(12) An Tagen wie diesen
Eleonora
Das Leuchten der Straßenlaternen deutete mir, dass mittlerweile der Abend eingekehrt war. Dunkelheit schlich sich langsam in das Tageshelle.
Nun stand ich endlich vor unserer moderigen Haustür. Vor wenigen Minuten war ich von einem weiteren Spaziergang zurückgekehrt. Ein Fußpfad, welcher bitter nötig gewesen war, um von dem Trip „Ich-bin-nun-völlig-verrückt-geworden" und „Ich-brauche-dringend-Hilfe" runterzukommen.
Nachdem ich mir mehrere Mantra ins Gedächtnis gerufen hatte, pflichtete ich mir bei, dass alles in Ordnung mit mir war und ich keinerlei Hilfe brauchte. Das liebste und überzeugendste Mantra lautete: „Es war nur ein weiterer böser Traum - Ich sollte mehr schlafen".
Es hatte eine Weile gedauert, bis ich mich selbst überzeugt hatte. Doch nun stand ich hier und symbolisierte das positive Ergebnis stundenlanger Selbstpredigten.
Der Hunger auf mein Ben & Jerrys Eis war mir jedoch vergangen.
Ich rieb mir die Schultern. Ohne Jacke war es aktuell abends einfach zu kalt draußen.
Skeptisch beäugte ich unser zu Hause.
Die braune Außenfassade hatte sicherlich schon bessere Tage erlebt. Das Dach hing im schrägen Fall auf der Senkrechten des alten Backsteingebäudes und unmittelbar über der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift „Moe's & Beer's", welches garantiert vor etwa ein Dutzend Jahren einmal geleuchtet hatte.
Außenstehende hätten das Gasthaus wahrscheinlich als „ziemlich schäbig" bezeichnet. Und abstreiten konnte ich es nicht.
Doch nach alldem, was Riley und ich hier erlebt hatten und die Erinnerungen, welche an diesem Ort hingen, war es für mich das perfekte „zu Hause" geworden.
Es war einfach zu 100% perfekt.
Damals hatten wir die Anzeige online entdeckt, welche im Internet natürlich groß angepriesen und mit Bildern von vor mindestens zwanzig Jahren geworben wurde. „Ein richtiger Schnapper," hatte Riley sogar behauptet und ohne großartig Nachzudenken, hatten wir es für alle Semester gebucht. Als wir dann das erste Mal vor unserem „Schnäppchen" gestanden hatten und einzugsbereit waren, hatten sich Riley's Worte schleunigst in: „Da schlaf ich dann doch lieber in einem Karton," verwandelt.
Es war einfach zu lustig gewesen.
Ich war mir sicher, heute lag ihm mindestens genauso viel an dem modrigen Häuschen, wie mir. Abgesehen davon war es die einzige Möglichkeit für ihn und mich gewesen, im Umkreis der Universität so etwas wie „eine eigene Wohnung" zu beziehen, ohne auch nur in einer Art Studentenwohnheim zu landen.
Ja, mit diesen lästigen Psychologie-Studenten wurde ich wohl nicht mehr „Gut-Freund"...
„Studentenwohnheim" - Eine WG, wo es wahrscheinlich von merkwürdigen Besserwisser-Möchtegern-Psychologen nur so wimmelte, – wenn man Pech hatte.
Außerdem zahlten wir derzeit nicht viel Miete und bis auf ein paar Mankos, wie z.B. der alte Abfluss in der Küche, der manchmal nicht richtig funktionierte und so mancher lauter Krawall-Nächte durch betrunkene Gasthausuntermieter, konnten wir uns nicht beklagen. Ja hier war sie.
Unsere einzige Option und die Erfüllung höchster Prioritäten: Unser kleines und schäbiges Gasthaus.
Nachdem ich die zwei knirschenden Stufen vor mir genommen hatte, blieb ich vor der Holztür des Gasthauses stehen. Die Maserung, welche die Tür zierte und sicher einmal ein schönes Muster darstellte, war nun geplagt von mehreren Holzsprüngen.
Diese betrunkenen Grobmotoriker!
Oft flogen hier die Türen bei Nacht, denn selten ging hier jemand „nüchtern" ein- und aus. Abgesehen von Riley und mir beherbergte das Moe's & Beer's weitere, aber nicht dauerhaft verweilende Gäste. Diese waren leider eher von der Sorte „unberechenbar" und „zwielichtig".
Riley hatte mir erzählt, wie er oft mitansah, wie sie Drogen vertickten oder sich sogar vor dem Hauseingang fetzten.
Immer wieder warnte er mich bloß nicht zu spät nach Hause zu kommen.
Doch bisher war ich glücklicher Weise selbst noch nicht Zeuge davon geworden.
