.
In vergangen Jahren hatten Rys und ich uns immer alles erzählt. Zwischen uns gab es keine Geheimnisse. Hatte es noch nie gegeben.
Alles hatte ich ihm anvertraut, alles bis auf die plötzliche Rückkehr meiner Thriller. Rys war Theoretiker. Fast war ich mir sogar sicher, dass er sich über meine Hirngespinste keine tiefgründigen Gedanken machen würde.
...
Eine Nacht. Ein Zelt.
Sofort blitzten Bilder vor meinem geistigen Auge auf. Hastig zwinkerte ich die Erinnerung hinfort.
Oder vielleicht doch?
Allein die Tatsache, dass ich Victoria außerhalb meines Thrillers noch nie zuvor gesehen und sie plötzlich vor uns gestanden hatte, beängstigte mich. So etwas derart war schon lange nicht mehr vorgekommen. Schon lange nicht mehr seit... Einer gefühlten Ewigkeit.
Die Träume wurden also wieder realer - so wie einst in jener Nacht... 2006, an Halloween.
Ein alter Film verwackelte hinter müden Lidern. Die Schatten hatten sich bereits durch das Zelt gefressen. Ein Schrei.
Der kleine Junge mit der kreisrunden Brille war gerannt und gerannt, um Hilfe zu holen.
An meinen Händen klebte dunkles Rot.
Sehr viel Rot. Es schüttele mich.
Ich war allein. Ganz allein.
Das Band des Filmes verlief sich in meinem Kopf.
Rys würde es mir glauben, korrigierte ich mich sofort.
Definitiv würde er mir glauben.
Ich musste es nur aussprechen.
Er würde durchdrehen, auf die Barrikaden gehen und Mom informieren.
Professor Lincoln würde auch Bescheid wissen.
Eine Heidenangst würde es Rys einjagen.
Damals. Der Schrei, es war Rys' Schrei gewesen. Auch er hatte Sitzungen mit Dr. Lincoln führen müssen, nach jener Nacht.
Wie konnte ich das nur vergessen?
Gedanklich traf ich also eine Entscheidung:
Nein, noch nicht.
...
Noch hatte ich Zeit.
Noch würde er nicht erfahren, dass ich von seiner Victoria träumte.
Noch war alles beim Alten.
Thriller waren eben auch nur „Träume".
Ich steigerte mich da wahrscheinlich sowieso nur in etwas hinein.
Gerissener Stoff des alten Zeltes wirbelte durch die hereingebrochene Nacht, in meinen Kopf.
Vielleicht würde ich es Rys sagen, nachdem sie ihren ersten Kuss gehabt hatten. Vielleicht. Eventuell würde es noch nicht einmal so weit kommen. Das hieß also nur „abwarten".
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