Außerdem strahlte unser Vermieter eine gewisse Ruhe und Gelassenheit aus. Toby hatte immer alles unter Kontrolle. Er wirkte immer gelassen und ich hatte das Gefühl hier sicher zu sein.
Ich drückte die Klinke herunter und erhoffte auch diesmal, mir keinen Splitter einzufangen.
Ja, dieses Gasthaus hatte sicherlich schon weitaus bessere Jahrzehnte erlebt.
Die grob gelbe Innenbeleuchtung empfing mich und ein abgestandener Geruch von Bier.
Ich trat in den Empfangsbereich, welcher von alten Messinglampen erhellt wurde. Der Flair einer altbackenen Gaststube. Gewohnt grüßte ich den Inhaber von Moe's & Beer's, welcher erstaunlicherweise schon früh hinter der Bar Platz gefunden hatte. Es war kein großer Raum, aber dennoch wurde eng möbliert. Eine fast drei meterlange Theke und eine Handvoll Stehtische mit Stühlen bildeten die Inneneinrichtung und erlaubten nicht mehr viel Stehfläche.
»Hey, Toby. Haste schon Schicht?«
Da war er, der vertrauenswürdige Vermieter mit den Zügeln in der Hand. Der stämmige Mann rieb gerade gemächlich eines der Biergläser aus und stellte es zu den anderen. Bereit für den Ausschank. Wieder trug er ein bedrucktes T-Shirt und heute eines mit der Aufschrift „Let the evening BeGin".
Ein Schmunzeln ließ sich nicht unterdrücken.
»Hi, Nora. Ja, momentan ist am Abend immer was los,« entgegnete er knapp.
»Das glaube ich dir!«
»Du weißt...wenn irgendetwas sein sollte... Du hast ja meine Nummer,« und er widmete sich dem nächsten Glas.
Ich nickte dem rotbärtigen Mann Mitte dreißig zu und ging anschließend die Wendeltreppe, im hinteren Teil des Erdgeschosses, nach oben.
Toby war nicht sehr gesprächig, aber das machte mir nichts aus. Eben ein ruhiger Typ mit trockenem Humor, welcher sich durch lustige T-Shirt-Aufschriften äußerte.
Zum Glück gerieten wir nie aneinander und bekamen selten Probleme. Er ließ uns einfach unbewacht „wohnen" und im Umkehrschluss ließ ich ihm einfach seine Ruhe.
Seufzend betrat ich den Flur. Ab hier hatten Rys und ich, das ganze erste Stockwerk für uns.
Es führte noch eine weitere Treppe nach oben, aber diese mündete in Zimmer, welche für die Gäste der „kürzeren Besuche" ausgerichtet waren. Aufgrund des momentan geringen Geräuschpegels, schätzte ich, dass die Räume über unseren Köpfen zurzeit keine Untermieter beherbergte. Die linke Tür führte zu meinem Zimmer, rechts die zu Rys'.
Wir teilten uns eine Küche und ein Bad, dessen beide Türen sich auf der Wand uns gegenüber befanden.
An Tagen wie diesen bereute ich es jedoch ein wenig, nicht in einer WG untergekommen zu sein. Obwohl wir eigentlich nah beieinander wohnten, war Rys oft nicht da.
Er hatte mir von mehreren Nebenjobs erzählt, von denen er gezwungen war, sie anzunehmen. Denn er brauchte das Geld um seine Studiengebühren zu bezahlen.
Das Greenville College galt nämlich nicht nur als eines der anerkanntesten Universitäten Englands, sondern auch leider eines der Teuersten.
Aber es änderte nichts an den Tatsachen.
Oft war ich einsam.
Gewohnte Wände empfingen mich, als ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete und in einen Raum voller beruhigender Stille einkehrte.
Behutsam legte ich mich auf das Laken unter den Laternen von London nieder. Es war das Bild der Stadt, welche die Wand über meinem Bett bedeckte. Irgendwie hatte ich durch dieses XXL-Poster das Gefühl, meinem Traum immer nahe sein zu können.
Das Licht meines Laptops leuchtete noch immer und bedeutete Standby. Das Gerät hatte ich auf mein Kopfkissen gelegt. Vorsichtig klappte ich es auf. Der Bildschirm mit dem bekannten Fenster strahlte mich sofort an, sowie das E-Mail-Portal. Lange hatte ich gebraucht diese Nachricht zu verfassen. Sie war an Professor Dr. Lincoln adressiert. Doch noch hatte ich den „Senden-Button" nicht gedrückt.
Mit der Maus berührte ich das Befehlsfeld. Allerdings minimierte ich das offene Fenster wieder und schob es in den Hintergrund.
Stattdessen öffnete ich Netflix und schaltete die nächste Episode von „Pretty Little Liars" ein.
»Noch nicht,« doch gleichzeitig wusste ich, es würde nicht mehr lange dauern, bis ich wirklich auf „Senden" klicken würde.
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